Die Armen: Unnütz, unerwünscht, im Stich gelassen

Es gibt viele Möglichkeiten, human zu sein, aber jede Gesellschaft trifft ihre eigene Entscheidung darüber, was sie bevorzugt oder toleriert. Wenn wir eine bestimmte Ansammlung von Menschen als Gesellschaft bezeichnen und damit meinen, daß diese Menschen zusammengehören, eine Totalität ausmachen - dann geschieht das aufgrund dieser Entscheidung (die nur schwer wieder rückgängig gemacht werden kann, obwohl sie selten Produkt einer bewußten Auswahl der attraktivsten unter mehreren in Betracht gezogenen Möglichkeiten ist, sondern eher ein Produkt des Versäumnisses, eine solche Auswahl zu treffen). Es ist diese Entscheidung oder es sind ihre bleibenden Sedimente, die eine Ansammlung von Menschen von einer anderen unterscheidet: der Unterschied, auf den wir uns beziehen, wenn wir von verschiedenen Gesellschaften sprechen. Ob eine gegebene Ansammlung von Menschen eine Gesellschaft ist oder nicht, wo ihre Grenzen liegen und wer zu der Gesellschaft gehört, die diese Ansammlung konstituiert - all das hängt von der Kraft ab, mit der diese Entscheidung getroffen und befördert wird, von der Stärke des Zugriffs auf die Individuen und dem Grad der Zustimmung, mit der ihr gefolgt wird. Die Entscheidung läuft auf zwei Zumutungen hinaus (oder vielmehr eine Zumutung mit einem zweifachen Effekt): eine Ordnung und eine Norm.

Jede Ordnung ist der verzweifelte Versuch, Uniformität durchzusetzen, Regelmäßigkeit und Vorhersehbarkeit der menschlichen Welt, und die Menschen neigen dazu, unterschiedlich, unberechenbar und unvorhersehbar zu sein. Da die Menschen, wie Cornelius Castoriadis sagt, Wesen sind, die etwas anderes schaffen, die Quelle von Anderssein sind und sich dadurch selbst ändern, gibt es nur eine geringe Chance, daß die menschliche Welt irgendwo (außer auf dem Friedhof) je aufhören wird, sich zu verändern, unberechenbar und unvorhersehbar zu sein. Mensch zu sein bedeutet ständige Entscheidung und Umkehrbarkeit aller getroffenen Entscheidungen - und es bedarf einer beträchtlichen Anstrengung, weitere Entscheidungsmöglichkeiten auszuschließen oder eine bereits getroffene Entscheidung unwiderrufbar zu machen. Die Sehnsucht nach Ordnung kann nur aufgrund dieser Eigenschaft, wählen zu können, verstanden werden; jedes Ordnungsmodell ist selbst eine Entscheidung, aber eine Entscheidung, die versucht, über allen anderen Entscheidungsmöglichkeiten zu stehen und jeglichem weiteren Auswählen ein Ende zu setzen. Da aber ein solches Ende nicht in den Karten steht - folgt Misanthropie, ob nun beabsichtigt, willkommen oder nicht. Das wahre Objekt der Verdächtigung, der Ablehnung oder des Hasses, der Gefühle und Einstellungen, die sich zur Misanthropie vereinigen, ist die hartnäckige, tief verwurzelte und unheilbare Exzentrizität der Menschen, jene unerschöpfliche Quelle der Un-Ordnung.

Die andere Zumutung betrifft die Norm. Die Norm ist die Projektion des Modells Ordnung auf das menschliche Verhalten. Die Norm sagt uns, was es heißt, sich in einer wohlgeordneten Gesellschaft ordentlich zu betragen; sie übersetzt sozusagen das Konzept der Ordnung in die Sprache der menschlichen Entscheidungsmöglichkeiten. Wenn eine Ordnung gewählt werden kann, so trifft das auch auf die Norm zu, aber die Entscheidung für eine bestimmte Ordnung begrenzt die Wahl der tolerierbaren Verhaltensmuster. Sie bevorzugt bestimmte Verhaltensformen als normal, während sie alle anderen Formen als 'abnormal' ausschließt. 'Abnormal' bedeutet das Verlassen der bevorzugten Muster; daraus wird 'Abweichung', eine extreme Form der Abnormalität, ein Benehmen, das therapeutische oder strafrechtliche Intervention nach sich zieht - wenn das in Frage stehende Verhalten nicht nur im Widerspruch zu den bevorzugten Mustern steht, sondern die Grenzen der tolerierbaren Wahlmöglichkeiten überschreitet. Der Unterschied zwischen bloßer 'Abnormalität' und der sehr viel schlimmeren 'Abweichung' ist nicht eindeutig definiert und in der Regel heiß umstritten - wie auch die Frage nach den Grenzen der Toleranz, jener Haltung, die den Unterschied zwischen beiden ausmacht.

Eine bewußte Befassung mit Ordnung und Norm - das bloße Sprechen über Ordnung und Norm - signalisiert in der Regel, daß nicht alles so ist, wie es sein sollte, und daß nicht alles, was ist, in seinem gegenwärtigen Zustand gelassen werden kann. Gerade die Konzepte von Ordnung und Norm (Konzepte, die uns, wenn sie einmal geprägt sind, erlauben, das 'Problem' zu erkennen, das Ordnung und Norm darstellen, die uns erlauben, Bestandteile der Welt als für die Frage von Ordnung und Norm relevant zu klassifizieren) werden aus diesem Gefühl der Unvollkommenheit des gegenwärtigen Zustands der Dinge heraus geboren und aus dem Drang, etwas dagegen zu tun. Beide Konzepte sind deshalb positiv und konstruktiv; sie schubsen und drängen uns dazu, die Realität auf gewisse Standards hin anzuheben, die noch nicht vollkommen erreicht sind. Wenn von Ordnung und Norm gesprochen wird, so ist das allein schon ein kraftvolles Instrument ihrer Durchsetzung.

