Der geschlechterdifferenzierende Blick
1. Grundlage: Geschlechtsspezifischer Lebenszusammenhang
Gemeinwesenarbeit ist wie kaum ein anderes Arbeitsfeld der sozialen Arbeit explizit auf die sozialpolitischen Grundbedingungen des Zusammenlebens bezogen und muß sich daher auch in mehrfacher Hinsicht auf diese beziehen. Sie stehen den Individuen als Handlungsrahmen für subjektive Wünsche und Bewältigungshandeln gegenüber, sind aber gleichzeitig immer auch (teilweise stabilisierte) Konfliktbalancen oder -unbalancen. Diese Konflikte, in denen Subjekte als Handelnde auch (manchmal kaum erkennbar) strukturbildend beteiligt sind, liegen auf verschiedenen Ebenen:
- bestimmte widersprüchliche gesellschaftliche Verhältnisse (Normalitätsstruktur) als geronnene Konflikte, d.h. von der Struktur her fortwährend Hierarchie und verminderte Handlungschancen erzeugend - was aber in der Regel verdeckt bleibt (z.B. kapitalistische Wirtschaftsform als Ausbeutung von Arbeitskraft, z.B. das Geschlechterverhältnis als gesellschaftliches Hierarchieverhältnis);
- Konflikte zwischen verschiedenen Interessenvertretungen (z.B. Parteipolitik, Gegensätze in der Kommunalpolitik, zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen wie etwa Geschäftsinhabern und Verkehrsberuhigern, zwischen lauten Kindern und ruhebedürftigen Alten);
- interaktive Konflikte, d.h. in Handlungssituationen konkret aufbrechende Gegensätze zwischen Personen, die allerdings oft unterlegt sind mit Elementen der strukturellen Konflikte.
Ein solcher konfliktorientierter Interpretationsrahmen von Lebensverhältnissen trägt sowohl in Handlungsansätzen als auch in Strukturbestimmungen bestimmten allgemeinen, die Gesellschaft prägenden Konfliktverhältnissen Rechnung; er stellt also die Einzelsituationen in den Rahmen einer Konfliktstruktur. Das soziale Gefälle ist eines der am häufigsten in diesem Sinne thematisierten Konfliktverhältnisse in der GWA, da sie nicht selten in sozialen Brennpunkten angesiedelt ist, die unter Mehrfachbenachteiligung (Armut) leiden. Weniger konsensfähig scheint bisher der Aspekt des Geschlechterverhältnisses als zentrale Konfliktdimension, die erfordert, Probleme auch auf der Basis der Struktur der geschlechtsspezifischen Zuweisungen und Erwartungen zu interpretieren.
Ich beschränke mich in den hier folgenden Ausführungen auf Erkenntnisse zum weiblichen Lebenszusammenhang, also auf Analysen, die die Geschlechterhierarchie und ihre Folgen vor allem für Frauen und Mädchen herausarbeiten. Allerdings soll an dieser Stelle nachdrücklich darauf verwiesen werden, wie gewinnbringend es wäre, wenn auch im Hinblick auf den männlichen Lebenszusammenhang nach Vereinseitigungen und spezifischen Bewältigungsaufgaben gefragt würde und von hier aus Themen und Zugangsweisen für die Arbeit mit Jungen und Männern entwickelt würden. Zu lange schon wurde "geschlechtsspezifisch" gleichgesetzt mit "besonderen" Anliegen von Mädchen und Frauen, die wiederum als besondere Zusatzaufgabe sowohl für die Forschung als auch für die Praxis erscheinen. Eine solche Reduzierung durch Besonderung aber ist ein Element patriarchalischer Abwehrstrategien gegen ein rückhaltloses Umdenken der gesamten Konstruktionen sozialen Zusammenlebens und in unserem Fall des Strickmusters von Problemdefinitionen und professionellen Interventionen überhaupt. Wenn ich also im folgenden den weiblichen Lebenszusammenhang als Ausgangspunkt nehme und von hier aus Überlegungen zur subjektorientierten sozialen Arbeit entwickle, so geht es mir um die Verallgemeinerung eines geschlechterdifferenzierenden Blicks, der in allen Maßnahmen, in allen Bereichen jeweils fragt, wie sich diese auf Frauen und Mädchen, Jungen und Männer auswirken und vor allem, wie sie dazu beitragen, geschlechtsspezifische Benachteiligungen, Vereinseitigungen und Verletzungen zu verringern.
