Diagnose und/oder Dialog?

Ein Briefwechsel

Anwort von Burkhard Müller an Timm Kunstreich vom 27.01.2003

Lieber Timm,

danke für Deine Anfrage und das Exposé für das geplante Methodenheft der Widersprüche zur "Neodiagnostik". Zunächst einmal bin ich gerne bereit, mich an dieser Diskussion zu beteiligen, weil ich sie nicht nur spannend, sondern auch notwendig finde. Du wirst aber hoffentlich nicht erwarten, dass ich so ganz Dei­ner bzw. Kurt Hekele Meinung bin. Ich danke für die Anerkennung meines Versuches, die klinisch-diagnostischen Begriffe neu zu besetzen. Ich halte diesen Versuch für keineswegs gescheitert, sondern nach wie vor für notwendig. Aber wenn Du sagen würdest, der Versuch sei unzureichend, würde ich Dir sofort zustimmen. Ich halte nämlich andererseits Eure Position, Diagnostik als "üble Nachrede" zu charakterisieren für ebenfalls anregend, aber gleichwohl in hohem Maße unzureichend. Denn ich sehe die Gefahr, dass sich damit die Sozialpädagogik wieder in die alte, linke, klientenfreundliche, aber hilflose Schmuddelecke zurückzieht und sich selber einredet, dass Entprofessionalisierung letztlich doch eine Tugend sei.

Wichtig scheint mir allerdings auch, die Gefahren dieser neuen Begeisterung fürs Diagnostizieren zu zeigen, wie sie in etlichen Beiträgen des von Dir erwähnten Bandes über Indikationsstellung zum Ausdruck kommt, aber auch z.B. in dem etwas früher erschienenen Band von Friedhelm Peters über Diagnose und Fallverstehen. Es genügt aber meines Erachtens nicht, jetzt die Fahne für eine Gegenposition hochzuhalten, wie das z.B. Friedhelm Peters in seinem Einleitungsbeitrag tut und gegen die neue Begeisterung für die psychosoziale Diagnose das reine Verhandlungsmodell stellt. Man sollte vielmehr statt psychosoziale Diagnose zu verteufeln zeigen, wo sie notorisch ihre eigenen Ansprüche nicht einlösen kann. Man kann das z.B. gut an den Beiträgen von Viola Harnack-Beck zeigen, die einerseits suggeriert, sie betreibe ein wissenschaftlich gesichertes Verfahren der Datenerhebung, de facto aber ständig unterstellt, dass sie über Zugänge zu Daten verfüge, die sie faktisch nur von den Klienten selbst bekommen kann, sie thematisiert dabei aber überhaupt nicht mehr, dass dies ein höchst voraussetzungsvoller Vorgang ist, in welchem die Art des Zugangs zu Klienten, der Verzicht auf "üble Nachrede" etc. entscheidend dafür ist, welche Arten von Daten eigentlich zur Verfügung stehen. Auf der anderen Seite wird von ihr die Ethik einer kommunikativen Praxis in Sonntagsreden gepriesen, dabei aber überhaupt nicht mehr überlegt, ob diese verhandelnde Praxis etwa der Hilfeplanung eigentlich seriös möglich ist, wenn überhaupt nicht mehr geklärt wird, wer dabei wen über den Tisch zieht. Die psychosoziale Diagnose, so wie Harnack-Beck sie sich vorstellt, mag sicher ein nützliches Teilinstrument sein, wenn es um Klärung von Einzelfragen geht. Genauso wie ich mir keine seriöse Praxis sozialer Hilfe vorstellen kann, die nicht sorgfältig und professionell Rechtsansprüche oder Wohnbedingungen diagnostiziert, so kann ich mir auch keine solche Praxis vorstellen, die im personenbezogenen Bereich einfach auf diagnostische Techniken verzichtet. Ich halte das für naiv. Vor allem aber müsste eine Diagnostik entwickelt werden, die selbstreflexiv die Bedingungen ihres eigenen Erkenntnisprozesses rekonstruiert und dafür geeignete settings produzieren kann.

Eine andere Frage ist, ob es gelingen kann, für diese Art von Aufgabe die "klinische" Begrifflichkeit zu reinterpretieren bzw. ob das überhaupt wünschenswert ist und ob nicht eher alltagssprachliche oder auch "neo-politische" Begrifflichkeiten dafür geeigneter wären. Ich habe mich bei meinem Versuch der Reinterpretation des Klinischen z.B. vom französischen Sprachgebrauch anregen lassen, wo "clinique" keineswegs in der Weise medizinisch konnotiert ist, wie wir das gewohnt sind, sondern sehr wohl auch andere Praktiken umschließt. Klinisch heißt dort nichts anderes als auf professionelle Weise praktisch. Ich finde das deshalb anregend, weil ich glaube, dass es der sozialpädagogischen Praxis sehr gut täte, begrifflich an andere Fachdiskurse Anschluss zu finden und nicht sich mit ihrer romantischen Klientensolidarität eins in die Tasche zu lügen. Ich weiß, dass das nicht einfach ist und dass es wahrscheinlich auch unmöglich ist, Missverständnisse ganz zu vermeiden. Ich glaube aber nicht, dass sich soziale Arbeit wirklich professionalisieren kann, wenn sie auf eine eigene scharfe Begrifflichkeit ihrer kasuistischen Praxis einfach verzichtet und ohne es direkt zu sagen, ihren Studenten beibringt, sie sollen annehmen, dass die Welt so sei, wie ihre Klienten sie sich vorstellen.

Ich weiß nicht so recht, aber es stimmt vermutlich, dass Ihr Foucault auf Eurer Seite habt, wenn Ihr Euren Studenten beibringt, nicht für "das Reich des Normativen" zu arbeiten. Aber Ihr seid hoffentlich nicht der Auffassung, dass Ihr dabei auch Bernfeld oder Korczak auf Eurer Seite hättet. Du erwähnst diese Namen ja nicht in einer Argumentation gegen die "Normalitätsrichter", sondern in einer Argumentation für das dialogische Prinzip und eine reflexive Verständigung mit den Adressaten. Ich finde aber auch den Satz "Verständigung beginnt, wo Verstehen aufhört" ebenso grundsätzlich richtig, wie höchst missverständlich. Ich würde ihn lieber ersetzen durch Sätze wie: "Der Ernstfall der Verständigung beginnt dort, wo Verstehen aufhört" oder "Ich muss verstehen, dass ich viel zu schnell meine, verstanden zu haben" oder "Verständigung ist gerade dort unentbehrlich, wo Verstehen noch nicht möglich ist". Kurz, den agnostischen Unterton in Eurem Konzept finde ich unterm Strich eher in die Sackgasse führend. Ich denke, gerade um das dialogische Prinzip nicht nur bei schönem Wetter durchhalten zu können, ist eine höchst anspruchsvolle Anstrengung des Verstehens, die entschieden über gewöhnliche Alltagsfähigkeiten hinausgeht, anzustreben. Also, wie man es auch wendet, Diagnose oder wenigstens "stellvertretende Deutung", dazu sagt Ihr aber leider eigentlich sehr wenig.

Lieber Timm, hoffentlich ärgert Dich nicht, sondern freut Dich der etwas zugespitzte Ton dieses Briefes. Jedenfalls solltest Du sehen, dass ich die Diskussion nicht nur für notwendig, sondern auch für spannend halte.

Mit herzlichen Grüssen, Burkhard Müller

Anwort von Timm Kunstreich an Burkhard Müller

Lieber Burkhard,

vielen Dank für deinen anregenden Brief. Genauso stelle ich mir die Diskussion zum Thema "Neodiagnostik" vor. Gerade weil ich einer "Entprofessionalisierung" als "Tugend" nicht das Wort reden möchte, finde ich eine professionell ausgewiesene Handlungslehre - ebenso wie du - notwendig, aber auch als möglich.

