Für Ellen Bareis
Ellen Bareis ist am Abend des 8. März dieses Jahres in Frankfurt am Main gestorben. Seit mehreren Jahren hat sie gegen eine Krebs-Erkrankung angekämpft. Ellen wollte leben. Wir alle können es noch immer nicht fassen, dass wir der Freundin, der Aktivistin und Forscherin, der Kollegin, Autorin und der Wissenschaftlerin mit „Kopf, Herz, Hand und Fuß“ nicht mehr begegnen werden. Ellen wird fehlen. Ihr Lebens-Projekt kann sie nun nicht mehr selbst weiter voranbringen, Alltag, Demokratie und Soziale Arbeit in einem widersprüchlichen Zusammenhang zu denken und zu erfahren. Für Ellen bedeutete das, Herrschaftsverhältnisse so zu analysieren, dass die Widersprüche des realisierten Sozialen uns auf Möglichkeiten von Befreiung verweisen. Wenn Befreiung sich schon nicht auf Dauer stellen lässt, so gelte es doch, immer wieder neu Möglichkeiten der Überschreitung zu denken, zu erkämpfen und darum zu wissen.
Ellen war es besonders wichtig, dass Gesellschaft, das jeweils etablierte Soziale, sowohl herrschaftlich „von oben“ als auch „von unten“, im Alltag, hervorgebracht wird. Ihr Verständnis der „Produktion des Sozialen“, dargelegt in ihrem Beitrag zum Widersprüche-Heft „Kritische Soziale Arbeit: Verteidigen - Kritisieren – Überwinden: zugleich!“, können wir daher als Hinweis lesen, wie und an welchen Orten erkämpfte, gleichwohl herrschende gesellschaftliche Kompromisse, das „realisierte Soziale“ also, überschritten werden könnten. Wie das Gesellschaftliche lässt sich das Soziale nicht definieren, aber historische und gegenwärtige Kämpfe darum beschreiben: Für wen gilt der herrschende „Gesellschaftsvertrag“ überhaupt? Welchen Aufständen, Kämpfen der Arbeiter(innen)Bewegung, der Frauenbewegung, der antirassistischen und antikolonialen Bewegungen gelingt die Überschreitung des geltenden Gesellschaftskompromisses? Wie können jene, die sich nicht als mehr oder weniger kritische soziale Bewegungen zusammenschließen (können), Bedürfnisse und Interessen an der (Neu)Verhandlung eines etablierten Sozialen artikulieren? Wie und an welchem Ort können die im realisierten Sozialen „Ungezählten“ dessen Zumutung zurückweisen?
„Alltag, alltägliche Bedürfnisse und alltägliche Arbeit bringen Gesellschaft mit hervor. Umgekehrt bedeutet dies: Wenn jene, die die Arbeit machen, auch darüber mitbestimmen, wie mit den produzierten Ressourcen umgegangen wird, reden wir vom Sozialen.“ (Ellen Bareis)
Ellen hat diese Dynamik eine „Definition von ‚Produktion des Sozialen‘“ genannt, die wir „mit allen Widersprüchen“ in unser Nachdenken und Darlegungen dessen, was gesellschaftlich vor sich geht, übernehmen könnten.
Ich erinnere zwei bis drei Selbstbenennungen, die Ellen für sich beansprucht hat: Gegen die offizielle Bezeichnung, sie hätte Soziologie studiert und sei als „Soziologin“ zu bezeichnen, setzte sie als Selbstbezeichnung: „Ich bin Gesellschaftswissenschaftlerin“; gelegentlich spezifiziert mit dem Hinweis: „Ich bin Stadtforscherin“. Spätere Vereinnahmungen und (seltene) Kritiken ihrer Politik als Professorin, Dekanin, Vizepräsidentin der Hochschule beantworte sie, durchaus empört, mit dem Satz: „Ich bin Aktivistin!“. Sie hat die Kunst beherrscht, beide Lebensweisen zu verbinden.