Zunehmend mehr ist zu hören, daß mit dem Gerede von der Benachteiligung von Frauen und Mädchen Opferpositionen festgeschrieben würden, die in der Realität doch schon lange überholt seien. In der Tat ist im Zuge der vielbeschworenen Individualisierung festzustellen, daß für Frauen mehr Möglichkeiten offenstehen als noch eine Generation zuvor. (1) Allerdings hält die Modernisierung für Frauen doppelte Botschaften bereit: einerseits sind sie "gleich", sie haben sich ebenso als Einzelindividuum in der marktbestimmten Arbeitsgesellschaft zu verorten wie Männer auch. Andererseits sind sie nach wie vor diejenigen, die für den gesamten Reproduktionsbereich zuständig sind, für Kindererziehung, Krankenpflege, das Zusammenhalten familialer Bindungen, kurz: für das soziale Zusammenleben. Doppelte Bewältigungsaufgaben haben das Leben nicht nur befreiter, sondern belastender gemacht. Das heißt, zu den vermehrten Optionen sind für Frauen nur bedingt vermehrte Realisierungsmöglichkeiten getreten. Das Bewußtsein der Teilhabewünsche hat aber neue attraktive Leitbilder produziert, die für Frauen und Mädchen Selbständigkeit, Attraktivität, Berufstätigkeit, Selbstbewußtsein und souveränes Umsetzen ihrer Wünsche vorsehen. Da läßt sich schwerlich klagen über Belastungen, unzureichende Unterstützungen oder Verletzungen, die zu Unsicherheit und Ängsten führen.
Die Widersprüche, die Nichtverträglichkeit dieser Botschaften kann frau zunehmend weniger als öffentliches Problem erkennen und thematisieren, deren Bewältigung gilt als ihre persönliche Aufgabe, die ihr gelingt oder mit der sie scheitert. Öffentlich taucht dieses allenfalls als Frage (und Förderungsbedarf) der Vereinbarkeit von Berufs- und Familienarbeit auf - natürlich als Frauenproblem gedacht (vgl. Bitzan/Hemmerich 1997). Oder es wird dann z.B. in der Jugendhilfe thematisiert, wenn Mütter überfordert sind oder Mädchen, scheinbar orientierungslos, den doppelten Bewältigungsdruck nicht lautlos in sich hineinfressen.
Wir haben Modernisierung beschrieben als Entöffentlichung des geschlechtshierarchischen Widerspruchs, als Individualisierung gesellschaftlicher Widersprüche, die deren Lösung zu einem Privatproblem macht. (vgl. Bitzan 1996, Stauber 1996)
Wenn wir also vom weiblichen Lebenszusammenhang sprechen, so meinen wir damit nicht die konkreten Lebenssituationen jeder einzelnen Frau. Vielmehr benennt dieser Begriff ein typisches Bedingungsgefüge, das als Struktur und als symbolisches System Vorgaben für jedes Frauenleben beinhaltet, d.h. ein System, in dem sich jede Frau zu bewegen hat (wie übrigens Männer auch) und in dem sie ihre eigenen Lösungen finden muß. Zugleich sind Frauen auch Akteurinnen dieses Systems, d.h. durch ihr konkretes Verhalten reproduzieren sie diese Struktur, verändern sie oder brechen aus ihr aus. (2)