Deine Kritik an Harnack-Beck (u.a.) teile ich, ebenso die an einem reinen "Aushandlungsmodell". Beide unterschätzen m.E. nach sowohl die institutionellen Zwänge unter denen professionelle Sozialarbeit erbracht wird, aber auch das, was uns "nützlich macht", nämlich die uns zur Verfügung stehenden Ressourcen. Meine Intention geht vielmehr dahin, zunächst erst einmal nachzuvollziehen, was reflektierte Professionelle in den höchst unterschiedlichen Handlungssituationen tatsächlich tun. Dabei - und das scheint mir ein zentraler Punkt zu sein - sollte nicht die "zweisame" Interaktion des einzelnen Professionellen mit dem einzelnen Klienten im Mittelpunkt stehen, sondern die soziale Situation, in der immer vielfältige Akteure eine mehr oder minder starke, d.h. direkte oder indirekte Rolle spielen. Auf diese Weise könnte auch der m.E. nicht haltbare Unterschied zwischen Einzel-, Gruppen- und Gemeinwesenarbeit aufgehoben werden: In jeglicher Handlungssituation stellt sich (zumindest zunächst) die Frage: Wer hat hier eigentlich welches Problem oder welches Anliegen? Basierend auf einer derartigen Problemsetzung (Klatetzki) muss jeder Professionelle notwendigerweise eine Handlungsorientierung (Hekele) entwickeln. Hier finde ich gibt es einen interessanten Punkt: Wir können sehr komplex die unterschiedlichen theoretischen oder konzeptionellen Ansätze abwägen, wir können alle möglichen und unmöglichen Aspekte einbeziehen (wenn wir die Zeit dazu haben), aber wir können nur "einfach" handeln. Handeln ist immer eindeutig, auch wenn diese Eindeutigkeit sehr unterschiedlich (vor dem Hintergrund des jeweiligen Deutungsmusters) interpretiert wird. Und: Unabhängig von unserer Intention wirkt dieses Handeln in das Feld zurück, aus dem es entstanden ist. Dieses im umfassenden Sinne praktische Problem hat zur Konsequenz, dass ich entweder nach einer Handlung deren Wirkungen beurteilen kann, oder dass ich dieses Handeln so gestalte, dass es ein "gemeinsames" Produkt der Situationsteilnehmer wird, d.h. es beruht auf Verständigung im Handlungsprozess. Um dennoch die Qualität der Handlung konzeptionell charakterisieren zu können, würde ich die Intention der Handlung als "Assistenz" beschreiben, d.h. meine Handlung sollen meinem Gegenüber ermöglichen, weitere neue Handlungsoptionen zu realisieren oder auch sich als brauchbar erwiesene zu stabilisieren. Assistenz und Verständigung stehen also in einem ganz besonderen Zusammenhang, obwohl Verständigung natürlich auch schon bei Problemsetzung und Handlungsorientierung unabdingbare Voraussetzung ist. Insofern sind deine Ergänzungen zu meiner Zuspitzung (Verständigung beginnt, wo Verstehen aufhört) natürlich richtig und treffen genau den Kern.

Da es in diesem Ansatz um das Ringen um das "Neue" (nach Bloch: die unrealisierten Möglichkeiten der aktuellen Praxis oder nach Arendt: das Handeln in Freiheit oder nach Sünker: die Mäeutik) geht, könnte man ihn als generatives Konzept, das generierendes Handeln interpretiert, kennzeichnen. Ich denke, dass ein so verstandenes "Prinzip prospektiver Dialoge" zwar ab und zu das "schöne Wetter" braucht, ansonsten aber, da es aus dem Handgemenge des Alltags entstanden ist, doch ziemlich "wetterfest" ist.

Lieber Burkhard, wie du siehst, hat mich dein Brief nicht geärgert, sondern sehr angeregt. Ich danke dir für diese Rückmeldung und hoffe, das du für unser Heft einen Beitrag schreibst (den Entwurf hast du hier ja schon geschrieben).

Mit herzlichen Grüßen, Timm Kunstreich

P.S. Was hältst du davon, wenn wir unseren Dialog noch etwas schriftlich fortsetzen und dann im Heft veröffentlichen?

P.P.S. Darf ich deinen Brief - zur Anregung - auch den anderen AutorInnen zur Kenntnis geben, die wir um Mitarbeit in diesem Heft gebeten haben (mit meiner Replik)?

Anwort von Burkhard Müller an Timm Kunstreich vom 12.02.2003

Lieber Timm,

vielen Dank für Deine positive Antwort auf meinen Brief. Ich will Deine Anregung gern aufnehmen, den Dialog noch etwas schriftlich fortzusetzen und hätte auch nichts dagegen, wenn daraus was wird, die Korrespondenz zu veröffentlichen und habe auch kein Problem damit, dass Du den Brief anderen AutorInnen zur Kenntnis gibst. Zur Sache.

Ich habe schon vermutet, dass unsere Gemeinsamkeit etwas größer ist, als ich in meinem ersten Brief polemischerweise unterstellte. Es gibt aber doch noch Diskussionsbedarf.

Zunächst einmal bin ich mit Deiner "Intention" als Ausgangspunkt sehr einverstanden, dass dies genau der zentrale Gegenstand dessen sein muss, was man Diagnose oder auch irgendwie anders nennen sollte: "Nachzuvollziehen, was reflektierte Professionelle in den höchst unterschiedlichen Handlungssituationen tatsächlich tun." Dass also der Fokus der Bemühungen um Erkenntnis nicht darin liegt, die "wahren", eigentlichen, tiefen etc. Probleme der Klienten und/oder ihres Umfeldes zu entschlüsseln - denn das ist in letzter Konsequenz unmöglich, unrealistisch und vielleicht auch unethisch. Vielmehr dass die Klienten, ihre Probleme und ihre Situation "nur" insoweit verstanden werden müssen, dass jenes "wissen, was wir tun" und wissen, was "uns nützlich macht" auch tatsächlich möglich ist. Hierfür finde ich ebenfalls, und das ist ja auch mein publizierter Ansatz, die richtige Schlüsselfrage: "Wer hat hier eigentlich welches Problem oder welches Anliegen?" So weit, so gut. Aber hier fängt das Problem mit der Diagnose eigentlich erst richtig an. Es stellt sich nämlich dadurch, dass bzw. dann, wenn diese schöne Frage so einfach nicht beantwortbar ist, sondern widersprüchliche Antworten findet, Antworten, in denen ich selbst verstrickt bin, potentiell manipulative oder gewaltgeladene Antworten usw., bis hin zu Antworten, die den Beteiligten gar nicht bewusst sind, aber gleichwohl wirksam. Wenn ich hier einfach sage, wer welches Problem hat, das handele ich aus, ich verzichte auf einen professionell diagnostischen Kommunikationsraum, aus dem die Klienten zunächst einmal ausgeschlossen sind, dann werde ich, so befürchte ich, den altbekannten sozialpädagogischen Fehler machen, gute Absichten mit guten Wirkungen zu verwechseln.

Ich stimme Dir natürlich völlig zu, dass es nicht um Wirkungen geht, die ich als einseitigen kausalen Effekt als Sozialpädagoge erzeugen kann, sondern immer um ein "gemeinsames Produkt der Situationsteilnehmer". Ich bin auch sehr einverstanden damit, die Intention der professionellen Handlung in diesem Bereich als "Assistenz" zu beschreiben. (Ich vermute nicht einmal Viola Harnack-Beck hätte ein Problem damit). Nur um diese Intention in ihrer Wirkung kontrollieren zu können, muss ich ja wiederum diagnostizieren, worin die reale Nützlichkeit meines Beitrages zu dieser Intention besteht, und woran ich merke, ob ich nützlich oder eigentlich überflüssig bin. Die Frage also, die ich vorschlagen würde weiter zu diskutieren ist: Wie ist eine Diagnostik der realen Nützlichkeit professionellen Handelns im Einzelfall (und nicht nur auf der Ebene allgemeiner Prinzipien) möglich? Welche Bedingungen müssen geschaffen werden, dass sie tatsächlich stattfindet?