Ellen Bareis hat in den 1990er Jahren in Frankfurt Gesellschaftswissenschaften studiert. Um ihre aktivistische Arbeit mit der Arbeit als Gesellschaftswissenschaftlerin und Stadtforscherin in Bereich der Institutionen Hochschulen/Universität zu verbinden, stellte Ellen Anforderungen an Wissenschaft und Forschung. Sie hat am „Institut für Sozialforschung“ in Frankfurt gearbeitet, am Institut für Stadt- und Regionalentwicklung der Frankfurter Fachhochschule. Die „Stadt in der Revolte“ hat sie im Kontext von medico international reflektiert. Hier haben auch ihre Studien zur Situation in den französischen Banlieues einen Ort gefunden. Relevant für ihre Wahl der Arbeitsorte war, dass die Theorie- und Forschungsperspektive des from below, das Interesse am Alltag der Leute ermöglicht wurde und das Vorhaben, Alltagsforschung als Kritik von Herrschaftsverhältnissen zu betreiben, praktizierbar blieb. Ihre Dissertation zu räumlicher Praxis und Konsum am Beispiel von Shoppingmalls und Quartier spiegelt dieses Interesse einer Teilnahme am Alltag der Leute und einer Perspektive von unten. 2007 erschien ihre damalige Studie im Verlag Westfälischen Dampfboot unter dem Titel Verkaufsschlager. Urbane Shoppingmalls – Orte des Alltags zwischen Nutzung und Kontrolle. Der Begriff der „Nutzung“ steht für ihren kommenden Fokus auf Arbeitsweisen an Ausschließung und Wohlfahrtsproduktion „von unten“.
Es gehört zu den Widersprüchen staatlicher Forschungsförderprogramme, dass mit der Durchsetzung der neoliberalen Phase des Kapitalismus (und dem Modell der „Arbeitskraft-Unternehmer“) unter neuen Begriffen (wie „social exclusion“, um von Armut und Rassismus nicht reden zu müssen) Programme aufgelegt werden, die Forscher:innen ausnahmsweise auch unter Begriffen wie soziale Ausschließung eine Chance eröffnen, ein „großes“ Projekt finanziert zu bekommen. Der internationale Projektverbund CASE (initiiert von Heinz Steinert und dem Wiener Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie), für den ich Ende der 1990er Jahre (als neu berufene Professorin am Fachbereich Erziehungswissenschaft) das Frankfurter Projekt übernommen hatte, erwies sich als ein „Glücksfall“. Beiderseits. Ellen Bareis hatte einen entscheidenden Anteil daran, während und besonders in der Weiterarbeit nach der Projektphase immer wieder an die mit historischen Studien zur Entstehung der englischen Arbeiterklasse von E.P. Thompson (1980) verbundene Denktradition und dessen Verständnis einer Forschungsperspektive from below zu erinnern. Handlungen werden als Praxis und Alltagspraktiken als Arbeit an Verdinglichung (sei es zum Zweck von Ausschließung oder Integration) intellektuell verstehbar. Verstehen wir die Praxis als Konflikt um eigensinnige Teilnahme an der herrschenden Produktions- und Lebensweise, können wir unsere intellektuelle Herablassung kontrollieren und doch das Bornierte und Widersprüchliche von Alltagspraktiken im Kontext von Ausschluss- und Kontrollsituationen zur Sprache bringen.
Arbeit an Ausschließung und „welfare policy from below“ zu untersuchen war der Beginn eines im besten Sinn kooperativen Weiterdenkens wie Alltagsforschung und Gesellschaftskritik zu verbinden sind. Zu dem Glücksfall im Arbeitsleben gehörte wohl, dass Ellen Bareis zunächst als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Erziehungswissenschaften, Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung, und nach ihrer Berufung auf die Professur mit dem Schwerpunkt „Gesellschaftliche Ausschließung und Partizipation“ an die Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft, in Ludwigshafen, mit dafür gesorgt hat, Institutionenforschung und Alltagsforschung aus der Perspektive from below im Bereich der Sozialen Arbeit zu verknüpfen und weiter zu entwickeln. Die Perspektive ist inzwischen unter den Namen „(Nicht)Nutzungsforschung“ und „Alltagsforschung als Kritik“ anerkannt.