Aber das 'Sollte', das sie beinhalten, dringt in das 'Ist' ein - und läßt große Teile der menschlichen Realität außen vor. Keine der beiden Ideen würde einen Sinn machen, wenn sie alle Menschen und alle Dinge, die diese tun, umfaßte. Der Kern von Ordnung und Norm ist genau das Gegenteil - die emphatische Erklärung, daß nicht alles, was in der Gegenwart existiert, einen Raum in einer postulierten ordentlich funktionierenden Ansammlung finden kann, und daß nicht jeder Entscheidung entsprochen werden kann. Die Konzepte von Ordnung und Norm sind scharfe Messer, die sich gegen die Gesellschaft, so wie sie ist, richten; ihnen geht es in erster Linie um Trennung, Amputation, Beschneidung, Bereinigung und Ausschluß. Sie befördern das 'Ordentliche', indem sie den Blick für das 'Unordentliche' schärfen; sie benennen, umschreiben und stigmatisieren Teile der Realität, denen das Recht zu existieren versagt wird - bestimmt für Isolation, Exil oder Auslöschung. Wenn Ordnung installiert und befördert wird, wird der Ausschluß direkt vollzogen, indem man die, die ausgeschlossen werden sollen, einem speziellen Regime unterwirft. Norm (jegliche Norm - die Norm der Arbeitsethik ist nur eine unter vielen) agiert indirekt, indem sie den Ausschluß eher wie eine Selbstmarginalisierung aussehen läßt.

Seit undenklichen Zeiten vermischen sich diese beiden Aspekte - Verteidigung der Ordnung und der Norm - in der sozialen Konstruktion der Figur des Armen. Die Armen sind Menschen, die nicht ernährt, behaust und gekleidet sind, wie es der Standard ihrer Zeit und ihres Ortes als richtig und ordentlich definiert; aber vor allem sind sie Menschen, die nicht mit der Norm mithalten können, fähig zu sein, solchen Standards zu entsprechen. Jede bekannte Gesellschaft hatte ihre Armen. Das ist kein Wunder, da - ich wiederhole es noch einmal - die Auferlegung eines jeglichen Ordnungsmodells ein Akt der Trennung ist und bestimmte Teile der sozialen Realität als unpassend und dysfunktional disqualifiziert, während die Erhebung einer jeglichen bestimmten Lebensweise zur Norm eine Vielzahl anderer möglicher Lebensweisen als abweichend oder abnormal klassifiziert. Die Armen sind Verkörperung und Prototyp des 'Unpassenden' und des 'Abnormalen'. Je nach ihrem spezifischen Modell von Ordnung und Norm hat jedoch jede Gesellschaft ihre Armen nach ihrem eigenen Bild geschaffen, indem sie verschiedene Erklärungen für ihr Dasein angeboten, unterschiedliche Verwendung für sie gefunden und unterschiedliche Strategien entwickelt hat, das Problem der Armut anzupacken.

Dem prämodernen Europa fiel es leichter als seinem modernen Nachfolger, eine wichtige Funktion für seine Armen zu finden. Die Armen waren - wie alle anderen und alles andere im prämodernen christlichen Europa Kinder Gottes - ein unverzichtbares Glied in der Divine Chain of Beings, Teil der göttlichen Schöpfung und - wie der Rest der Welt vor der 'Entzauberung' durch die Moderne - mit Bedeutung und Sinn ausgestattet. Die Armen litten, und ihr Leiden war die Buße für den Sündenfall und eine Garantie für die Erlösung. Es war jedoch die Aufgabe der Wohlhabenden, den Leidenden beizustehen und ihr Los zu erleichtern. Indem sie Nächstenliebe übten, konnten sie sich ihren eigenen Anteil an der Erlösung sichern. Die Gegenwart der Armen war damit ein Gottesgeschenk für alle anderen: eine Gelegenheit, Selbstaufopferung zu zeigen, ein tugendhaftes Leben zu führen, Sünden zu büßen und den himmlischen Segen zu gewinnen. Man könnte fast sagen, daß eine Gesellschaft, die den Sinn des irdischen Lebens in dem Leben nach dem Tod sucht, eine andere Möglichkeit der persönlichen Erlösung hätte erfinden müssen, wenn sie die Armen nicht schon zur Hand gehabt hätte.

Das war ganz sicher nicht mehr der Fall in der entzauberten Welt, in der nichts ein Existenzrecht hatte, nur weil es zufällig da war, und in der alles, was vorhanden war, einen legitimen und vernünftigen Beweis seines Existenzrechts zu liefern hatte. Wichtiger noch, die 'schöne neue Welt' der Moderne setzte ihre eigenen Regeln und nahm nichts als gegeben hin. Sie unterwarf alles Existierende der peinlich genauen Prüfung durch die Vernunft, erkannte keine Grenzen ihrer eigenen Autorität an und lehnte vor allem die Macht der Toten über die Lebenden ab, also die Autorität der Tradition, der vererbten Sitten und Gebräuche. Die Projekte Ordnung und Norm lösten die Vision der Welt als Gottes Schöpfung ab. Im Unterschied zu dieser Vision waren Ordnung und Norm menschliche Produkte, Entwürfe, die erst durch menschliches Handeln umgesetzt wurden, Dinge, die noch herzustellen oder zu erbauen galt, nicht vorgefundene Dinge, in deren Existenz man sich mit ruhiger Gelassenheit fügte. Und wenn die tradierte Realität nicht in die projektierte Ordnung paßte: Pech für die Realität.