Zu Deinem Schlussabsatz: "Unrealisierte Möglichkeiten der aktuellen Praxis", "Prinzip prospektiver Dialoge" - das klingt gut, da bin ich dafür. Das ist aber vor allem das, was im Handlungsraum des Klienten passieren sollte und was ich dort nicht herstellen kann. Ob aber Professionelle dafür nützliche Assistenz bereitstellen und ob sie das tun, das ist wieder ein diagnostisches Problem und so schließt sich der Kreis. So weit erstmal -

Mit herzlichen Grüssen, Burkhard Müller

Anwort von Timm Kunstreich an Burkhard Müller vom 06.03.2003

Lieber Burkhard,

vielen Dank für deine Replik vom 12.02.2002. Vielen Dank auch dafür, dass ich unsere Korrespondenz an die KollegInnen schicken kann, die ich gebeten habe, etwas zu unseren Ausgangsthesen zu schreiben. Ich hoffe, dass es diejenigen, die noch zögern etwas zu schreiben, ermutigt, an diesem Diskurs teilzunehmen.

Ich habe den Eindruck, dass wir dabei sind, genau das zu tun, was du Diagnostik und ich Handlungsorientierung nenne. Aber halten wir doch zunächst fest, worin wir augenscheinlich übereinstimmen:

"Es gilt wegzukommen von der Anmaßung, das Soziale könne durch Programme und Maßnahmen sozialpädagogischer Art gemacht werden" (frei nach Niko Diemer). Vielmehrmuss der Ausgangspunkt jeglicher methodischer Reflexion die reale Handlungssituation sein,in der wir selbst verstrickt sind. Es ist also notwendig, "selbstreflexiv die Bedingungen(unseres) eigenen Erkenntnisprozesses" zu rekonstruieren und dafür "geeignete Settings" zuproduzieren, wie du in deinem ersten Brief schreibst.

Dass in einer Sequenz von Handlungssituationen, aus der ja üblicherweise unsere Praxis besteht, etwas für den Adressaten unserer Handlungen Nützliches herauskommt und dass dieses ein gemeinsames Produkt ressourcen-orientierten Handelns ist, auch darüber besteht meines Erachtens Übereinstimmung.

Dass sich ein derartiger Prozess der Erweiterung oder Stabilisierung von Handlungsoptionen mit "Assistenz" kennzeichnen lässt, um deutlich zu machen, dass es um die Öffnung von Alternativen für die Adressaten geht und nicht um unser institutionelles Wohlbefinden (obwohl wir das natürlich auch berücksichtigen müssen), scheint mir ebenfalls klar zu sein.

Ich stimme dir zu, dass dann als zentrale Fragen bleiben: "Wie ist eine Diagnostik der realen Nützlichkeit professionellen Handelns im Einzelfall (...) möglich? Welche Bedingungen müssen geschaffen werden, dass sie tatsächlich stattfindet?" (aus deinem zweiten Brief). Was das Kriterium der (wie auch immer gearteten) "Nützlichkeit" angeht, kann diese eigentlich erst ex post von den Adressaten beurteilt werden. Dass diese gerade in konflikthaften Situationen von anderen Situationsteilnehmern völlig anders beurteilt werden kann, liegt auf der Hand und verweist auf die Notwendigkeit, schon vor einer als "nützlich" erachteten Handlung sich darüber Rechenschaft abzulegen oder Klarheit zu gewinnen, welche Konsequenzen meine Handlung haben wird. Dazu - und da stimme ich dir zu - brauchen wir einen "professionellen diagnostischen Kommunikationsraum, aus dem Klienten zunächst ausgeschlossen sind" (aus deinem zweiten Brief). In diesem professionellen Kommunikationsraum geht es letztlich im Kern um normative Fragen. Die Juristen haben für diese Situation ihre Subsumtionslogik entwickelt. Aus der normativen Setzung "Schulpflicht" deduzieren sie logisch, was zu veranlassen ist, dass ein Kind zur Schule geht und was zu passieren hat, wenn dieses das nicht tut. Diese schlichte Herrschaftsmechanik lehnen wir nicht nur aus professionsethischen Gründen ab, sondern sie funktioniert schlicht und einfach in sozialpädagogischen Settings nicht. Dafür hast du in deinem Buch "Sozialpädagogisches Können" zahlreiche Beispiele geliefert. In diesem professionellen Kommunikationsraum müssen wir vielmehr in Form der kollegialen Beratung Optionen gewinnen, wie wir in einer Situation zukünftig handeln wollen. Es geht also darum, Handlungsorientierungen zu gewinnen. In der großen Komplexität gerade von konfliktreichen Handlungssituationen sind meist mehrere Optionen möglich. Wir müssen uns also für eine entscheiden. Kurt Hekele nennt diese Entscheidung das Gewinnen einer "Zentralorientierung". Sie ist die Begründung für den nächsten Handlungsschritt - und zwar ausdrücklich für den nächsten, denn dann kann die Situation sich schon wieder so weiterentwickelt haben, dass neue Handlungsoptionen notwendig werden und ich meine "Zentralorientierung" überprüfen muss.

Diese Operation nennst du "diagnostisch", denn du sprichst nicht nur vom professionellen Kommunikationsraum, sondern vom "professionell diagnostischen Kommunikationsraum". Neben dem schon grundsätzlich Ausgeführten gegen den Begriff der Diagnose, scheint mir diese Kennzeichnung aber auch noch aus einem weiteren Grunde hier nicht richtig platziert zu sein. In der Diagnose geht es immer - in Anschluss an oder in Verschränkung mit der Anamnese - um eine Rekonstruktion des Vergangenen. Ich gestehe zu, dass eine derartige Rekonstruktion für das Verstehen notwendig ist. Für eine Verständigung als Praxis prospektiver Dialoge ist das allerdings nicht ausreichend. Hier sollte ein eigenes Moment im Vordergrund stehen, ein schöpferisches oder experimentelles, denn ich weiß nie, wie meine Handlung tatsächlich wirken wird. Mir würde also reichen, von Handlungsorientierung oder Zentralorientierung statt Diagnose zu sprechen.

In Analogie zur Soziolinguistik geht es bei der Gewinnung von Zentralorientierungen um die Explikation einer "generativen Grammatik", wobei die Sprachkompetenz dem professionellen Kommunikationsraum entsprechen würde und die Performanz dem Prozess der Verständigung. Genau dafür brauche ich aber in konfliktreichen und komplexen Situationen die professionell abgesicherte normative Entscheidung, sprich die Entscheidung für eine zukünftige Handlung, für eine Zentralorientierung. Ich glaube, dass mit den angedeuteten Handlungskomponenten (nicht: -schritten) Problemsetzung, Verständigung, Assistenz und Handlungs- bzw. Zentralorientierung Grundoperationen einer generativen Methodik entwickelt werden können, deren Inhalt eben prospektive Dialoge und nicht retrospektive Monologe sind (als die mir die in der Praxis dominierenden Konzepte von Diagnose erscheinen). Genauso habe ich deine Arbeiten übrigens immer gelesen.

In diesem Sinne bin ich gespannt auf den nächsten Schritt unserer Verständigung.

Timm Kunstreich

Anwort von Burkhard Müller an Timm Kunstreich vom 18.03.2003

Lieber Timm,

vielen Dank für Deinen Brief vom 06.03.2003. Wir kommen einander näher und insbesondere die Frage nach der grundsätzlichen Notwendigkeit eines Kommunikationsraumes für professionelle Kriterienbildung und Verständigung jenseits der unmittelbaren Klienteninteraktion (ob man hier von "Diagnosen", von "Gewinnen einer Zentralorientierung", von "stellvertretenden Deutungen" oder anders redet, scheint mir erst einmal nicht so wichtig) scheint Übereinstimmung zu herrschen. Es gibt aber trotzdem aus meiner Sicht noch einige zu klärende Punkte. Ich will mich auf drei aus Deinem Brief beschränken.

1.