Die Verdeckung der beschriebenen Widersprüchlichkeiten dadurch, daß sie als Indivualbelastungen definiert und erlebt werden, bewirkt, daß sie weder von außen noch von Frauen und Mädchen selbst thematisiert werden. Ihre Bewältigung aber ist eine moderne Belastung, die von Frauen in der Regel fraglos übernommen wird, weil sie vor allem "ganz normal" sein wollen. Das aber verlangt gerade, Verunsicherungen, Ängste und Überforderungen zu verdecken. Normalität als Integration in die moderne Welt verlangt, von sich als Geschlechtswesen abzusehen, Bestätigungen da zu suchen, wo das angeblich Allgemeine verortet ist: für Frauen in der Berufswelt ("sie steht ihren Mann"), für Mädchen in der (immer noch männlich symbolisierten) Jugend. Der Sekundärstatus muß überspielt werden. Die öffentliche Frau tritt als "Nichtfrau" in Erscheinung, das Mädchen als "Jugendliche". (vgl. Brückner 1994, Funk 1993). Diese Bemühungen sind Anstrengung. Sie bedeuten, von eigenen Erfahrungen abzusehen, sich an äußeren Bildern zu orientieren und darin "Verortung" zu suchen. Frauen und Mädchen lernen, sich nicht auf sich selbst, auf ihre Wahrnehmungen zu verlassen. Der Selbstbezug ist prekär. Damit ist auch die Bezugnahme auf andere Frauen oder Mädchen unsicher. Es ist funktionaler, weder bei sich selbst noch bei anderen so ganz genau zu merken, was da zurückgehalten wird. Es hat keinen Wert und gibt keinen Wert. Die hier aufgezeigten ambivalenten Leitbilder finden sich wieder im KJHG. Sie finden sich auch - oft unreflektiert - in vielen Jugendhilfe- oder Gemeinwesenarbeitskonzepten wieder. Nicht zuletzt prägen sie auch die Selbstbilder der handelnden Akteurinnen.
Aus diesen hier eher angedeuteten Analysen zum geschlechtshierarchischen Verdeckungszusammenhang der Moderne - so unser Fachbegriff dafür - ergeben sich pädagogische und politische Zielrichtungen: 1. Das Sichtbarmachen weiblicher Erfahrungen und Bewältigungen und 2. diese zur Geltung bringen, ihnen eine gesellschaftliche Relevanz zukommen lassen. In den beiden folgenden Abschnitten werde ich diese Punkte näher erläutern und als Anforderungen an professionelle Fachlichkeit herausstellen. Die Geschlechterhierarchie gewinnt somit für die GWA-Diskussion auch Bedeutung als Analyseinstrument: Wenn ich davon ausgehe, daß sie in allen gesellschaftlichen Bereichen wirkt, so muß ich Erscheinungsformen der alltäglichen Zusammenhänge ebenso wie jegliche GWA-Maßnahmen daraufhin untersuchen, wie hier verdeckende hierarchische Elemente enthalten sind, wie sich jeweils konkret Auswirkungen auf Frauen und Mädchen zeigen etc.. Ich muß also systematisch mit Erscheinungen der Geschlechterhierarchie rechnen. Daraus ergibt sich zwangsläufig die Perspektive, sozialen Raum (z.B. auch Gemeinwesen) als geschlechtsspezifischen Integrations- bzw. Ausschlußfaktor zu analysieren.
2. Geschlechtsdifferenzierende Lebensweltanalysen - Orientierungen und methodische Elemente
Die politische Dimension der hier eingeführten fachlichen Perspektive liegt darin, den allgemeinen Konsens geschlechtsspezifischer Zumutungen (auch) durch sozialpädagogische Arbeit zu durchbrechen. Dies heißt vor allem, der Realität und den Zielgruppen gerechter zu werden. Hierin liegt der Gewinn für die Fachlichkeit: Lebensweltorientierung bedeutet ja, genauer zu werden, mehr zu begreifen von dem Gesamtzusammenhang der Individuen, mit denen wir uns zu befassen haben.
Unabdingbare Voraussetzung einer breit gefaßten Lebensweltorientierung ist eine systematische Lebensweltanalyse. Das bedeutet Analyse von:
- Lebenslage: strukturelle und konkrete sozioökonomische Rahmenbedingungen, Ressourcen;
- Lebensbewältigung: individuelle psychische und physische Ressourcen; Beziehungen; Umgangsweisen, Inszenierungen als subjektive Verarbeitung von Lebenslagen.
