Die soziale Frage am Ende des 20

Von der Sozialpolitik zu einer Politik des Sozialen

Am Ausgang dieses Jahrhunderts wird die soziale Frage so klar beantwortet wie zu keinem anderen Zeitpunkt während der letzten hundert Jahre. Reduziert auf Sozial(versicherungs)politik wird das, was politisch an der sozialen Frage zu regulieren ist, zur abhängigen Variable in einer 'Standortpolitik', die den höheren Zwängen des Weltmarktes gehorcht. Mit dem Stichwort 'Globalisierung' gelingt es den hegemonialen Gruppen (dem Block an der Macht) neoliberale Denkzwänge und -verbote in einer Weise zu verallgemeinern, daß sie zumindest dem leitenden Personal (den Comies der herrschenden Klasse - Gramsci) zur habituellen Notwendigkeit geworden sind. Die als Sparzwänge deklarierten Umverteilungen zu Gunsten einer größeren Wettbewerbsfähigkeit des Kapitals haben es geschafft, daß selbst traditionelle sozialdemokratische Varianten der sozialstaatlichen Reform verschwunden sind. Mann/frau denke nur an die Einbeziehung aller Erwerbstätigen (inklusive der Selbstständigen und Beamten) in das Rentensystem oder den Wegfall der Kappung der Versicherungspflichtgrenzen. Eher das Gegenteil - die weitere Privilegierung der Privilegierten - wird praktiziert, wie uns an den Debatten um Steuer-, Renten- und Gesundheits'reform' zur Zeit vorgeführt wird.

Gab es im Laufe dieses Jahrhunderts immer wieder Versuche, der sozialen Frage (lange verstanden als Systemfrage zwischen Kommunismus und Kapitalismus) auf einem Dritten Weg zu begegnen - sei es auf dem eines demokratisierten Kommunismus oder auf dem eines sozial(demokratisch) gebändigten Kapitalismus -, so ist selbst diese Metapher ihren früheren AutorInnen hegemonial enteignet worden: der 'Dritte Weg', den uns Blair und Schröder weisen wollen, ist der zwischen sozialdemokratischer 'Hängematte' und Thatcherismus bzw. Reaganomics - es ist die Vision einer Gesellschaft, in der alle Individuen Unternehmer sind, in der alle für sich selbst verantwortlich die eigene Biographie managen und kreativ und pluralistisch das gestalten, was dann noch Gesellschaft ist. Kurz: Die politischen und ökonomischen Regulationsformen sind dabei, sich zu ändern, weil der politische Staat (und seine existierenden und aufstrebenden herrschenden Kräfte) sich Schritt für Schritt von den großen Programmen sozialtechnischer Regulierung zurückgezogen hat und die Lenkung sozialer Prozesse so wie wichtige Aufgaben allgemeiner sozialer Kontrolle den Marktmechanismen überlassen wurden (Bauman 1995: 112).

Zwar ist das Unbehagen an dieser Entwicklung weit verbreitet. Es bündelt sich aber (bislang) nicht in Optionen, die der hegemonialen Deutungsmacht etwas entgegensetzen könnten. Unter solchen Bedingungen erscheint es politisch nicht ratsam, im Wettstreit um die besseren Steuerungsinstrumente in diesem hegemonialen Spiel mithalten zu wollen. Die Kategorien des Besseren, Nützlichen, Zweckmäßigen, Produktiven, Wertvollen, wie sie in dieser Ordnung gelten, sollten uns vielmehr verdächtig sein (Horkheimer 1968: 156). Eine Kritik, die sich als radikal versteht, also an die Wurzeln gehen möchte, sollte zumindest versuchen, eingreifendes Denken (Holzkamp) zu praktizieren, das an den in gesellschaftlichen Widersprüchen immer vorhandenen Momenten des Oppositionellen, des Widerständigen und Eigensinnigen, des Unabgegoltenen (Bloch) ansetzt.