Du schreibst "es gilt wegzukommen von der Anmaßung, das Soziale könne durch Programme und Maßnahmen sozialpädagogischer Art gemacht werden". Ich kann dem nur zur Hälfte zustimmen. Wenn damit gemeint ist, dass die in den 70er Jahren formulierte Position Niklas Luhmanns nicht haltbar ist, dass sich die modernisierte Form der Herstellung des Sozialen auf die Entwicklung und Ausführung sozialstaatlicher Konditionalprogramme beschränkt, die "Kunst des Helfens" zur bloßen Restkategorie des Ausbügelns von Planungsfehlern erklärt wird - dann stimme ich zu. Davon müssen wir wegkommen. Aber das kann doch nicht heißen, das Kind mit dem Bade auszuschütten und Programme und Maßnahmen, Planungs- und Budgetstrategien den Bürokraten zu überlassen und die sozialarbeiterische Fachlichkeit als dafür unzuständig zu erklären. Dies müsste ja in den puren Individualismus einer nur noch kasuistisch denkenden Sozialen Arbeit münden und kann mit einem sozialpolitischen Verständnis ihres Auftrages nicht vereinbar sein. Ich kann mir also nicht ganz vorstellen, dass Du das wirklich im Ernst vertrittst.

2.

Wie kann eine "Diagnostik der realen Nützlichkeit professionellen Handelns im Einzelfall" möglich werden. Du schreibst dazu, das "Kriterium (wie auch immer gearteten) Nützlichkeit' könne eigentlich erst ex post von den Adressaten beurteilt werden. Auch diese Antwort scheint mir nicht falsch, aber zu undifferenziert zu sein. Ich habe dazu schon in meinem alten Buch "Last der großen Hoffnungen" in Anlehnung an eine psychoanalytische Denkfigur argumentiert, es gehe um eine doppelte Validierung: Zum einen um die fachliche Begründung und Rechtfertigung im professionellen Kommunikationsraum und dann die Validierung durch die Akzeptanz durch den Klienten. Ohne letztere bleibt in der Tat die Nützlichkeit der Intervention nur hypothetisch und zwar, wie Du zu Recht schreibst, nicht nur aus professionsethischen Gründen, sondern weil ohne die aktive Co-Produktion des Klienten diese Nützlichkeit tatsächlich nicht entsteht. Dies gilt übrigens unabhängig davon, ob die professionelle Reflexion einem subsumptionslogischen Verfahren (wie Du es den Juristen unterstellst) folgt oder eher einem "hermeneutischen" Verfahren der Reflexion auf den Einzelfall (so z.B. die Gegenüberstellung im ersten Band von Mollenhauer und Uhlendorf). Bei beiden Orientierungen müssen Professionelle begründen können, was sie tun oder zu tun vorschlagen und in beiden Fällen kann das Ergebnis "von anderen Situationsteilnehmern völlig anders beurteilt werden". Aber auch Subsumptionslogik hat erstmal mit "Herrschaftsmechanik" oder "Expertenherrschaft" wenig zu tun. Diese entstünde erst dann, wenn dem Klienten ein Recht auf eine andere Sicht der Dinge grundsätzlich abgesprochen würde.

Ob nun Hekeles Begriff der "Zentralorientierung" an dieser Stelle weiterhilft, da bin ich nicht sicher. Zum einen scheint es mir nicht so sehr um die Begründung eines nächsten Handlungsschrittes zu gehen, denn vielleicht ist es für diesen, wenn man die Begründung gefunden hat, schon zu spät. Es geht eher darum, eine auch vom Klienten unabhängige Sicht der Handlungschancen zu gewinnen und diese neben die Sicht des Klienten zu stellen, ohne diese manipulativ oder gewaltsam damit zu identifizieren. Nur dann ist das möglich, was in der professionsethischen Diskussion "informierter Konsens" genannt wird. Es scheint mir aber sinnvoller, das, was Hekele mit "Zentralorientierung" meint, eher mit Körner als Formulierung einer "exzentrischen Position" zu bezeichnen. Nämlich die Formulierung eines Begründungszusammenhangs, der mir nicht die Antwort darauf gibt, was ich als nächstes tun soll, wohl aber ein Referenzsystem für die Beurteilung meiner Schritte zur Verfügung stellt, also so etwas wie eine systematische Selbstreflexion (die oft erst im Nachhinein möglich ist) praktisch umsetzbar macht. Der jeweils nächste Handlungsschritt ist demgegenüber eigentlich immer ein Stück weit ein Schritt ins Ungewisse, allein schon deswegen, weil er seine endgültige Validierung erst im Nachhinein, nämlich in der Aufnahme durch den Klienten und in dessen Handeln bekommt. In jedem Fall scheint es mir wichtig, die Reflexion auf Handlungsmöglichkeiten als einen Außenstandpunkt sowohl gegenüber den eigenen Handlungen und ihren möglichen Wirkungen als auch gegenüber dem Handeln des Klienten zu betrachten. Denn die Diagnose - oder wie immer man es nennt - hebt ja nicht die eigene praktische Verstricktheit in den Handlungszusammenhang des Klienten einfach auf (wie das beim technologischen Expertenmodell unterstellt wird), sondern macht dies Beteiligtsein nur ein Stück weit kontrollierbar und mit entsprechendem Können auch steuerbar.

3.

Ich möchte zum Schluss doch noch einmal dafür plädieren, den Begriff der Diagnose und auch der Anamnese nicht fallen zu lassen, sondern neu zu bestimmen. Ich bin überhaupt nicht Deiner Auffassung, bei Diagnose und Anamnese gehe es immer nur "um eine Rekonstruktion des Vergangenen". Das trifft nicht einmal dort zu, wo es üblicherweise laienhaft unterstellt wird, nämlich z.B. bei psychoanalytischen Deutungen. Hier geht es eher um die gegenwärtige szenische Präsenz lebensgeschichtlich früher geprägter Beziehungsmuster. Ich sehe aber überhaupt nicht ein, wieso es illegitim sein soll, den Diagnosebegriff in klassisch-kasuistischer Tradition Sozialer Arbeit übrigens eher auf gegenwärtige Situationen und "Konstellationswirkungen" (Wronski) und vor allem auch hinsichtlich der Erkundung prospektiver Handlungsmöglichkeiten anzuwenden. Ich habe in meinem "Sozialpädagogischen Können" ja auch vorgeschlagen, den Begriff der Anamnese entsprechend umzudeuten und dies nicht einfach willkürlich. Denn die Funktion der Anamnese im klinischen Bereich ist ja nichts anderes als erstmal den Blick auf außerklinische Fragen zu richten, also das zu tun, was in der Hermeneutik "unwahrscheinliche Lesarten" oder "vergessene Zusammenhänge" heißt. Dies mag für den Arzt die biographische Vorgeschichte eines klinischen Symptoms sein, die in ansonsten nichts angeht. Für Sozialpädagogen mögen dies unbeachtete Nebenumstände, unentdeckte Ressourcen im Lebenszusammenhang des Klienten, verdeckte Stärken etc. sein. Der Kernpunkt ist nur die Blickerweiterung jenseits eingefahrener Betrachtungsweisen von Fällen. Eben deshalb nannte ich den Vorgang "aufmerksamer Umgang mit Nicht-Wissen" und verwies auf den griechischen Ursprung des Wortes Anamnese, das wörtlich übersetzt Nicht-Nicht-Erinnerung heißt. Die Differenz zwischen einer anamnestischen und einer diagnostischen Reflexion scheint mir also wichtig, gerade weil nur die erstgenannte den weiteren Handlungshorizont (und natürlich auch die Fallgeschichte) im Blick haben kann, während diagnostische Prozesse in der Tat immer mehr mit dem jeweils nächsten Schritt und seiner Überprüfbarkeit zu tun haben.