Diese Dimensionen beziehen sich auf jedes Individuum, um seine individuelle Lebenswelt zu erkennen (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 57ff.). In gemeinwesenbezogener Arbeit müssen wir diese Dimensionen auch aufs Gemeinwesen beziehen, d.h. eine kollektive Lebensweltanalyse vorantreiben: Auch das Gemeinwesen muß als Möglichkeitsraum interpretiert werden, der geprägt ist von strukturellen Gegebenheiten, von infrastrukturellen Möglichkeiten, sowie von spezifischen normativen Geltungen, Schließungsprozessen, etc., also von spezifisch möglichen akzeptierten Integrationsweisen.
Eine solche Strukturanalyse wirft nun bereits Probleme auf bzw. erfordert erhebliche Differenzierungen und Entscheidungen: Meistens erschöpfen sich die Bestimmungen von Gemeinwesen in äußeren Daten, in strukturellen Kennzeichnungen (Sozialstrukturanalyse), die nicht selten direkt mit einer vermuteten Problemdichte in Zusammenhang gesetzt werden. (3) Sollen jedoch die Handlungs- und Bewältigungsspielräume der Subjekte ausgelotet werden, so kann das nicht ausreichen. Denn es gibt immer verschiedene Bezugspunkte der Definitionen von Gemeinwesen (die häufig nicht explizit benannt werden und daher unter der Hand Dominanz-Wirkungen entfalten): Kategorien der Kommunalverwaltung, Parameter der Einteilungen des Eingriffsbereiches des Jugendamtes, die Spiel- und Mobilitätshorizonte der Kinder (und welcher Kinder?) oder das regionale Einzugsgebiet eines bestimmten Arbeitsmarkts usf.. Solche Bestimmungen werden schon jeweils zu unterschiedlichen "Gemeinwesen" führen, und sie stimmen noch lange nicht mit den subjektiven Orientierungen des Bezugsraumes überein, den die BewohnerInnen jeweils für sich wahrnehmen. Konsequente Lebensweltorientierung würde also die Bezugssysteme der hier lebenden Menschen einbeziehen bzw. sie überhaupt erst herausarbeiten. Das erfordert, klarer zu benennen, von welchen Personen die Rede ist (Kinder, Frauen, Gymnasialjugendliche oder arbeitslose Jungenclique, ...).
Es gibt also verschiedene Gemeinwesen und deren unterschiedlich verwobene Durchdringung. GWA, bzw. jede gemeinwesenorientierte Arbeit, muß sich darüber Rechenschaft ablegen und Entscheidungen treffen, auf welche Gemeinwesen sie sich schwerpunktmäßig beziehen will und welche Bezugsaspekte dabei perspektiveleitend sein sollen. Ich will dies an zwei Beispielen aus meinen eigenen Untersuchungen (vgl. Bitzan/Klöck 1993) erläutern.
Beispiel 1:
Initialzündung für ein Gemeinwesenprojekt ist eine klassische Problemanzeige: ältere männliche Jugendliche fallen mit Gewalttaten auf. Das Projekt befaßt sich mit deren Lebenswelt durch mobile Jugendarbeit und öffentliche Aufklärung über die Situation "der Jugendlichen" im Stadtteil. Ihre Freundinnen leiden unter der Brutalität der Clique, unter kollektiver Abwertung und Mißachtung, aber auch unter der durch die GWA begünstigte Verschiebung der Gewalttaten von der Öffentlichkeit in die Privatsphäre.
Dieses Beispiel zeigt:
- die Lebensweltanalyse anfangs war die der männlichen Jugendlichen (was nicht explizit benannt wurde, sonst wäre schneller nach den Frauen gefragt worden!);
- hinter vordergründiger Problembestimmung (Auffälligkeit in der Öffentlichkeit) zeigte sich ein weiteres Konfliktverhältnis (Gewalt gegen Frauen), welches nicht öffentlich skandalisiert worden war (Wahrnehmungsgrenze, Hierarchie der maßnahmeninduzierenden Problemanzeigen);
- die Existenz einer weiblichen Fachkraft und ihre persönliche Sensibilität ermutigte eine nicht beachtete Zielgruppe zum Kontakt, was eine unterlegene, verdeckte, verschwiegene Perspektive einbrachte.