Einen derartigen Versuch möchte ich im folgenden nachzeichnen. Es ist der Versuch der Redaktion der Zeitschrift WIDERSPRÜCHE, aus einer gesellschaftlich marginalisierten Position heraus Alternatives zu denken, das an oppositionelle und kritische Strömungen anschlussfähig, zugleich aber nicht so abgehoben ist, daß es - perspektivisch - in den Kampfarenen der Hegemonie ohne Bedeutung wäre. Wie zu zeigen sein wird, hat uns dieser Versuch praktisch - was unsere Wirkungsmöglichkeiten angeht - bescheiden gemacht, theoretisch aber - so glauben wir - eher anspruchsvoller. Einer Sozialpolitik, die sich immer mehr auf die Finanzregulationen zugunsten des Standorts Deutschland verengt, wollen wir nicht die besseren Standortkonzepte entgegensetzen, sondern wir setzen auf eine (Re-)Politisierung der sozialen Frage, die wir im Kern als die Auseinandersetzung um die Frage des guten Lebens sehen. In der Praxis der Beantwortung dieser Frage entscheidet sich, ob es gelingt, Gesellschaft zu Assoziationen zu entwickeln, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist (Marx/Engels 1990: 482).

1. Sozialpolitik in der 'Wende' von 1982

Die 'Wende' von 1989/90 hat die 'Wende' von 1982 fast vergessen gemacht, den Beginn neoliberaler Hegemonie, symbolisiert durch die Ablösung der Schmidt/Genscher- und die Inthronisierung der Kohl/Genscher-Regierung. Diese erste Wende war für uns in der Redaktion der WIDERSPRÜCHE der Kristallisationspunkt einer intensiven Diskussion und Auseinandersetzung. Gerade im Jahr vorher aus den Informationsdiensten Schule, Gesundheit und Sozialarbeit des Sozialistischen Büros entstanden (die in den siebziger Jahren jeweils um Auflagen von zwei- bis dreitausend schwankten), versuchten wir unsere unterschiedlichen professionell gebundenen Traditionen in einem Kritikpapier zusammenzufassen. Unter dem Titel Verteidigen, kritisieren und überwinden zugleich! Alternative Sozialpolitik gegen Resignation und Wende formulierten wir 1984 eine grundsätzliche Kritik und entwarfen Optionen zum Ausgang aus der Krise. Die wichtigsten Aussagen werden im folgenden dokumentiert, da sie - wie noch zu zeigen sein wird - weiterhin Grundlage unseres Selbstverständnisses sind.

Daß der Sozialstaat in der Krise ist, pfeifen die Spatzen von den Sozialamtsdächern. Aber, was nun in der Krise ist, worin die Krise besteht, und warum sie ist - da sind die Töne schon recht verschieden und dissonant. Den einen besteht die Krise schlicht in einem Zu-wenig, im zu wenig an Geld, um die sozialstaatlichen Wohlverhalten weiter zu bezahlen ('Finanzkrise'). Für andere funktionieren die sozialpolitischen Instrumentarien nicht mehr. Wieder andere beschwören die Krise als 'Kontraproduktivität' übermächtiger Apparate, deren Hilfeleistung längst in Enteignung und verdoppeltes Leid umgeschlagen ist (Illich u.a.).Und die 'Wende'-Denker schließlich singen das Hohe Lied des Kampfes mit dem Drachen, sprich: des Bürgers gegen den Staat, der Freiheit des einzelnen gegen Versorgungsbürokratien und andere Priester.

Uns geht es in den folgenden Thesen darum, die Krise der Sozialpolitik als Krise eines Reproduktionsmodells zu begreifen, als Krise eines Modells von Arbeit, Leben und Bedürfnissen quer durch die Gesellschaft hindurch. Damit kann die Sozialstaatskritik von links einen wichtigen Schritt vollziehen: Den Schritt von der 'Kritik der Sozialstaatsillusion' hin zu der Kritik der sozialstaatlichen Vergesellschaftungsform und Rationalität, des spezifischen Ineinander von Hilfe und Herrschaft in der Sozialpolitik. Denn alle Illusions- und Ideologiekritik greift zu kurz, wenn sie die real erfahrbaren Sicherheiten durch den Sozialstaat übergeht. Aber daß diese Sicherheiten an bestimmte Herrschafts- und verdinglichte Bedürfnisstrukturen gebunden sind, übersehen diejenigen, deren Blick nicht über Finanzen, Sparoperationen und Bürokratien hinausreicht. Sie sind in der Gefahr, eine herrschaftliche Form der Sicherheit und des 'Fortschritts' zu verteidigen, während sich die 'Wende' schon längst auf den Trümmern dieses Modells aufschwingt. (...)