Im Übrigen bin ich mit Dir einig, dass eine "generative Methodik" sozialpädagogischen Handelns sich nicht so sehr in einer Reihenfolge von Handlungsschritten, sondern in auch zeitlich miteinander verschränkten Handlungskomponenten artikulieren sollte. In diesem Sinn habe ich ja auch die Begriffe Anamnese, Diagnose, Intervention, Evaluation zu interpretieren versucht. In diesem Sinn wären meine bevorzugten Handlungskomponenten immer noch: Anamnese als systematische Bemühung um Horizonterweiterung - Wahrnehmung von Bedingungszusammenhängen auch jenseits dessen, was ich handelnd beeinflussen kann und Wahrnehmung von Lebenswelten jenseits dessen, was ich mir verstehend erschließen kann. Diagnose als Dreiecksbewegung zwischen meiner Wahrnehmung der Lebenslagen und Selbstdeutungen des Klienten, meiner Wahrnehmung der Reaktion darauf, einschließlich der eigenen schon gegebenen Antworten und "stellvertretenden Deutungen" und schließlich der beurteilenden Einordnung in fachsystematische Zusammenhänge im Sinn der Entwicklung einer exzentrischen Position. Sodann Intervention als Prozess der Assistenz im Sinn des zum Gebrauch zur Verfügung-Stellens, Daneben-Stellens, und zwar nicht nur von materiellen Gütern und andererseits als Prozess der Verständigung oder auch des Verhandelns und Aushandelns von vertretbaren Kompromissen. Da all dies nur selbstreflektive Praxis vorstellbar ist, wäre Evaluation darin immer eingeschlossen. Als besondere Aufgabe hätte sie aber insbesondere die Reflexion der Rahmenbedingungen und deren Verbesserung im Auge zu haben.

Soweit erst einmal. Du siehst, wir haben schon noch einiges zu besprechen.

Mit herzlichen Grüßen Burkhard Müller

Anwort von Maja Heiner an Timm Kunstreich vom 07.03.2003

Lieber Timm,

dass die Redaktion der Widersprüche ein "Methodenheft" plant und Du Dich dabei so engagierst, freut mich, das ist ja geradezu überfällig und bei dieser Zeitschrift sicher kein Ausdruck einer "neopragmatischen Wende".

Wie Dein Beitrag und Burkhards Replik zeigen, kann man beim Thema "Diagnostik" so richtig grundsätzlich werden: von der Stigmatisierung, über die Herrschaft der Experten bis zu grundsätzlichen Fragen der Erkenntnistheorie, so dass Burkhard bei Dir sogar einen "agnostischen Unterton" vermutet. Es geht also sozusagen ums Ganze: was wollen wir, was dürfen wir, was können wir? Dabei sind "Wir" ja nicht einmal wir selber sondern die Fachkräfte der Sozialen Arbeit, über deren Rolle "wir" uns hier stellvertretend den Kopf zerbrechen. Ich hoffe von daher, dass Du auch VertreterInnen aus der Praxis für dieses Streitgespräch gewinnen kannst. Dabei will Ich Dir auch gerne behilflich sein.

Wenn ich zunächst für mich als Theoretikerin, Ausbilderin und Praxisberaterin spreche, dann wünsche ich mir, dass die Soziale Arbeit als Profession in der Tat ihre eigene Sichtweise und Sprache (weiter) ausbildet, um selbstreflexiv ihr eigenes Tun zu analysieren, und nicht zuletzt um - gerade bei der Diagnostik - der Versuchung zu widerstehen, immer schon verstanden zu haben, anstatt sich zu verständigen. So weit sind wir drei uns wohl einig. Warum aber halte ich dann am "medizinischen" Begriff der Diagnostik fest? Nur um an der Aura der Weißkittel oder auch dem Statusvorteil der Therapeuten zu partizipieren, wie Du unterstellst? Das wäre in der Tat eher ein identitätsgefährdendes Motiv, das auf wenig Selbstbewusstsein verweist und die Kraft zur Selbstkritik tendenziell schon gefährdet. Aber "Diagnostik" ist kein so eindeutig "medizinischer" oder "therapeutischer" Begriff. Schon die Tatsache, dass meine Autowerkstatt mir anbietet eine "Diagnose" meines Motors zu erstellen, deutet darauf hin. Das könnte allerdings auch als Beleg dafür gelten, dass es sich um einen naturwissenschaftlich-technischen Begriff handelt, der eine Objektivität und Präzision suggeriert, die bei meinem Automotor angemessen sein mag, bei sozialen und psychischen Tatbeständen aber so nicht gegeben ist. Die Entwicklung der Diagnostik in der Psychologie (vgl. z.B. Bartling u.a.) zeigt jedoch, dass auch dies keineswegs das einzige Diagnostikverständnis ist. Also frage ich daher umgekehrt, warum hast Du diese Berührungsängste? Weil es Leute gibt, die die neuere Literatur zu "Diagnostik" nicht kennen und einen naiven, engen, medizinisch-naturwissenschaftlichen Diagnostikbegriff besitzen. Alternative Begriffe wie "Fallverstehen" sind meiner Meinung nach für die soziale Arbeit keineswegs besser geeignet. Der "Fall" lässt (wieder im naiven Wortverständnis) den sozialen Kontext zu stark zurücktreten und ist tendenziell ein individualisierender Begriff, wenn man die Fachdiskussion nicht verfolgt hat. Wer nix gelesen hat, ist also in beiden Fällen nicht gegen falsche Assoziationen gefeit.

Entscheidend für die Abneigung ist aber wohl auch die grundlegende Frage ob man "Professionalität" für denkbar hält, ohne von einer "höherwertigen Wissensdomäne" auszugehen. Definitionsgemäß geht das allerdings nicht. Professionen sind eben durch diese Wissensdomäne in Abgrenzung zum Laien (und damit auch zum Klienten) gekennzeichnet. Und da scheint mir der entscheidende Unterschied unserer Positionen zu liegen. Entweder der Professionelle weiß mehr und kann mehr und ist bereit, daraus auch Schlussfolgerungen zu ziehen, die der Klient nach langen Bemühungen der Fachkraft um Verständigung nur partiell oder auch gar nicht verstehen, geschweige denn akzeptieren kann - oder er dankt ab! Sei es, weil er als Fachkraft tatsächlich über keinen Kompetenzvorsprung verfügt, oder sei es weil er es für ethisch nicht gerechtfertigt hält, seine Erkenntnisse und seine Machtposition auch dafür zu nutzen, gegen den Willen der KlientInnen in dessen (horribile dictu) "wohlverstandenem Interesse" zu handeln. (Jetzt wäre eigentlich gleich noch ein Exkurs zur advokatonischen Ethik fällig! Aber dazu vielleicht ein andermal.)

Zunächst frage ich mich, sind dies wirklich die Alternativen? In dieser überspitzten Gegenüberstellung von Experte und Laie klingt ein manichäischer Unterton an, den ich bei Dir noch eher zu hören glaube als den agnostischen. Manichäisch oder zebraisch, schön schwarz oder weiß, so als wenn nur eine (gute) oder eine andere (schlechte) Lösung zur Wahl stünde und so als gäbe es in der Sozialen Arbeit noch immer nur Paradoxien, als wären es keine Dilemmata, die man in (allerdings nicht gerade übersichtlich und gemütlichen) Grauzonen bearbeiten kann, ohne sich ganz für das Eine oder das Andere zu entscheiden. Oder anders ausgedrückt: so als gäbe es nur Hilfe oder Kontrolle und als sei "hilfreiche Kontrolle" eine anmaßende Selbsttäuschung herrschaftslüsterner Experten.

Du siehst, bzw. Du hörst, lieber Timm, auch ich höre beim Lesen zwischen den Zeilen eine bestimmte, altbekannte Melodie: die von den unversöhnbahren Gegensätzen zwischen denen man wählen muss. Vielleicht höre ich auch nur das Gras wachsen. Deswegen schreibe ich Dir ja. Zunächst scheint mir, dass es selbst durch den gemeinsamen Rekurs auf ein dialogisches Konzept von Verständigung offenbar noch immer nicht gelingt, sich auch darüber zu verständigen, ob und wann Verständigung als gleichberechtigter Dialog aufhören muss und die Ausübung von Macht notwendig ist - allerdings eine begrenzte Machtausübung, sowohl zeitlich und inhaltlich kontrolliert (auch von außen), als auch reflektiert (und das nicht nur im stillen Kämmerlein). Ich meine, dass diese Asymmetrie, diese Machtausübung nötig sein kann, nicht zuletzt um Ausgrenzungsprozesse zu verhindern. Der Verzicht auf Machtausübung ist nicht per se "klientenfreundlich", ebenso wenig wie eine Problemanalyse/Diagnose per se schon eine Stigmatisierung darstellt, weil sie auf Tatbestände verweist, die vielleicht nicht nur aus Sicht der KlientInnen oder ihrer Kinder oder Lebensgefährten negativ beurteilt werden, sondern auch aus Sicht "der Gesellschaft" - wer immer das ist. Da sich die Repräsentanten der Gesellschaft einschließlich der Institutionen sozialer Kontrolle gar nicht immer so einig sind, wären vor allem die Spielräume und Konsequenzen der unterschiedlichen Diagnostiken in unterschiedlichsten Handlungsfeldern genau zu klären, anstatt sie pauschal zu diskreditieren.