Und so wurde die Gegenwart der Armen zu einem Problem (ein 'Problem' ist etwas, das Unbehagen erzeugt und den Drang zur Folge hat, es zu 'lösen' - ihm abzuhelfen oder es zu entfernen). Die Armen waren eine Bedrohung und Hindernis für die Ordnung, und sie trotzten der Norm. Die Armen waren ein doppeltes Risiko: Nun, da sie ihre Armut nicht mehr dem Urteil der Vorsehung zu verdanken hatten, gab es auch keinen Grund mehr, warum sie ihr Schicksal demütig und dankbar ertragen sollten; vielmehr gab es für sie nun allen Grund, sich zu beklagen und gegen die Glücklicheren aufzubegehren, die ja jetzt an ihren Entbehrungen schuld waren. Auf der anderen Seite wurde die alte christliche Ethik der Nächstenliebe jetzt als eine untragbare Last empfunden, als ein Faß ohne Boden, in dem der Wohlstand der Nation verschwindet. Die Verpflichtung, seinen eigenen Wohlstand mit denen zu teilen, denen es nicht gelungen war, sich in des Glückes Gunst einzuschmeicheln, konnte früher als eine vernünftige Investition für das Leben nach dem Tod gelten, aber jetzt hielt sie der Vernunft nicht mehr stand - jedenfalls ganz sicher nicht der Vernunft des Geschäftslebens im Hier und Jetzt.

Bald kam zu den anderen beiden eine dritte Bedrohung hinzu: Die Armen, die ihr Los ergeben als göttliches Urteil akzeptierten und keine Anstrengungen unternahmen, sich selbst aus ihrer Misere zu befreien, erwiesen sich als immun gegen die Verheißungen des Fabriklebens. Sie weigerten sich, ihre Arbeitskraft auch dann noch zu verkaufen, wenn die spärlichen Bedürfnisse, auf die sie sich eingerichtet hatten und die als natürlich wahrzunehmen sie gelernt hatten, befriedigt waren. Die frühen Jahre der sich entwickelnden industriellen Gesellschaft plagte ein ständiger Mangel an Arbeitskräften. Die Armen waren resigniert oder zufrieden mit ihrem Los und wurden so bald zu einem Alptraum der industriellen Unternehmer: sie waren unempfänglich für die Anreize eines regulären Lohnes und sahen keinen Grund, warum sie länger als irgend nötig die Plackerei in der Fabrik erleiden sollten, wenn sie genug verdient hatten, um sich das Brot kaufen zu können, das sie am Tag brauchten. In der Tat ein Teufelskreis: Die Armen, die sich gegen ihr Elend auflehnten, bedeuteten Rebellion oder Revolution; die Armen, die sich mit ihrem miserablen Los abfanden, verlangsamten und behinderten den Fortschritt der industriellen Unternehmen. Die Armen in eine kontinuierliche Fabrikarbeit hineinzuzwingen, erschien deshalb als die wunderbare Quadratur des Kreises.

Und so wurden die Armen des Fabrikzeitaltes neu definiert als industrielle Reservearmee. Beschäftigung: kontinuierliche Beschäftigung und Beschäftigung, die keinen Raum für Unfug ließ, wurde zur Norm - während Armut mit Nicht-Beschäftigung, dem Brechen der Norm, einem abnormalen Zustand identifiziert wurde. Um unter diesen Umständen die Armut zu heilen und den beiden Bedrohungen des nationalen Wohlstandes die Spitze zu nehmen, mußten die Armen dazu veranlaßt oder - wenn es sein mußte - gezwungen werden, das Los der Fabrikarbeit zu akzeptieren. Das konnte natürlich am einfachsten dadurch erreicht werden, daß man die Armen von jeder anderen Quelle des Überlebens abschnitt: Akzeptiere die angebotenen Bedingungen - wie abstoßend sie auch sind und wie sehr sie Dir auch zuwider sein mögen - oder verwirke jedes Recht auf Unterstützung. Im Klartext: In einer derart alternativlosen Situation erübrigte sich jede Predigt einer ethischen Pflicht; um die Armen in die Fabrikhallen zu kriegen, brauchte man nicht an ihre moralischen Impulse zu appellieren. Dennoch wurde die Arbeitsethik immer noch fast überall als nützliche, ja vielleicht sogar unersetzliche Medizin gegen das dreifache Leiden an Armut, ungenügendem Angebot an Arbeitskräften und Furcht vor Revolution betrachtet. Sie wurde zu einer Art Zuckerguß, der die unappetitliche Qualität des angebotenen Kuchens verbergen sollte; die Plackerei in den noblen Rang einer moralischen Pflicht zu befördern, konnte vielleicht die Gemüter derer beruhigen, die ihr ausgesetzt waren, und zur gleichen Zeit das moralische Gewissen derjenigen heben, die sie dieser Zumutung aussetzten. Eine Entscheidung für die Arbeitsethik lag auch deshalb nahe - ja schien sogar selbstverständlich und natürlich -, weil die mittleren Klassen damals schon zu ihr bekehrt und es gewohnt waren, ihr eigenes Leben in ihrem Lichte zu interpretieren.