Das 'Modell Deutschland' ist beschrieben worden als Typus einer industriellen Struktur mit extremer Exportorientierung (Autos, Chemie, Maschinenbau), als Typus staatlicher Modernisierungspolitik mit Subventions- und Forschungsvorhaben für die dominanten Sektoren, als Typus politischer Herrschaft mittels Klassenkompromiß, Umverteilungspolitik und Sozialpartnerschaft plus 'sicherheitsstaatlicher' Ausgrenzung, und schließlich als 'Vergesellschaftungstypus', dessen 'Rationalität' sich durch Infrastruktur, Bildungswesen, Kultur und Lebensperspektiven, bis durch die Sozialcharaktere hindurchzieht - und eben auch durch die Sozialpolitik. Wenn vom 'Modell Deutschland' die Rede ist, so ist damit auch immer ein spezifisches Reproduktionsmodell gemeint. Gerade die Diskussionen um das Modell Deutschland haben gezeigt, daß es in zunehmendem Maße unmöglich wird, den Produktions- und den Reproduktionsbereich 'sauber' zu trennen. (... ) Reproduktion ist (...) alles, was die Fähigkeit des Lohnarbeiters, seine Arbeitskraft zu verkaufen, erhält, steigert und absichert, was also aktiv dazu beiträgt, seine Lohnarbeiterexistenz abzusichern. Das mag banal erscheinen. Historisch gesehen jedoch haben wir es mit einem gewaltigen Kraftakt der kapitalistischen Gesellschaft zu tun, alle staatlichen, verbandlichen, auszubildenden aber auch familiären und Psycho-Strukturen so zu entwickeln, daß dieser Prozeß der aktiven Proletarisierung nicht mehr als Zwangsprozeß erfolgen muß, sondern dem einzelnen als subjektive Freiheit vorkommt. Voraussetzung für diese aktive Proletarisierung war die passive Proletarisierung, d.h. die Auflösung aller nicht-kapitalistischen Lebens- und Arbeitsformen im Zuge der ursprünglichen Akkumulation und der darauf folgenden Prozesse der Durchkapitalisierung immer weiterer gesellschaftlicher Sphären. Daß nicht viel mehr der passiv Proletarisierten betteln, klauen, protestieren und revolutionieren gingen, sondern brav zur Arbeit, dazu bedurfte es der vielen Aktivitäten, Zwänge und Erzeugungen von Charakterstrukturen und Geisteshaltungen, die einen Menschen eben bereit machen, 'freiwillig' Lohnarbeiter zu werden.

Dieser Prozeß der passiven und aktiven Proletarisierung - oder, wer sich an dem Ausdruck stört: der Verlohnarbeiterung - ist historisch aber keineswegs abgeschlossen. Auf der einen Seite sorgen die zerstörerischen Wirkungen der anarchischen kapitalistischen Produktion für ständigen Nachschub passiv proletarisierter Menschen - die in Ausgrenzungen, Arbeitslosigkeit, Knast, Psychiatrie, verslumten Wohngebieten und isolierten Lebensformen ihr gesellschaftliches Dasein fristen. Auf der anderen Seite war und ist eben diese Anarchie ständiger Quell für Widerstand, kollektive Gegenwehr, für phantasievolle Überlebensstrategien und subkulturelle Gegenmilieus - gegen die Zumutungen passiver und aktiver Proletarisierung. Dieser Widerstand vereinigte sich in den Hochzeiten der Arbeiterbewegung zu einer regelrechten Gegenkultur. Heute sind widerständige Tendenzen allerdings schwieriger auszumachen bzw. sind sie buntscheckiger: Während die traditionellen Arbeitermilieus eher defensiv und rückzugsorientiert sind (und deshalb weniger in Erscheinung treten), bieten die bunt-alternativen Initiativen und Subkulturen potentiell einen neuen Ansatz zu einem gegenkulturellen Milieu (WIDERSPRÜCHE-Redaktion 1984: 122f.).

