Ein Gespenst geht um in der Linken - das Gespenst der Familie

Zu berichten ist hier von dem mühsamen Prozeß, in einer aufgeklärten Redaktion einer politischen Zeitschrift mit linkem Anspruch über die Familie anundfürsich zu einer Selbstverständigung zu gelangen, die über das Medium des gedruckten Wortes einer öffentlichen Kritik so einigermaßen standhalten kann.

Die Teilnehmer an dieser Odyssee durch die Familienbilder einer Gruppe von Genossinnen und Genossen, die die Studentenbewegung weder zwischen die Schleifsteine der Institutionen und Apparate noch hinter die verlockenden Vorhänge des privaten Lebens mit Rentenerwartung geschleudert hat, können dem Impressum dieser Zeitschrift entnommen werden. Sie zu kennen ist im Übrigen auch nicht von Belang zum Verständnis des folgenden Protokolls über das mühsame Entstehen einer Ausgabe der WIDERSPRÜCHE zur Familie in uns, um uns herum, in den Gesetzen, den Parteiprogrammen, in der Wut und in der Zuneigung von Menschen einer Klassengesellschaft.

Beginnen wir mit dem ersten Teil dieses kollektiven Denk- und individuellen Fühlprozesses (und viceversa) zum Thema Familie. Wie üblich in linken Kreisen wird zunächst grundsätzlich alles in fragegestellt (dieses Mal jedoch ausnahmsweise nicht die Verhältnisse im allgemeinen, sondern nur der Hefttitel).

1. Beitrag: Organisierung des Privaten sei doch als Heftthema beschlossen worden (Die Runde schweigt, war das eine Provokation?)

2. Beitrag: Wir müssen unterscheiden
a) die Familie in unseren Köpfen
b) fern aller Emotionen: eine Lebensform von Mann/Frau und (zumeist) Kind für eine bestimmte Zeit, die auch rechtlich fixiert ist.

3. Beitrag: (eine klassische Frage aller Widersprüche-Diskussionen) Wer soll überhaupt angesprochen werden? Die Szene? Die Normalfamilie? Ein Single? Ein Plurle (Gegenteil von Single)?

4. Beitrag: alle Lebensformen außerhalb der Familie werden negativ sanktioniert (z.B. in Sozial-, Rechts-, Wohnungspolitik)

5. Beitrag: Gibt es im Nahbereich überhaupt andere längerfristige Lebensformen außer der Familie? Ausbruchsversuche existieren doch allenfalls in der Neuen Mittelschicht.

6. Beitrag: Familie ist nicht nur soziologisch oder ökonomisch zu bestimmen. Bestimmte Lebensformen (Beziehungsformen) sind psychisch vorgeprägt. Hier müssen die Erkenntnisse der Psychoanalyse einbezogen werden.

(Jetzt beginnt zum erstenmal so etwas ähnliches, wie eine Diskussion) Dieser psychoana-lytische Zugang wird akzeptiert, nur ist er immer eingebunden in gesellschaftliche Interpretationen.

Eine Hypothese wird gewagt: Die Familie hat überhaupt nicht mehr den prägenden Charakter, den wir ihr andichten.

Es wird persönlicher: Familie, in diesem Terrorzusammenhang möchte ich niemals wieder sein. Versteh' überhaupt nicht, warum gerade Linke heute wieder Familie pflegen.

1. Einwand: Wird der Terror in der Familie oder in der sie umgebenden Umwelt produziert?

2. Einwand: Familie, familiale Beziehungsarbeit ist nicht restlos vom Kapital subsumierbar.

Sprung zur Realpolitik und weil hier nicht unsere Stärke liegt, können wir nur Fragen stellen.

Von welchem Familienbild ist die Familienpolitik geprägt? Warum hat die Politik es nötig, ständig ein solches realitätsfremdes Familienglück zu propagieren.

Zurück zu Tiefschürfenderem, diesmal zur Psychoanalyse: Wir (gemeint sind auch die Anwesenden!) leben immer, bis an das Ende der Tage als Sohn oder Tochter. Die Familie in uns können wir nicht überwinden. (Endlich mal eine klare Position, die aber sofort als zu allgemein kritisiert wird)

Dann wieder die Kardinalfrage: Wir müssen erst mal definieren, was wir unter Familie verstehen. Weiter im Takt: Die Entlarvung der Familie ist ein alter Hut das ist doch alles bekannt. Augenscheinlich gibt es auch so etwas wie ein Bedürfnis nach Überschaubarkeit in kleinen Einheiten, ein Bedürfnis, sich auch zurückziehen zu können, ein Bedürfnis nach festen Bezugspersonen. Warum aber, so wird gleich gekontert, muß das nur die Familie leisten? Hat ja keiner gesagt Doch, das habe ich aber herausgehört. (Typischer Wortwechsel) Bei mir war das alles anders. Eine positive Familienerfahrung kann ich mir gar nicht vorstellen. Punkt.