Jeremy Bentham, der große Reformer, an dem sich die geistige Verfassung der Moderne besser exemplifizieren läßt als an irgendeinem anderen Denker seiner Zeit (sein Vorhaben wurde vom zeitgenössischen Bildungsbürgertum fast einmütig als hervorragend vernünftig und aufgeklärt gepriesen), ging noch einen Schritt weiter und kam zu dem Schluß, daß finanzielle Anreize nicht die angemessenen Mittel seien, die gewünschten Ziele zu erreichen: nackter Zwang würde sehr viel effektiver sein als jeglicher Appell an die offensichtlich unbeständige oder gar nicht vorhandene Intelligenz der Armen. Er schlug vor, 500 Häuser zu bauen, in denen je 2.000 "lästige Arme" zusammengesperrt werden sollten, unter ständiger Überwachung durch einen Hausherren, der mit absoluter und ungeteilter Macht über Leib und Seele der Insassen ausgestattet werden sollte. "Der Abfall, der Schund der Menschheit" - Erwachsene und Kinder ohne Lebensunterhalt, Bettler, unverheiratete Mütter, aufmüpfige Lehrlinge und dergleichen sollten nach diesem Plan erfaßt und in solchen privatwirtschaftlich geführten Häusern zur Zwangsarbeit gepreßt werden. Auf diese Weise könnte "solcher Schund in Pfund Sterling umgewandelt werden". Seinen wenigen liberal gesinnten Kritikern antwortete Bentham wütend: "Einwand: Verstoß gegen die Freiheit. Antwort: die Freiheit, Unfug zu treiben". Er glaubte eben, daß die Armen deshalb arm geblieben waren, weil sie keine der notwendigen Prüfungen des Lebens bestanden hätten, und daß sie für Freiheit so reif wären wie unartige Kinder. Sie können sich nicht selbst regieren; sie müssen regiert werden.

Es ist viel Wasser alle möglichen Flüsse hinuntergeflossen, seit Leute wie Locke, Young oder Bentham, versehen mit dem Image wagemutiger Eroberer neuer und unbekannter Welten, proklamierten, was nach und nach die universelle moderne Philosophie der Armut geworden ist. Der Unterschied liegt nur darin, daß sich heutzutage keiner trauen würde, die Prinzipien dieser Philosophie mit ähnlich arroganter Offenheit zu formulieren; und wenn sie es täten, würden ihre Behauptungen ganz sicherlich einen allgemeinen Aufschrei provozieren. Und dennoch beeinflußt diese Philosophie noch heute beträchtlich den öffentlichen Umgang mit Leuten, die - aus welchem Grund auch immer - nicht in der Lage sind, ihr eigenes Leben ohne 'unverdiente' Hilfe zu meistern. Man kann noch heute das machtvolle Echo dieser Philosophie hören in jeder der einander ablösenden Kampagnen gegen die 'Schmarotzer', 'Betrüger' und diejenigen, die es sich in der 'sozialen Hängematte' bequem machen, genauso wie in der oft wiederholten Warnung, daß diejenigen, die höhere Löhne fordern, riskieren, daß sie sich selbst um ihre Jobs bringen. Am stärksten ist der Einfluß dieser Philosophie jedoch darin spürbar, daß - obwohl massive Evidenzen für das Gegenteil sprechen - darauf insistiert wird, Hauptgrund für die Armut sei nach wie vor die Verletzung der universellen Lohnarbeitsnorm und Heilung könne nur die Rückführung der Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt bringen. So diktiert der Volksmund die öffentliche Auffassung: nur als eine Ware kann Arbeit das Recht auf den Zugang zu den ebenfalls kommodifizierten Mitteln zum Überleben beanspruchen.

Auf diese Weise wird der Anschein erweckt, die Armen von heute hätten die Funktion behalten, die ihnen in den frühen Jahren des modernen industriellen Zeitalters zugeschrieben wurde: nämlich die Funktion der industriellen Reservearmee. Diese Zuschreibung zieht die Redlichkeit derer in Zweifel, die 'nicht im aktiven Dienst' sind, und sie weist deutlich den unfehlbaren Weg, diese wieder 'auf Linie' zu bringen und damit die Ordnung der Dinge wiederherzustellen, die durch den 'Ausstieg aus dem aktiven Dienst' gestört war. Der Haken an dieser Philosophie ist jedoch, daß sie - einst hervorgebracht, um die gerade neu entstehenden Realitäten des Industriezeitalters zu erfassen und zu artikulieren - jetzt ihren Zweck überlebt und den Kontakt mit den am anderen Ende desselben Zeitalters wiederum gerade neu entstehenden Realitäten verloren hat. War diese Philosophie einst Agentin der Ordnungsstiftung, so hat sie sich langsam, aber unaufhaltsam in eine Rauchwand verwandelt, die die Sicht auf das versperrt, was an der gegenwärtigen Lage der Armen neu und beispiellos ist. Die Arbeitsethik, die die Armen in die Rolle der industriellen Reservearmee gepreßt hat, begann ihr Leben als eine Enthüllung. Jetzt führt ihr postumes Weiterleben zu einer Verschleierung.