Das Konzept der aktiven und passiven Proletarisierung übernahmen wir aus einem einflußreichen Artikel von Offe und Lenhardt (1977); und auch unsere Definition von Sozialpolitik bezog sich stark auf Offe (1975), der in seiner Fallstudie über die Bildungsreform neben den beiden traditionellen Funktionen von Sozialpolitik Kompensation der Risiken im Einzelfall und Legitimation von Herrschaft eine dritte, neue im 'Modell Deutschland' hervorhob: die subsidiäre Funktion. Unter dieser subsumierte er die Aspekte sozialpolitischer Organisationsmittel (Rechtsansprüche, Geldtransfers usw.), die die Marktgängigkeit aller Waren - insbesondere aber der Ware Arbeitskraft - verbesserten.

Es wäre spannend und lohnend, unter diesen Aspekten die Reproduktionsleistung von Familie und alltäglicher Konsumtion zu untersuchen und neu zu bestimmen. Das kann hier nicht geleistet werden. Es muß aber bei der folgenden Auseinandersetzung mit Sozialpolitik immer mit bedacht werden, daß sozialstaatliche Reproduktion ohne 'Vorleistung' von Familie und individueller Konsumtion nicht funktionieren würde. Unter Sozialpolitik verstehen wir alle staatlich oder rechtlich vermittelten Prozesse, die die dauernde Transformation von passiver in aktive Proletarisierung gewährleisten. Diese die aktive Verwertung der Ware Arbeitskraft erst ermöglichende Funktion der Sozialpolitik soll die unterstützende - neudeutsch: subsidiäre - Funktion genannt werden. Die andere Seite der gleichen Medaille ist die kompensatorische Funktion der meisten sozialpolitischen Maßnahmen. Kompensatorisch sind sie alle in Bezug auf die aktuelle oder dauernde Unfähigkeit, seine Ware Arbeitskraft zu tauschen, d.h. alle Kompensationsleistungen gehen von der 'aktiven Lohnarbeiterfigur' aus (Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung). Einer der wichtigsten Erfolge des keynesianischen Modells in Deutschland ist gerade die Sicherung und Erweiterung der subsidiären Funktion und die Unterstützung der aktiven Proletarisierungsprozesse. Die bis Mitte der siebziger Jahre relativ erfolgreiche Vollbeschäftigungspolitik führte ökonomisch gesehen zwar zu einer Verteuerung der Arbeitskraft und trug somit zum Fall der Profitrate bei; diese Tendenz konnte jedoch lange Zeit durch imperialistische Hegemonie auf dem Weltmarkt wettgemacht werden. Politisch-ideologisch, aber auch materiell wichtiger war und ist die Tatsache, daß durch die Leistungen vor allem der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherungen geschichtlich und in der Erfahrung der betroffenen Menschen zum ersten Mal so etwas wie eine erwartbare Sicherheit gegeben war: Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit führten für den größten Teil der Betroffenen eben nicht mehr zu unmittelbarer Existenzbedrohung, zu Hunger und Elend (WIDERSPRÜCHE-Redaktion 1984: 123f.).

Gerade diese erwartbare Sicherheit ist die wichtigste Basis für die unbestreitbar erfolgreiche Legitimation der Sozialpolitik in allen Gesellschaftskreisen. Auf dieser - nach Offe - dritten Funktion der Sozialpolitik bauen die beiden anderen gewissermaßen auf. Aus dem Formwandel der drei sozialpolitischen Funktionen, den daraus resultierenden Widersprüchen und dem Versuch ihrer politischen Regulation zogen wir drei Schlüsse, mittels derer wir die qualitative Krise des Sozialstaates kennzeichneten.

  • Der Sozialstaat als kompensatorischer Mechanismus, als Reparatur scheitert zunehmend an der Qualität und an der 'chronischen' Qualität der sozialen Krisenerscheinungen. Die subsidiäre Funktion konzentriert sich zunehmend auf die leistungsbereiten, arbeitsfähigen Gesellschaftsgruppen und spaltet damit zunehmend 'Nicht-leistungsbereite', Jugendliche, Frauen, Ausländer, Kranke, Kriminelle usw. ab. Für die dauerhafte Bearbeitung dieser ausgegrenzten Gruppen reichen die zur Verfügung stehenden kompensatorischen Mechanismen nicht aus.
  • Die kompensatorischen Apparate u