Und da würde ich gerne den Gedanken von Burkhard Müller aufgreifen und mich auch dafür stark machen, dass wir als WissenschaftlerInnen, Aus- und FortbilderInnen genauer analysieren, was es neben Wissen, Verfahren und Techniken an "settings" braucht, um die Selbstreflexivität der Fachkräfte zu fördern und ein dialogisches Klima (z.B. im Hilfeplangespräch) entstehen zu lassen. Denn wenn es wahr wäre, wie Du meinst, dass wir so gar keine Fortschritte erzielt haben in den letzten 20 Jahren Aus- und Fortbildung, dass die Fachkräfte auch heute noch genauso wenig ressourcenorientiert denken und so wenig aushandlungsorientiert vorgehen wie damals, dann wäre das ja kein Argument gegen die Bemühungen um Diagnostik und eine eigene, sozialpädagogische Ausdeutung vorhandener (psychologischer, soziologischer, medizinischer etc.) Begrifflichkeiten in emanzipativer Absicht, wie sie z.B. Burkhard entwickelt hat. Wir hätten vor allem wirklich Grund uns zu fragen, warum Aus- und Fortbildung es nicht geschafft haben, diese Tendenz zur einseitigen, eindimensionalen, unsachgemäßen (z.B. wenig empirisch fundierten) Deutung zu verringern, obwohl die Kompetenz der nicht stigmatisierenden, "stellvertretenden Deutung" in der sozialen Arbeit schon seit langem als unterentwickelt eingeschätzt worden ist. Liegt es am Mangel an Wissen? Oder an der Angst vor Verantwortung? Oder an der Lust über andere Menschen zu bestimmen? Oder an zu viel Bürokratie und zu wenig Zeit für klärende Gespräche? Oder; oder, oder....? Die Anmaßung eines Deutungsmonopols ohne Bemühung um Verständigung ist in jedem Falle unprofessionell. Da sind wir uns sicher wieder einig. Aber die Übernahme der Verantwortung für fachliche, notwendige Entscheidungen, also die Bereitschaft, die Entscheidungskompetenz (Kompetenz im doppelten Wortsinn) der Fachkräfte auch handelnd umzusetzen, und entsprechend zu bestimmen, welche von den unterschiedlichen Deutungen der Beteiligten wann zu welchen praktischen Konsequenzen führen soll, wird der Fachkraft nicht erspart bleiben. Egal ob sie sich für oder gegen die Deutung der KlientInnen entscheidet, sie muss entscheiden, und sie wird entscheiden. Und sei es indem sie nicht entscheidet, sich damit also entscheidet, es einfach laufen zu lassen. Für die Qualität der Entscheidungen von Fachkräften ist eine institutionalisierte Reflexionskultur möglicherweise bedeutsamer als jede diagnostische Methode - auch wenn unterschiedliche Methoden natürlich gute Absichten mehr oder weniger fördern können. Deswegen müssen wir uns über die Settings und die institutionellen Rahmenbedingungen der Diagnostik Gedanken machen. Und dazu wird ja auch geforscht und fortgebildet (z.B. von Ader/Schrapper). Es scheint mir besonders dringend und fruchtbar, über die Formen (und Grenzen) institutionalisierter Reflexionskultur genauer nachzudenken - nicht zuletzt vor dem Hintergrund meines gerade abgeschlossenen Forschungsprojektes zum beruflichen Selbstverständnis und den damit verknüpften Handlungsmodellen in der Sozialen Arbeit.

Ich verstehe "Diagnostik" als eine systematische Form der Verständigung aller Beteiligten darüber, wie sie die Ausgangslage interpretieren und welche Zukunft sie sich vorstellen können. Die Fachkraft aber muss am Ende auch eine eigene, begründete Einschätzung besitzen, was denn in diesem Falle, (sprich: derzeitig!), der Fall ist und, nicht nur als ein Fall "mit", und ein Fall "für", sondern auch als ein Fall "von", um in der Terminologie von Burkhard Müller zu reden.

Das scheint mir dringend notwendig, wenn man nicht nur gute Absichten vor sich hertragen möchte, für deren Realisierung dann die Voraussetzungen fehlen.

Gerade in Zeiten der Knappheit wird Reflexivität leicht als ein Luxusartikel angesehen. Reflexivität sollte allerdings auch nicht nur als Nachdenken auf der Basis ungeprüfter Informationen praktiziert werden, nach dem Motto: Nachdenken an sich ist schon gut und noch mehr Nachdenken ist noch besser, Hauptsache ich bin bereit meine Prämisse zu überprüfen. Das reicht nicht! Ein auf der Basis zufälliger Informationen entstandenes und nicht systematisch aufbereitetes Fallverstehen lässt sich politisch leichter aushebeln und z.B. als wohlmeinende aber wenig fundierte Parteinahme und Solidaritätsbekundung abtun. Zur Verbesserung der Lebenslage und der Lebensbewältigungskapazitäten der Klientel kann eine systematische, empirisch solide, mehrperspektivische, mehrdimensionale, partizipative und selbstreflexive Diagnostik sehr viel mehr beitragen, gerade auch weil sie nachprüfbar ist.

Der von Dir vermutete Zusammenhang zum Qualitätsmanagement ist insofern in der Tat gegeben. Aber das schreckt mich nicht. Wer den externen Steuerungs- und Definitionsversuchen von Bedürfnissen, Bedürftigkeiten und Leistungsansprüchen etwas entgegensetzen möchte, sollte sich meines Erachtens der Schwachstelle "Diagnostik" in der sozialpädagogischen Fachlichkeit bewusst sein, sonst definieren andere den Bedarf - nach ihren Relevanzkriterien. Mancherorts entscheidet ja jetzt schon der Landrat über die Heimeinweisungen. Die Soziale Arbeit hat sich in der Qualitätsdebatte nicht immer glorreich geschlagen. Zu lange hat sie behauptet, ihr Tun lasse sich weder beurteilen noch messen, so einzigartig sei jedes Problem und jede ihrer Handlungen. Selbst das Ansinnen, die Qualität der eigenen Arbeit nach eigenen Kriterien wenn nicht zu quantifizieren so doch zumindest zu definieren, wurde zunächst als "Technologisierung" Sozialer Arbeit abgelehnt. Ich denke diesen Fehler sollten wir nicht wiederholen, sondern uns ganz einfach fragen, was wir über die KlientInnen, ihre Fähigkeiten, Bedürfnisse und Entwicklungen wissen müssen und was wir nicht wissen müssen oder wissen können und wie wir zu fundierten, verantwortbaren Einschätzungen gelangen können, um begründet die Entscheidungen treffen zu können, die getroffen werden müssen (z.B. im Rahmen der Hilfeplanung). Sonst könnten die Fachkräfte die Problemanalysen der KlientInnen (nach einigen Versuchen hilfreicher Klärung) ja auch einfach übernehmen. Ich fürchte, dann würden bald andere die Entscheidung treffen. Nur wenn man glaubt, diese anderen Personen (wer immer das dann sein würde) könnten es besser, kann man für eine Abdankung der Sozialen Arbeit in dieser zentralen Frage der Urteilsbildung plädieren. Ob man es nun "Diagnostik" tauft oder anders benennt. Es geht darum, gut informierte und reflektierte Entscheidungen über den besten Umgang mit den KlientInnen auf der Grundlage einer Einschätzung ihrer Ausgangslage, ihrer Potentiale und des Hilfesystems zu treffen. Sollen andere diese manchmal unangenehme Aufgabe übernehmen, damit das menschenfreundliche Gewissen dieses Berufes nicht belastet wird? Will man nur denen helfen, mit denen man sich der Einschätzung der Ausgangslage und der notwendigen Veränderungen einig ist?