Aus den Armen von heute die Arbeiter von morgen zu machen, war ökonomisch und politisch doppelt sinnvoll: Es schmierte die Räder der industriellen Ökonomie und diente außerdem noch der 'sozialen Integration', also der Aufrechterhaltung der Ordnung und der normativen Regulation. Beides funktioniert in der 'spät-' oder 'postmodernen' Gesellschaft nicht mehr, ist diese doch vor allen Dingen eine Gesellschaft der Konsumenten. Die heutige Ökonomie braucht keine starke Arbeitsarmee mehr, hat sie doch nicht nur gelernt, wie man die Profite steigert, sondern auch den Umfang der Produktion bei gleichzeitiger Reduktion der Arbeit und ihrer Kosten. Gleichzeitig wird der Gehorsam gegenüber Norm und sozialer Disziplin allgemein im großen und ganzen eher durch die Anreize und Verlockungen des Warenmarktes gesichert als durch Zwangsmaßnahmen des Staates oder Drill eines Netzwerks panoptischer Institutionen. Ökonomisch und politisch kann die spät- oder postmoderne Gesellschaft der Konsumenten gut gedeihen, ohne die Masse ihrer Mitglieder durch die Mühlsteine der Industriearbeit zu drehen. Die Armen haben als industrielle Reservearmee in jeder Hinsicht ausgedient, und die Appelle an die Arbeitsethik klingen zunehmend nebulös meilenweit entfernt von den Realitäten dieser Tage.

Die zeitgenössischen Gesellschaften nehmen ihre Mitglieder in erster Linie als Konsumenten in die Pflicht, erst in zweiter Linie und nur teilweise in der Rolle von Produzenten. Um die gesellschaftliche Norm zu erfüllen, um ein voll anerkanntes Mitglied der Gesellschaft zu sein, muß man heutzutage schnell und effizient auf die Versuchungen des Konsumentenmarktes reagieren; man muß seinen Beitrag zu einer 'angebotsangepaßten Nachfrage' leisten und im Fall ökonomischer Krisen Teil des 'konsumentengeleiteten Aufschwungs' sein. All dies können die Armen nicht, fehlt es ihnen doch an einem anständigen Einkommen, an Kreditkarten und an Aussichten auf bessere Zeiten. Entsprechend brechen die Armen heute die Norm der Eignung zum Konsumenten, nicht die Norm der Beschäftigung, aber auch der Bruch dieser neuen Norm stempelt sie zu Abnormalen. In erster Linie sind die Armen von heute 'Nicht-Konsumenten' anstatt 'Nicht-Beschäftigte'; sie sind primär als fehlerhafte Konsumenten definiert - da die wichtigste der sozialen Verpflichtungen, die sie nicht erfüllen, diejenige ist, aktiver und effektiver Käufer von Gütern und Dienstleistungen zu sein, die der Markt anbietet. In der Buchführung der Konsumgesellschaft sind die Armen eindeutig eine Belastung, und keiner noch so großen Anstrengung des Vorstellungsvermögens kann es gelingen, sie auf der gegenwärtigen oder zukünftigen Habenseite zu verbuchen.

Somit sind die Armen erstmals in der überlieferten Geschichte einfach und ausschließlich nichts als ein Ärgernis und eine Plage. Sie haben keine Verdienste, die ihre Mangelhaftigkeit mildern, geschweige denn ausgleichen könnten. Sie haben nichts zu bieten, womit sie 'den Steuerzahler' für seine Aufwendungen entschädigen könnten. Sie sind eine schlechte Investition, die sich wahrscheinlich nie auszahlen und mit Sicherheit keinen Profit erbringen wird; ein schwarzes Loch, das alles verschlingt, was in seine Nähe kommt und nichts wieder ausspuckt - außer vielleicht Ärger. Anständige und normale Mitglieder der Gesellschaft - die Konsumenten - wollen und erwarten nichts von ihnen. Die Armen sind völlig nutzlos . Niemand - niemand von denen, die wirklich zählen, die ihre Meinung sagen und gehört werden - braucht sie. Für sie gilt: Null Toleranz. Die Gesellschaft wäre viel besser dran, wenn die Armen einfach ihre Zelte verbrennen und abziehen würden. Die Welt wäre so viel schöner ohne sie ... Die Armen werden nicht gebraucht, und deshalb sind sie unerwünscht. Und weil sie unerwünscht sind, kann man sie ohne Bedauern und Gewissensbisse im Stich lassen.

Unnütz, unerwünscht, im Stich gelassen - wo ist ihr Platz? Die kürzeste Antwort ist: aus den Augen. Erstens muß man sie von den Straßen und anderen öffentlichen Orten entfernen, die wir, die Insider der schönen neuen Konsumentenwelt, nutzen. Besser noch: wenn sie zufällig Neuankömmlinge und ihre Papiere nicht ganz in Ordnung sind, können sie deportiert und damit ganz und gar aus der Sphäre jeglicher Verpflichtung entfernt werden. Wenn sich kein Vorwand für eine Deportation finden läßt, kann man sie immer noch in abgelegenen Gefängnissen oder Gefangenenlagern einlochen, am besten in Gegenden wie der Wüste von Arizona, auf Schiffen, die fernab der Seerouten vor Anker liegen, oder in den hochtechnisierten, vollautomatischen Haftanstalten, wo sie niemanden zu sehen kriegen und niemand, nicht einmal die Wärter, sie häufig zu Gesicht bekommt.