Die Strategieänderung (Zerschlagung der Clique, Einzelfallarbeit mit jungen Männern, Gruppenarbeit mit den Frauen) brachte den Frauen Entlastung, dem Projekt aber nicht unbedingt mehr Wohlgefallen bei den kommunalpolitischen Männern.
Beispiel 2:
Ein GWA-Projekt begann, weil ein Stadtteil vom ASD als besonders belastet, d.h. mit vielen sogenannten "Multiproblemfamilien" diagnostiziert worden war. Eine Befragung der Eltern zur Situation der Kinder machte deutlich, daß immer Mütter für die Antworten präsent und zuständig waren. Angebote für Erwachsene (Bewohnertreff zur geplanten Renovierung der Wohnhäuser, Inbetriebnahme der Stadtteilwohnung) wurden ebenfalls hauptsächlich von Frauen wahrgenommen. Die Mitarbeiterin behandelte diese Erfahrungen jedoch nicht als Defizit ("nur" die Frauen), sondern begründete hier auch einen frauenspezifischen Arbeits-Ansatz.
Das Beispiel zeigt:
- Methoden der GWA müssen den unterschiedlichen Präsenzzeiten von Frauen und Männern (und Kindern) sowie Zuständigkeitsbereiche Rechnung tragen (was nicht heißt, sie zu bestätigen!);
- in Handlungsangeboten können Bedeutungszusammenhänge sichtbar werden, die zunächst als unspezifische Themen allen zugeordnet wurden;
- geschlechtsspezifische Verhaltens- und Reaktionsweisen werden zum konzeptionellen Ausgangspunkt gemacht. Das setzt voraus, zu bemerken, daß hier geschlechtsunterschiedliche Umgangsweisen vorliegen, und Frauen ernstzunehmen, anstatt sie wieder fürs Ganze zu funktionalisieren.
Beide Beispiele zeigen:
- Genauigkeit in der Wahrnehmung entwickelt notgedrungen geschlechterdifferenzierende Fragestellungen. Die Analysen ergeben gezieltere und adäquatere Handlungsansätze.
- Problemanalysen verschieben sich durch - im Prozeß entstehende - Lebensweltanalysen. Probleme werden nicht mehr Personen zugeordnet als Unfähigkeit etc., sondern sind Faktoren eines komplizierten Wirkungszusammenhangs.
- Üblicherweise werden Familien als kleinste Einheit und Definitionsgröße genommen. Damit werden die unterschiedlichen Bezugssysteme der einzelnen Familienmitglieder verdeckt. (Was müssen sie leisten? Wo halten sie sich auf? Auf welche Ressourcen können sie zurückgreifen? Sind die anderen Familienmitglieder unterstützend oder Energie verbrauchend oder gewalttätig?) (4)
Geschlechtsspezifische Lebensweltanalysen erfordern spezifische Wahrnehmungskompetenzen. Die Fachmenschen müssen ein Wissen von Konfliktverhältnissen erarbeitet und ein Interesse an deren Aufdeckung haben - auch gegen dominante Problembestimmungen und Erwartungen seitens der Träger und der Öffentlichkeit. Sie erfordern darüber hinaus methodische Kenntnisse darüber, wie unter Bedingungen des Verdeckungszusammenhangs "Unerlaubtes", "Unpassendes" ans Tageslicht gebracht werden kann. Wenn wir um den Normalitätsdruck und -wunsch von Frauen und nicht weniger von Mädchen wissen - in Verbindung mit dem prekären Selbstbezug -, dann kann es nicht überraschen, wenn übliche Erhebungsverfahren zunächst nichts anderes als eben diese erwartete Normalität, die Klischees zutage fördern.
Zugang zu anderem Wissen zu erhalten, erfordert:
- eine Atmosphäre und einen Arbeitszusammenhang, der den Adressatinnen Vertrauen und Wertschätzung entgegenbringt,
- die Herstellung eines geschützten Rahmens, der eine Bearbeitung der eigenen Wünsche und Widersprüche erlaubt,
- verschiedene mediale Möglichkeiten (besonders bei Mädchen), die anderes zum "Sprechen" bringen können als die eingeübten Aussagemuster, sowie
- Lebensweltanalysen als gemeinsamen, aktiven Prozeß, der bereits ein methodisches Element des Handlungskonzepts darstellt.