Lieber Timm, ich glaube jetzt habe ich mich doch etwas in Rage geschrieben. Aber solche Kontroversen können ja auch zur Klarheit beitragen. Insofern bin ich auf Deine Antwort und andere Diskussionsbeiträge gespannt.

Herzliche Grüße, Deine Maja

Anwort von Timm Kunstreich an Maja Heiner vom 14.03.2003

Liebe Maja,

vielen Dank für Deinen ausführlichen Brief vom 07. März. Ich freue mich, dass Du Dich in die Korrespondenz zwischen Burkhard Müller und mir einschaltest. Auch Dich bitte ich, dass ich Deinen Brief an die anderen MitautorInnen des Heftes schicken kann. Ich hoffe, dass dann einige noch Lust bekommen, in dieser Form mitzudiskutieren.

Zunächst musste ich doch etwas schmunzeln, dass Du mich (in den Ausgangsthesen) als jemanden empfindest, der aus dem Dualismus von Finsternis und Licht bzw. Schwarz und Weiß Berührungsängste mit der doch sehr viel differenzierteren Realität entwickelt hat. Lese ich da zwischen den Zeilen so etwas wie eine Verteidigungshaltung? Darüber möchte ich mit Dir bei Gelegenheit noch einmal sprechen.

In der Sache selbst stimme ich Dir entweder zu oder doch darin überein, was Du als Problem formulierst. Beginnen möchte ich mit einer kleinen Textvariante (aus dem letzten Drittel Deines Schreibens):

"Ich verstehe prospektiven Dialog als eine systematische Form der Verständigung aller Beteiligten darüber, wie sie die Ausgangslage interpretieren und welche Zukunft sie sich vorstellen können. Die Fachkraft muss aber am Ende auch eine eigene, begründete Einschätzung besitzen, was denn in diesem Falle (sprich: derzeitig!) der Fall ist und nicht nur als ein Fall "mit", und ein Fall "für", sondern auch als ein Fall "von", ..." - sie muss also eine klare Handlungsorientierung besitzen. (In Deinem Schreiben steht statt prospektiver Dialog Diagnostik.) Die Handlungsorientierung (auf den jeweils nächsten Schritt) muss deshalb eindeutig sein, da ich nur eindeutig handeln kann. Handeln ist im Unterschied zum Verstehen und Nachdenken, das komplex, widersprüchlich, abwägend nicht nur sein kann, sondern muss, immer "positiv". Das heißt ich setze mit meiner Handlung einen (natürlich von allen Beteiligten immer unterschiedlich interpretierbaren) Fakt in die Welt, der auf seine Entstehungsbedingungen zurückwirkt. Genau aus diesem Grund verstehen wir - glaube ich gemeinsam - Fall nicht als den berühmten Einzelfall sondern als die Handlungssituation, die uns zum Handeln auffordert. Dass diese Situation im ASD bei der Bewilligung von HzE anders aussieht als in der offenen Jugendarbeit, in der Cliquenarbeit oder in der Kita, liegt auf der Hand, stellt uns aber vor die Frage, was aus professioneller Sicht das Gleiche bzw. das Identische in diesen Handlungssituationen ist, das eine begründete und begründbare Handlungsaufforderung enthält.

Handlungslogisch teile ich also das, was Du Diagnose nennst, in zwei Schritte auf. Im "prospektiven Dialog" geht es auch darum, eine Entscheidung in der Frage zu fällen, wer denn welches Problem womit hat. Da es sich in unserem Metier meist um konfliktreiche, zumindest aber doch immer komplexe Situationen handelt, ist es zum Verstehen derartiger Situationen hilfreich und notwendig, über wissenschaftlich begründetes Wissen zu verfügen. Das erleichtert das Verstehen, gibt aber noch keine Sicherheit für den nächsten Handlungsschritt.

"Für die Qualität der Entscheidungen von Fachkräften ist eine institutionelle Reflexionskultur möglicherweise bedeutsamer als jede diagnostische Methode - auch wenn unterschiedliche Methoden natürlich gute Absichten mehr oder weniger fördern können." (Dieser Satz findet sich etwas vor dem obigen Zitat aus Deinem Schreiben).

Dem stimme ich ebenso zu, wie Burkhard Müller das tut, wenn er in diesem Zusammenhang einen "professionellen Reflexionsraum" fordert. Eben weil aber "die Fachkraft ... am Ende auch eine eigene begründete Einschätzung" für zukünftiges Handeln besitzen muss (s.o.), muss sie diese im "prospektiven Dialog" vor allem in kollegialer Beratung erarbeiten. Im Unterschied dazu hat Diagnose immer etwas von einem "retrospektiven Monolog".

Und noch ein Weiteres wird aus dieser Überlegung deutlich: Diagnose macht - sonst ergibt der Begriff keinen Sinn - immer Annahmen über den Gegenüber, dessen Situation und Geschichte und legitimiert von daher das eigene Handeln. "Handlungsorientierung" hingegen ist eine Reflexion über mein eigenes Handeln vor dem jeweils gegebenen institutionellen Hintergrund, den mir zur Verfügung stehenden Ressourcen, aber auch unter den Zwängen, denen ich unterliege. Hieraus folgt eine weitere wichtige Schlussfolgerung: In der Diagnose kann letztlich nur der Klient scheitern, in der Handlungsorientierung nur die Fachkraft. Diese "Handlungsentlastung" der Diagnose scheint mir untergründig immer mitzuspielen.

Jetzt wirst Du sicherlich einwenden: Und was ist in Situationen, in denen du gegen den Willen des Klienten, aber zu "seinem Besten" eine Entscheidung treffen musst, also intervenieren musst. Meine Antwort: Zum einen ist es mit dem Konzept prospektiver Dialoge verbunden, von konflikthaften Situationen auszugehen, zum anderen spielt hier natürlich die Frage von Macht und Gewalt eine zentrale Rolle. In Anschluss an Hannah Arendt würde ich hier aber eine andere Interpretation vorziehen. Wie ich finde, weist Hannah Arendt plausibel nach, dass Macht die Fähigkeit ist, mit anderen zusammen etwas zu "machen", Gewalt aber das Gegenteil von Macht ist, also aus der Ohnmacht resultiert, mit anderen nichts bewegen oder die anderen nicht bewegen zu können. In diesem Sinne ist jede Intervention gegen den Willen eines Klienten Gewalt und nicht Macht. Alle mir vorstellbaren Situationen, in denen eine derartige Anwendung des staatlichen Gewaltmonopols durch uns Fachkräfte exekutiert wird, resultieren aus der Machtlosigkeit, in der Eskalation derartiger Gewaltgeschehen nicht schon früher Alternativen gefunden zu haben. Hier weist die Frage von Macht und Gewalt zurück auf meine Eingebundenheit als professionelle Fachkraft in ein hegemoniales Geflecht von Institutionen.