Um die physische Isolation narrensicher zu machen, kann man sie durch mentale Ausgrenzung verstärken, die in die Verbannung der Armen aus der Welt moralischen Mitfühlens mündet: man kann sie von den Straßen, aus der Gemeinschaft der Menschen und aus der Welt ethischer Verpflichtungen verbannen. Dies kann man erreichen, indem man die Geschichte, die in der Sprache von Ausschluß und Mangel geschrieben ist, neu schreibt in der Sprache der Verderbtheit. Die Armen liefern den Nachschub an 'üblichen Verdächtigen', die stets in Begleitung zu dem öffentlichen Gezeter vorgeführt werden, das immer dann einsetzt, wenn ein Defekt in der üblichen Ordnung aufgespürt wird. Die Armen werden als träge, lasterhaft und bar moralischer Standards porträtiert. Die Medien präsentieren in munterer Kooperation mit der Polizei einer sensationslüsternen Öffentlichkeit schaurige Bilder von 'kriminellen Elementen', die - von Verbrechen, Drogen und sexueller Promiskuität verseucht - ihre Zuflucht in der Dunkelheit schäbiger Straßen finden. Und so kommt man zu dem Schluß, daß das Problem der Armut in erster Linie, wenn nicht sogar ausschließlich, ein Problem von Law and order ist, dem man auf dieselbe Weise begegnen sollte wie anderen Formen des Gesetzesbruchs.

Wenn erst der Verlust moralischer Gemeinschaft sich mit hochentwickelter Technologie zur Lösung lästiger Probleme paart, dann ist - mit den Worten Gregory Batesons - "Deine Überlebenschance so groß wie die eines Schneeballs in der Hölle". Rationale Lösungen lästiger Probleme bilden in der Kombination mit moralischer Indifferenz in der Tat eine explosive Mischung. Viele menschliche Wesen können dabei zugrunde gehen, doch das herausragendste Opfer ist die Humanität derer, die der Auslöschung entkamen.

Wir sind nicht ganz so weit - noch nicht. Aber die Zeichen stehen an der Wand. Wir dürfen sie nicht leichtsinnig als Kassandrarufe abtun - wie die vorangegangenen schon längst vergessen, noch bevor es ernst wird -, wenn wir nicht in die Lage geraten wollen, uns später - wie heute gängig - im Rückblick, verspätet dafür rechtfertigen zu müssen, daß wir ihnen keine Beachtung geschenkt haben, als sie noch waren, was sie heute sind: nur Zeichen an der Wand. Zum Glück der Menschheit ist die Geschichte übersät mit unheilvollen Prophezeiungen, die nicht eintraten. Aber viele und höchst abscheuliche Verbrechen ereigneten sich in dieser Geschichte infolge fehlender Warnungen oder infolge der selbstgefälligen Ungläubigkeit, mit der diese, wenn überhaupt gehört, abgetan wurden. Wie in der Vergangenheit liegt die Entscheidung auch jetzt bei uns.

Und es gibt eine Wahlmöglichkeit; obwohl zu erwarten ist, daß viele Leute angesichts von Realitäten, die berüchtigt sind für ihre Neigung, ihre menschliche Herkunft zu verbergen und den Anschein selbstverständlicher Notwendigkeiten anzunehmen, jede Alternative zu den heutigen Tendenzen als 'unrealistisch' oder sogar als 'wider die Natur der Dinge' - was immer sie damit auch meinen mögen - verwerfen. Sich die Möglichkeit einer anderen Form des Zusammenlebens vorzustellen, ist nicht gerade eine Stärke unserer Welt der privatisierten Utopien, die eher für die Neigung bekannt ist, Verluste zu bilanzieren, wenn diese bereits eingetreten sind, und dafür, daß sie politische Visionen durch Krisenmanagement ersetzt. Noch weniger ist diese unsere Welt in der Lage, den Willen und die Durchsetzungsfähigkeit aufzubringen, die es erfordern würde, irgendeine Alternative zu 'Mehr vom Gleichen' realistisch zu machen. Das abschätzige Urteil 'unrealistisch', das in der heutigen politischen Auseinandersetzung so häufig gebraucht und mißbraucht wird, bezeichnet in erster Linie das Nichtvorhandensein von Willen und Durchsetzungsvermögen.

Cornelius Castoriadis hat kürzlich darauf hingewiesen, daß die Krise der westlichen Welt darin besteht, daß sie aufgehört hat, sich selbst in Frage zu stellen. Aber genau das war das innerste Geheimnis des erstaunlichen und beispiellosen Strebens der westlichen Welt nach Selbstvervollkommnung und des gleichermaßen beeindruckenden Erfolgs bei der Umsetzung dieses überaus ehrgeizigen Ziels in die Tat. Sich selbst in Frage zu stellen war möglich, ja eigentlich sogar unvermeidlich seit der Entdeckung, daß die Grundlagen all unserer Arrangements willkürlich sind und bleiben. Weil sie willkürlich sind, können sie ebensogut durch andere Arrangements ersetzt werden, wenn nur die Begründung für eine solche Ersetzung überzeugend ausfällt. Dieser Bedingung aber scheint nicht mehr entsprochen zu werden. Wir neigen dazu, zu vergessen, daß es gegenüber der Behauptung, eine Person als Eule wahrzunehmen, nicht einer geringeren, sondern einer größeren Einbildungskraft bedarf, diese Person als ein Ding oder als ein rein mechanisches System zu behandeln. Ist dies erst einmal vergessen, hören wir auf, die Fragen zu stellen, die aus der modernen Gesellschaft die ruheloseste und innovativste aller Zeiten machten. So zum Beispiel: alles ist gegenwärtig dem Prinzip der Effektivität untergeordnet - aber effektiv für wen, angesichts von was und mit welchem Ziel? Wirtschaftswachstum findet statt; aber was wächst da eigentlich, für wen, zu welchen Kosten und wohin?