Die Fachkräfte müssen in der Lage sein, Widersprüche und scheinbar nicht Zusammenpassendes wahrzunehmen und als Quellen der Information und des Zugangs zu Verdecktem zu nutzen (vgl. genauer für Verfahren in der Jugendhilfeplanung Bitzan/Funk 1995). (5)
3. Zur Partizipation unter Bedingungen geschlechtshierarchischer Verdeckungen
Es dürfte deutlich geworden sein, daß ich mit dem kategorialen Begriff des "weiblichen Gemeinwesens" keine spezifischen Frauenzusammenhänge an einem bestimmten Ort beschreiben möchte. Allerdings bietet die anvisierte Perspektive bessere Möglichkeiten, auch konkrete Zusammenhänge von Frauen in den Blick nehmen und beschreiben zu können. Das aber kann nur in konkreten Stadtteilen mit konkreten Personen geschehen. Der von mir kritisch gemeinte Begriff bezeichnet vor allem eine Aufmerksamkeitsrichtung, mit der ich der vermeintlichen Allgemeinheit Fragen entgegenhalte, die ein Licht auf das Ausgegrenzte werfen und damit den sozialpädagogischen Problembestimmungs- und Interventionsgebrauch durcheinanderbringen. Das Ziel, Frauenbelange sichtbar zu machen, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ziel, ihnen mehr Geltung zu verschaffen, sie in die Politik hineinzubringen. Gemeinwesenorientierte Ansätze finden dazu eine Chance, indem sie in die Lebenswelten ihrer Adressatinnen hineingehen, genau schauen, was sie vorfinden und von hier aus Politikformen und -inhalte mit den Frauen zusammen bestimmen.
Klassische Politisierungsstrategien in der GWA wollen den Betroffenen ihre Probleme klarmachen und diese dann mit ihnen in die gegebene Politikstruktur einbringen. Öffentlichkeit und Formen der Organisation werden dabei unhinterfragt als wesentliche Medien dieser Politik angesehen. Öffentlichkeit wird in der GWA meist als Frage nach der Mitgliedschaft in Vereinen, der örtlichen Treffpunkte in Stammkneipen, der Präsenz in der lokalen Presse, im Gemeinderat usw. gehandelt. Dies alles sind gerade Orte, in denen Frauen bemerkenswert selten vorkommmen, Orte, die für Frauen eher als Ausschlußorte zu bestimmen sind.
Gehen wir von den geschlechtsspezifischen Lebensweltanalysen aus, sehen wir etwas anderes: Die Orte der Frauenöffentlichkeit und der Frauenbezüge (als kollektive Zusammenhänge) sind v.a. da, wo Frauen arbeiten, also in Haus und Wohnung, im Garten und auf dem Spielplatz. Ihre Themen sind Alltagsbewältigung und Mißachtungserfahrungen, das Durchhalten und Durchbringen ihrer Angehörigen. Gerade in sozialen Brennpunkten, unter Bedingungen von Armut und Strukturschwäche, kommt diesem Zusammenhang unter Frauen größte Bedeutung zu. Wo der gegenseitige Einblick wegen räumlicher Enge sowieso gegeben ist, ist auch Platz für Bezugnahme. Klassische GWA hat sich bis heute gern dieser weiblichen Bezugswelt bedient; sie weiß, daß hier Potentiale für alle möglichen Stadtteilbelange zu finden sind. Meist jedoch geschah dies unreflektiert, nicht selten auch als Vernutzung der Frauen für das Wohl anderer. Es geht übrigens nicht darum, diese Welt zu glorifizieren. Sie ist mit allen Anzeichen einer "Unterkultur" behaftet wie soziale Zusammenhänge in anderen Hierarchieverhältnissen auch (Sklavengesellschaft). (6) Genau dieses aber wahrzunehmen und mit den Betroffenen in den Blick zu nehmen, um sich der eigenen Stärken bewußt zu werden und Abhängigkeiten klären zu können, wäre eine politische Zielrichtung frauen- und mädchenspezifischer GWA.