Ellens Interesse, Alltag, Demokratie und Soziale Arbeit in ihrem widersprüchlichen Zusammenhang zu analysieren, war für die Redaktion der Widersprüche Anlass sie für eine Mitarbeit in der Redaktion zu gewinnen. Es ist sicher kein Zufall, dass Ellen sich entschieden hat, den Einstieg in eine neue Phase der Widersprüche aktiv mitzugestalten: Im ersten Heft der Widersprüche im Jahr 2011, das im Verlag Westfälisches Dampfboot erschienen ist, schreibt sie über die Transformation von Sozialstaatlichkeit. An dieses Heft 119/120 mit dem Titel „Hinten anstellen! Zur Regulation von Armut in der aktivierten Bürgergesellschaft“ schließt sich der von ihr 2015 mitherausgegebene Band „Politik mit der Armut. Europäische Sozialpolitik und Wohlfahrtsproduktion ‚von unten‘“ an. Widersprüche Themen zu „Alltag – Alltäglichkeit – Alltagstheorien“ (162), zu „Bewegungen und Aktivismen in, neben und gegen Soziale Arbeit“ (165), zu „Kritische Soziale Arbeit: Verteidigen – Kritisieren – Überwinden: zugleich!“ (168) und zu Rassismus und „Ansprüche und Herausforderungen des Antirassismus“ (169) wären ohne die Ansprüche von Ellen an kritische Gesellschaftstheorie und Reflexivität nicht zu machen gewesen. Auch nicht ohne ihre „Herausforderung“ der Generation der „Gründer und Gründerinnen“. So erinnert sich Barbara Rose: „Ellen hat mit ihrem Wissen, ihren Positionen und Fragen die Blickrichtung von uns „Alten“ bzw. ersten Generation der Widersprüche nicht selten herausgefordert, denn unser Un-Dogmatismus hatte/hat ja bisweilen durchaus dogmatische Züge.“ Die gemeinsame Geschichte mit den Widersprüchen zeigt, dass die Beziehung wohl durch die Widersprüche hindurch gehalten hat.
Ellen Bareis hat in ihrer Arbeit als Wissenschaftlerin eine ausgesprochen nicht-patriarchale Art und Weise praktiziert, mit jüngeren Generationen umzugehen. Sie hat das Kunststück beherrscht, „scharf“ zu analysieren und doch „fördernd und ermutigend im direkten Kontakt“ mit den Kritisierten zu bleiben, so beschreiben es viele jüngere Wissenschaftler:innen, mit denen sie kooperiert hat. Das Ermutigende und Fördernde war sicher auch der Grund, dass so Viele ihre Projekte und Visionen (in der letzten Zeit besonders zu Rassismen) mit ihr diskutieren, voranbringen und gemeinsam aus der Perspektive from below beforschen wollten. Ihre Art und Weise zu lehren und zu forschen, machte Ellen Bareis für Studierende, Absolvent*innen und Promovierende zu einem „wichtigen und prägenden Menschen“. Wenn man weiß, wie sehr der patriarchale oder matriarchale „Prägestock“ verhasst sein kann, lässt sich vorstellen, dass eine anti-autoritäre Vorstellung von „Einfluss nehmen“, eine geglückte Arbeitsbegegnung erfahren wurde. Das gilt besonders für (gar nicht so wenige) Promovend:innen, die eine aktivistische Lebensweise mit der wissenschaftlichen verbinden wollen. Ellens erster Promovend, Florian Hohenstatt, fasst es in Worte: „Ich bin mir sicher, dass mein Leben total anders verlaufen wäre, wenn ich sie nicht getroffen hätte. (…) Ihre Schilderung wie sie ihr aktivistisches Leben mit ihrem wissenschaftlichen Werden verbunden hat (…) und ihr immer analytischer Blick hat mich schwer beeindruckt und bewegt. (…) ich war beeindruckt von ihrem messerscharfen Denken, das sich nie erlaubt hat die bequeme Abkürzung zu gehen.“
Gegen-Wissen zum herrschenden kann intellektuelle Degradierungen, Generationen- und Schulen-Konflikte nicht gebrauchen. Es ist maßgeblich Ellen zu verdanken, dass im Forschungs- und Promotionskolloquium „Alltag. Demokratie. Soziale Arbeit. Widersprüche der Produktion des Sozialen from below“ sich die Praxis einer Assoziation, geglückte Arbeitsbegegnungen und Freundlichkeit, erhalten haben.
Ellen wird fehlen. Das Denken, die Denkweisen, die Ellen uns gegeben hat, werden wir pflegen.
Helga Cremer-Schäfer und Redaktion der Widersprüche