Bleiben diese Fragen ungestellt, dann gibt es keine Hindernisse mehr, unser eigenes Imaginäres, nämlich dasjenige der unablässig fortschreitenden, keine Begrenzung respektierenden Rationalisierung - die darein zurückfällt, Menschen durch ein Ensemble von Teileigenschaften zu ersetzen, die nach Gesichtspunkten eines willkürlichen Systems von Zwecken ausgewählt sind - in den Rang objektiver Notwendigkeit zu befördern und alle Zweifel ausschließlich der Domäne von 'unernsthaften Leuten' wie Dichtern und Schriftstellern zuzuordnen.

Ein stichhaltiger und überzeugender Vorschlag zu einer radikalen Lösung der gegenwärtigen Krise ist kürzlich von Claus Offe gemacht worden. Der Kerngedanke des Vorschlags sieht vor, den individuellen Anspruch auf Einkommen von der jeweils aktuellen Erwerbsfähigkeit abzukoppeln. Das ist möglich, allerdings zugegebenermaßen nur unter der Bedingung keines geringeren Kunststücks als einer Änderung der Perspektive: Weg von einer Lohnarbeitsperspektive, wie sie von der Arbeitsethik diktiert wird, hin zu der Feststellung eines grundlegenden Anspruchs auf ein garantiertes Grundeinkommen, wie sie Status und Würde des Menschen nahelegt.

Die vorgeschlagene Entkoppelung wird von Offe dahingehend konkretisiert, daß das soziale Sicherungssystem durch Steuern finanziert, die Mittelüberprüfung und die Überprüfung der Arbeitswilligkeit abgeschafft, das Prinzip der Äquivalenz schrittweise durch das Prinzip des Bedarfs ersetzt und schließlich die Individuen als Anspruchsberechtigte eingesetzt werden. Ein Umbau des sozialen Sicherungssystems gemäß dieser Prinzipien würde es laut Offe ermöglichen, wohlfahrtsstaatliche Werte wie Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit in die jetzige Phase der Entwicklung der kapitalistischen Wohlfahrtsstaaten hinüberzuretten, in der das Ziel der Vollbeschäftigung hinter dem Horizont des Realistischen und des Wünschbaren entschwunden ist. Diese Vorschläge klingen zwar vage - was man aber im Licht dessen, was oben über unsere wachsende Unfähigkeit, unsere Welt in Frage zu stellen, gesagt wurde, nicht anders erwarten kann. Sie können gar nicht anders als vage klingen in einer Zeit, in der jede einzelne politische Kraft, die am Markt der Wahlen zählt, genau in die entgegengesetzte Richtung zu marschieren scheint und die Symptome der Krankheit als Zeichen einer Erholung und ihre Ursachen als Kur ausgibt. Es scheint derzeit weder links noch rechts im politischen Spektrum eine relevante organisierte politische Kraft zu geben, die nicht bereit wäre, aus politischer Opportunität oder zugunsten möglicher Wahlerfolge Offes oder ähnliche Ideen sofort zu verwerfen - unter öffentlichem Druck würden 'verantwortliche PolitikerInnen' als Begründung für die Ablehnung des Projekts eines garantierten Grundeinkommens allerdings eher die 'Unmöglichkeit' seiner Finanzierung bzw. den mit dem Projekt verbundenen politischen und ökonomischen 'Irrealismus' ins Feld führen - und dabei den zweifelhaften Realismus des gegenwärtig modischen Krisenmanagements zu beschönigen.

Dabei sind Offes Vorschläge - wie er richtigerweise betont - letztlich konservativ. Ihr Ziel ist nicht eine Revolution, sondern der Erhalt der für die westliche Zivilisation konstitutiven ethischen Werte und sozialen Arrangements unter Bedingungen, unter denen die angestammten Institutionen ihre Umsetzung nicht mehr garantieren. Und weil diese Vorschläge ein solch konservatives Ziel haben, "fällt die Beweislast auf ihre Gegner zurück. (...) Entweder wollen sie den sozialen und ethischen Nachkriegskonsens beenden, oder sie müssen beweisen, daß ihren Forderungen auf lange Sicht mit anderen Mitteln als durch ein Grundeinkommen entsprochen werden kann - etwas, das (...) uns höchst zweifelhaft erscheint." Hier - so scheint mir - unterschätzt Offe die Widerstandsfähigkeit der Gegner, indem er die für die Konsumentengesellschaft recht reale Möglichkeit herunterspielt, daß diese sich allen Widerständen zum Trotz dafür entscheiden könnten, den ethischen und sozialen Konsens zu beenden. Offe präsentiert etwas als rhetorische Frage, was in Wirklichkeit ein ganz praktisches Dilemma darstellt. Aber wie auch immer die Chancen für die richtige Entscheidung stehen, die Wahlmöglichkeiten sind die von Offe beschriebenen. Die Verhinderung einer ernsthaften Auseinandersetzung mit diesen Wahlmöglichkeiten durch die Leugnung ihrer Existenz hätte ganz einfach unkalkulierbare soziale und ethische Konsequenzen.