Diese Überlegung leitet über zu dem - wie Du mit Recht feststellst - zentralen Dissenspunkt: Ist professionelles Wissen höherwertiges Wissen? Vielleicht liegt hier auch nur ein Missverständnis vor. Deshalb will ich die Überlegung, weshalb wissenschaftliches, das professionelle Handeln begründende Wissen keine "höherwertige Wissensdomäne" ist, etwas ausführen. Der Astrophysiker, der mir den Weltraum erklärt (von dem ich nichts verstehe) verfügt - was sein Spezialgebiet angeht - sicher über ein im Verhältnis zu meinem Nichtwissen höherwertiges Wissen, denn er kann die Phänomene des Weltraumes in einer Weise deuten, die mir nicht zugänglich ist. Aber ist der Astrophysiker in der gleichen Weise in der Lage, Alltagskonflikte mit seiner Tochter oder anderen Jugendlichen zu regulieren? Ganz sicher nicht. Das ist aber der springende Punkt: Mit den Adressaten unserer Arbeit teilen wir Wissen über dieselbe Situation. Die Überlebensstrategie eines Bahnhofkids ist sicherlich eine eigene Wissensdomäne, genau wie meine, wenn ich am Bahnhof als Streetworker arbeite. Nur: meine Wissensdomäne ist anders. In der konkreten Interaktionssituation, im "prospektiven Dialog" sind unsere Deutungsmuster und die damit verbundenen Wissensdomänen jedoch gleichrangig und gleichwertig. Um diese prinzipielle Gleichwertigkeit, aber Andersartigkeit zu verdeutlichen entwirft Wittgenstein das Bild einer Stadt mit vielen Vierteln. Jedem Viertel entspricht eine Wissensdomäne, die sich in einer besonderen Sprachkompetenz ausdrückt. So wie es aber in jeder Stadt "gute" und "schlechte" Viertel gibt, gibt es auch in den Wissensdomänen anerkannte und solche die in der herrschaftlichen Strukturierung der Gesellschaft weniger oder sogar keine Bedeutung haben. Die Dimension einer herrschaftlichen Verortung ändert aber nichts an der prinzipiellen Gleichwertigkeit in der Situation des Dialoges Gleichberechtigter, aber Ungleicher.

Gelingende prospektive Dialoge sind deshalb vielleicht auch gar nicht so häufig, denn sie haben zur Vorraussetzung, dass die ungleichen aber gleichberechtigten Dialogpartner ein "gemeinsames Drittes" finden oder doch zumindest etwas, was es den Adressaten ermöglicht, die Ressourcen und Kompetenzen der Fachkraft "in sein System zu integrieren".

Auch wenn Du dieser Gedankenführung inhaltlich nicht zustimmst, wirst Du mir doch zugestehen, dass einem derartigen Verständnis von prospektivem Dialog Begriff und Inhalt jeglicher Form von Diagnose keinen Sinn machen.

Mein praktischer Vorschlag bleibt also: Diagnose durch prospektive Dialoge und die Praxis der Gewinnung von Handlungsorientierungen (oder wie Kurt Hekele sagt: Zentralorientierungen) zu ersetzen. So weit erst mal - ich gespannt auf Deine Replik.

Mit herzlichen Grüßen, Dein Timm

Antwort von Maja Heiner an Timm Kunstreich vom 03.04.2003

Lieber Timm,

Deine Antwort auf meinen Brief hat mich überwiegend zustimmend nicken lassen. So z.B. bei der Aussage, dass die Handlungsorientierung nicht auf den Einzelfall bezogen sein sollte, sondern auf die Handlungssituation und dass es gilt, das Identische von Handlungssituationen herauszufinden. Es gibt viel Gemeinsames - aber auch noch immer Unterschiede, die vielleicht durch diesen Dialog langsam klarer werden.

Du betonst die "Gleichrangigkeit" und "Gleichwertigkeit" der Wissensdomänen von Fachkräften und Adressaten, die sich in der Situation des Dialoges Gleichberechtigter aber Ungleicher begegnen (schöne Formulierung!). Bleibt die Frage: Gleichrangig und gleichwertig in Bezug auf was? Ist ihr Wissen gleichwertig als Erfahrung und Überzeugung von Personen, die wahrgenommen, ernstgenommen werden sollen? Da stimme ich Dir zu. Aber gleichwertig bezogen auf eine Verbesserung der Lage, auf die Lösung von Problemen? Da hoffe ich auf eine größere Expertise der Fachkräfte, die zu fördern unsere Aufgabe ist. Ich halte daher auch die beliebte Formel vom Klienten als "Experten seines Lebens" für unvollständig und von daher potenziell irreführend. Der Klient ist Experte seines Lebens, insofern er seine Wünsche, Träume, Ängste so gut kennt wie niemand sonst und nur er sagen kann: "Dass will ich (sein/werden), das will ich nicht ...". Aber er kann sich natürlich gewaltig irren, was die Einschätzung der Realisierbarkeit dieser Zukunftsvorstellungen angeht und welcher Weg dorthin am erfolgversprechendsten ist. Die von Watzlawick beschriebene Neigung von Menschen als Problemlösung "mehr desselben" zu versuchen (nur mit mehr Energie), obwohl es bisher nicht half, ist nur ein Beispiel für die partielle Blindheit von betroffenen Menschen - nicht nur von KlientInnen.

Und schließlich bleibt die Frage der Begrifflichkeit. Ich verstehe "Diagnostik" weder monologisch, noch lediglich retrospektiv. Aber weil ich auf die Expertise der Fachkraft setze, die ihr (z.B.) stellvertretende Deutungen ermöglicht, die dazu beitragen können, die KlientInnen aus Sackgassen zu befreien, deswegen meine ich, dass bei entscheidungsorientierten Situationsanalysen oder Diagnosen immer beide scheitern können: Der Klient und die Fachkraft. Diagnostik umfasst in meinem Verständnis natürlich auch die Reflektion des Handelns der Fachkraft. Und diese Analyse kann ergeben, dass es die Fachkraft war, die durch ihre Intervention zur Verschlimmbesserung der Situation beigetragen hat. Es muss aber doch auch möglich sein, festzustellen, dass der Klient einer bestimmen Anforderung nicht gewachsen war - und dann nach den Gründen zu suchen. "Mangelnde Motivation" wäre da einer von vielen beliebten Kurzschlüssen, bei denen der Klient den schwarzen Peter zugeschoben bekommt, nur er verlieren kann. "Ungenügende Motivierung" durch die Fachkraft brächte die andere Seite gebührend ins Spiel. Ich kann das alles unter "Diagnostik" fassen, Du nicht.

"Prospektiver Dialog" ist für mich ein sehr treffender Begriff für Phasen des Geschehens, aber eben nur für Phasen. Die besondere Kompetenz, die Expertise der Fachkraft, die im Begriff der Diagnostik stärker zum Ausdruck kommt, ist damit nicht erfasst - und darauf denke ich, sollten wir nicht verzichten.

Mit herzlichen Grüßen, Maja Heiner

Anwort von Marianne Meinhold an Maja Heiner, Timm Kunstreich und Burkhard Müller vom 13.04.2003

Liebe Maja, lieber Timm, lieber Burkhard,

etwas verspätet finde ich Eure spannende Diskussion zur "Diagnose" in meiner Ferienpost. Ich möchte mich nicht an der Debatte beteiligen, aber ein paar kurze Anmerkungen kann ich mir doch nicht verkneifen.

Zunächst habe ich mich sehr gefreut, dass der Begriff "Fallverstehen" endlich kritisch betrachtet, wenn auch noch nicht beiseite geschoben wird.

Schon Anfang der achtziger Jahre schrieb Marianne Gronemeyer: "Verstehen vernichtet".

Aber: An welche Kontexte habt Ihr jeweils gedacht?

Timm's Ausführungen passen optimal zur "Offenen Jugendarbeit"; bei Burkhard's Brief dachte ich an den "Kinderschutz": in diesen Fällen ist ein Kommunikationsraum ohne Klienten lebenswichtig. Und bei den Schuldner- und Insolvenzberatungsstellen kann sich der Klient entscheiden, ob er sich auf eine langwierige, schwierige erfolgversprechenden Verständigung mit den Gläubigern einlassen will oder nicht. (Für diese Beratungsstellen habe ich übrigens soeben den wirtschaftlichen Nutzen errechnet, die sie für das Land Berlin erwirtschaften).

Nun zum Begriff "Verständigung": Vielen Klienten wäre gedient, wenn die Fachkräfte an der Basis begreifen, dass sie sich nicht nur um Verständigung mit dem Klienten bemühen sollten, sondern auch um Verständigung mit den politischen Entscheidern, Trägern und Verwaltungsfachleuten, die die Soziale Arbeit steuern. Ich übernehme nur noch Beratungsaufträge, wenn neben den Fachkräften auch die Verwaltungsebene und mindestens der Jugendhilfe-Ausschuss einbezogen wird. Dann bemühen wir uns, eine Dialogstruktur zu konstruieren als Basis für eine "mehrperspektivische" Verständigung.

Viele gute Einfälle wünscht Euch Marianne Meinhold