Beitrag auf der Metaebene: Gegenstand sperrt sich so, weil wir alle davon so betroffen sind. Der schon klassische Einwurf: Wir müssen uns auf eine Definition von Familie einigen. Kann die Renaissance der Familie auch bei Linken (warum auch?) nicht als Ergebnis von Enttäuschungen mit anderen Lebensformen interpretiert werden? Auch eine Wohngemeinschaft kann einen Gewaltzusammenhang darstellen (Vor 10 Jahren wäre diese Aussage niemanden aus dem linken Lager über die Lippen gerutscht. Heute protestiert niemand). Die Diskussion ist irgendwie blockiert. Nichts geht mehr. Erleichterung, als nach dem aktuellen Stand der Forschung über Familie gefragt wird. Sehr viel wird dazu nicht gesagt. Es fehle an Wissen. Wer kann dazu schreiben? (Eine noch zu konkretistische Frage)

Ein mit allen Elbwassern gewaschener Profi in der Jugendarbeit plaudert aus dem Seesack: Die Jugendlichen wollen alle früh heiraten, und wenn die Ehe/Familie dann wieder zusammengekracht ist, kommen sie wieder zurück zur Jugendgruppe. Das Eis ist gebrochen, es wird über den Umgang mit Familie im eigenen Beruf (Arbeitsfeld) gesprochen, vom Familienbild der Sozialarbeit und in der Medizin.

Mit einer schlagend einfachen Frage wird die Vormittagsrunde aufgelöst: Wer kann sich heutezutage eine Familie überhaupt noch leisten? Teure Familie wird beim Spülen in der Küche als möglicher Titel kreiert bzw. lanciert.

Mangels anderer Einstiege wird im 2. Teil der Diskussion ein Papier zugrunde gelegt. Seine entscheidende Frage lautet Warum ist die Familie so lebendig? Stände nicht eigentlich die Vergesellschaftung der Familie und damit ihr Aussterben auf der Tagesordnung. Stattdessen blüht und gedeiht sie. Stimmt das wirklich? Blüht nicht vielmehr ein bestimmtes Bild von der Familie, während die Familie von innen her zerfressen wird.

Immer wieder bricht an solchen Stellen, an solchen pointierten Meinungen zum Zerfall der Familie eine emotionale Verteidigung von Familie aus. Welche Alternativen dazu haben denn Bestand? Längst ist es draußen dunkel geworden. Stunden der Diskussion, der Unterstellungen, der Mißverständnisse und der Verständnisse sind vergangen. Für heute ist der Saft aus dem Gesprächsfleisch Familie rausgesaugt. Entscheidungen und Klärungen werden bis zur nächsten Sitzung vertagt. In den Monaten dazwischen arbeitet das Thema weiter in jedem Redaktionsmitglied. Familienfeiern werden zähne- und gefühlsknirschend überstanden, neue Familien als Trauzeuge zusammengebastelt, die Familienpolitik nach der Wende karikiert und attackiert, Scheidungsziffern registriert, Familienpackungen im Großmarkt gekauft und nach dem Familienstand in empirischen Untersuchungen gefragt.

Vieles an der Familie erweist sich von Tag zu Tag mehr als Schimäre, Hirngespinst, anderes eher als Chimäre, als feuerspeierndes Ungeheuer. Es beginnt das Studium der Familie in den Büchern, in den Zeitungen, in den Lebensgeschichten, in der eigenen Nähe.

Nach Monaten - ein verfeuchteter Sommer lag dazwischen - beginnt das Gespräch in der Redaktion von Neuem. Erste Papiere liegen vor, die Emotionen scheinen an den Stranden des Urlaubs zurückgeblieben zu sein. Alles scheint distanzierter, kühler gesehen zu werden. Familie, dafür treten Heiner Geissler, Kardinal Höffner, Veronika Carstens ein und gegen die herrscht allemal Einigkeit. Das Gespräch dümpelt vor sich hin.

So nebenbei legt ein Redaktionsmitglied - wir erinnern uns, der Genösse mit dem Seesack - ein neues Papier auf den Tisch, dessen Titel Familienpackungen auch wenig Abwechslung verspricht. Lesepause wird beantragt. Nach wenigen Minuten schon zündet der Sprengsatz, das Gespräch steht in Flammen. So einseitig dürfte man weder die Familie noch die Linke sehen. Alles sei doch wesentlich differenzierter und widersprüchlicher. Der Artikel sei eine Polemik - was von dem Autor auch nicht bestritten wird. Man solle doch einmal die Graurigkeit von Wohngemeinschaften erleben, wo sich Politik allenfalls in den Buchregalen wiederfinden ließe und Einmischungsenergien in Nörgeleien über vergammelnde Brotreste verschleudert würden. Und wird weiter behauptet, in der Familie werden doch nur verstaubte Zwischenmenschlichkeiten mit den Nostalgietüchern aus der eigenen Kindheit blankgeputzt. Es wird verteidigt, es wird angegriffen. Keine Frage, die Familie als Gesprächsknochen in eine Runde linker Genossinnen und Genossen geworfen und jede säuselnde Fete ist gerettet.

Wie die Glocken von der dem Redaktionsraum benachbarten Kirche in unsere Gesprächsarbeit penetrant unüberhörbar hineinschlagen, so scheint auch in unseren Köpfen das Familiengespenst wider alle Aufklärung unaufhörlich herumzupoltern. Das vorliegende Heft kann diesen Lärm vielleicht erklären, aber das Gespenst wird trotzdem weiterleben.

(Aus Platzgründen mußten wir leider auf das Redaktionsgruppenfoto an dieser Stelle verzichten. Die unvollständige Widersprüche-Familie findet sich auf Seite 128)

Ernst Haft, Jg. 1902, wiss. Mitarbeiter, Institut für Mafiologie und Korruptionswissenschaft, Bonn - Palermo; Adresse: c/o WIDERSPRÜCHE, Ludwigstr. 33, 6050 Offenbach 4