Wie radikal Offes Forderungen auch sein mögen, sie bedürfen zumindest einer weiteren Ergänzung: der Abkoppelung der Arbeit vom Arbeitsmarkt. Melissa Benn hat neulich angemerkt, daß männliche Politiker, wenn sie über Arbeit sprechen, fast immer automatisch bezahlte Arbeit meinen. Dies ist nicht ganz richtig, denn ausschließlich bezahlte Arbeit haben nicht nur männliche, sondern auch weibliche PolitikerInnen vor Augen, wenn sie über Arbeit sprechen, was daran liegt, daß Politik nach wie vor überwiegend 'Männersache' ist, auch wenn Frauen darin mitmischen. Richtig ist, daß die Identifikation von Arbeit mit bezahlter Arbeit historisch eine Errungenschaft von Männern war, die - wie Max Weber schon vor langer Zeit gezeigt hat - ihre Geschäfte getrennt vom Haushalt einzurichten wußten, in welchem sie die Frauen zurückließen, damit diese all die lebenswichtigen Aufgaben verrichteten, die heute nicht mehr als Arbeit angesehen werden und daher ökonomisch unsichtbar sind.

In dieser Form also betrat die Idee der Arbeit die politische Bühne, wo sie Kampfobjekt auf dem ebenfalls männlichen Spielfeld von gewerkschaftlichen Rechten und Arbeitsgesetzgebung wurde. Auf diese Weise wurde der Begriff 'Arbeit' auf die Sorte von Beschäftigung beschränkt, die Eingang in Geschäftsbücher finden kann, d.h. auf diejenige Art von Arbeit, die ver- und gekauft werden kann, die einen am Markt anerkannten Tauschwert hat und daher eine monetäre Entlohnung fordern kann. Praktisch alles, was ausschließlich als Frauendomäne galt, blieb außen vor, aber nicht nur das. Wann immer man von Arbeit sprach, dachte man weder an Hausarbeit noch an Kindererziehung, diese offensichtlich weiblichen Aufgaben. Man dachte auch nicht daran, welche Myriaden sozialer Fertigkeiten aufgeboten und geschäftiger Stunden investiert wurden, um täglich das zu organisieren, was A.H. Halsey und Michael Young als "moralische Ökonomie" bezeichnen. Die Arbeitsethik stimmte in diese geballten und unwidersprochenen Bemühungen zugunsten der Diskriminierung ein: außerhalb des Arbeitsmarktes zu bleiben, unverkaufte oder unverkäufliche Arbeit zu leisten, bedeutete in der Sprache der Arbeitsethik, beschäftigungslos zu sein, und das bedeutete: 'Nicht-Arbeit'. Ironischerweise sind es nur hochrangige Politiker, die öffentlich ihrer Befriedigung darüber Ausdruck verleihen dürfen, daß sie, wenn sie ihre Jobs verloren haben, endlich mehr Zeit mit ihren Familien verbringen können...

Die Konsequenzen aus all dem sind in vielfacher Hinsicht katastrophal. Sie tragen massiv zum langsamen, aber unbarmherzigen Verfall der Gemeinde- und Nachbarschaftsbindungen und des sozialen Zusammenhalts bei, dessen Erhalt immer noch ein hohes Maß an Zeit, Arbeit und Fähigkeiten in Anspruch nimmt. Sie haben gravierende und im großen und ganzen nachteilige Folgen für Struktur und Lebensfähigkeit von Familien. Sie lassen den Boden, in dem das ganze Netzwerk menschlicher Beziehungen und moralischer Bindungen wurzelt, gefährlich erodieren. Alles in allem haben sie der Lebensqualität (meist mit Lebensstandard verwechselt, obwohl etwas völlig anderes) großen Schaden zugefügt und tun es immer noch, und diesen Schaden können keine Angebote des Marktes, kein Wachstum des Konsums und keine guten Ratschläge von Anwälten kompensieren oder wiedergutmachen.

Die Idee der Abkoppelung einer Einkommensberechtigung von der Fähigkeit zum Einkommenserwerb ist also tatsächlich alles andere als konservativ. Unsere Argumentation zeigt, daß ihre Umsetzung vielmehr ganz im Gegenteil eine scharfe Kehrtwendung erfordern würde. Das würde die Abkehr von einigen wenig durchdachten, aber umso sakrosankteren Grundannahmen unserer gegenwärtigen Lebensweise bedeuten, wie zum Beispiel der Annahme, Effektivität sei auf jeden Fall eine gute Sache - egal, welchen Zielen sie dient, und egal, welche 'Nebenwirkungen' sie hinsichtlich menschlichen Leidens hat. Oder von der Annahme, daß ökonomisches Wachstum (also all das, was statistisch als 'heute mehr als gestern, morgen mehr als heute' präsentiert werden kann) an sich gut ist - wiederum ungeachtet der Schäden, die auf dem Weg dorthin hinsichtlich menschlicher Lebensbedingungen an unterschiedlichen Orten sowie hinsichtlich der Natur (einer Lebensbedingung, die für die ganze Menschheit gleich wichtig ist) angerichtet werden.

Denen, die meinen, daß die Radikalität der notwendigen Wende an sich schon ein schlagendes Argument gegen ihre Realisierung ist, kann nur noch mit einem weiteren Satz von Cornelius Castoriadis entgegnet werden. Als ein Interviewer ihn fragte "Was wollen sie denn? Die Menschheit ändern?", antwortete Castoriadis: "Nein - etwas viel Bescheideneres. Ich möchte, daß die Menschheit sich ändert, wie sie es bereits zwei- oder dreimal getan hat".

Und es gibt zumindest etwas Hoffnung, daß die Menschheit das gleiche Kunststück ein weiteresmal vollbringt. Denn schließlich wird, wie es Patrick Curry treffend ausgedrückt hat, "kollektive freiwillige Einfachheit allmählich zur einzigen positiven Alternative zur kollektiven Verelendung".

Übersetzt von Timm Kunstreich, Friedhelm Peters, Anne Scheidhauer und Heiner Zillmer