Wenn lebensweltorientierte soziale Arbeit, insbesondere in der gemeinwesenorientierten Zielrichtung, also den Anspruch ernstnimmt, Subjekte in ihrer Kraft, Soziales zu gestalten und zu bewältigen, zu stärken, so fragt sie anders nach den Artikulations- und Organisationsformen. Selbstverortung und Selbstsicherheit gelten dabei als Vorraussetzung für Artikulation und diese als Voraussetzung für öffentliche und politische Interessenvertretung - ihre Bedingungen sind bereits ein Politikum.
Wir können in den Gemeinwesen also zwei Dimensionen des Ausschlusses bearbeiten: Ausschluß aus den Orten und Gremien der Öffentlichkeit (Politik) und Ausschluß der Themen und Anliegen, der zentralen Lebensbereiche (und vor allem Konflikte) weiblicher Lebenszusammenhänge aus dem Öffentlichen. Wir brauchen also eine kritische Perspektive, die nicht unhinterfragt diese Bühnen der Öffentlichkeit und die dort präsenten Themen als Maßstab anlegt und Problemdefinitionen und politisierende Lösungsansätze hierauf bezieht. In diesem Sinne zielt die Rede vom weiblichen Gemeinwesen also in erster Linie darauf ab, Frauen sichtbar zu machen als Handelnde, Gestaltende, Aktive, die sich um die Lebensbedingungen im Stadtteil kümmern und als Mieterinnen, Nachbarinnen, Ehrenamtliche etc. erkannt und anerkannt werden wollen. Sichtbarmachen heißt, aus der selbstverständlichen Verdeckung herauszuholen, zu benennen und als Relevanzfaktor in alle weiteren Arbeitsschritte einzubeziehen. Es bedeutet, nach subjektiven Bedeutungen zu fragen, nach den sie bestimmenden Konflikten und Widersprüchen und nach den Netzen der Verbindung, nach Formen und Orten des Kontaktes und der Bezugnahme aufeinander. Das heißt, die Perspektive auf die Frage zu richten, welche Lösungen sie finden.
Diese Perspektive ist auch für Mädchen und Frauen selbst keineswegs selbstverständlich und geübt. Der Verdeckungszusammenhang macht nicht halt vor der Eigenwahrnehmung. Ein Fragen von den konkreten praktizierten Lösungen aus öffnet ihnen selbst und anderen den Blick dafür, daß es auch Öffentlichkeiten von Frauen gibt, welche aber normalerweise nicht so bezeichnet werden. Die Bezugssysteme unter Frauen werden manchmal auch als "verschwiegene Öffentlichkeit" bezeichnet. "Öffentlichkeit" wird dabei vielfältiger:
- zwischen Frauen, Mädchen,
- vor den jeweiligen Angehörigen,
- vor dem informellen Gemeinwesen oder
- vor Medien und Politik (vgl. Klaus 1994).
Eine partizipationsorientierte Strategie setzt auf die "ungewöhnlichen" Öffentlichkeiten (vgl. Huber/Knab 1992). Gerade in den Bereichen "Gewalt gegen Frauen" werden gute Erfahrungen mit unüblicher Verständigung gemacht. Hagemann-White sieht in der Inszenierung von Zwischenöfffentlichkeiten eine politische Strategie, mit der subjektorientierte Politikformen verwirklicht werden könnten (vgl. Hagemann-White 1992). Das verweist auch auf die Suche nach ungewöhnlichen BündnispartnerInnen - es müssen nicht immer die Gemeinderäte und Vereinsvorstände sein: Mütter, Nachbarinnen bilden vielleicht eher die relevante Öffentlichkeit. (7)
"Partizipation" stellt sich so zunächst als Frage des Herausfindens und Bewertens des Eigenen. Von da aus ist Interessenformulierung möglich. Diese Zielrichtung ist auf die Kooperation mit einzelnen Betroffenen der sozialen Arbeit anzuwenden in der Frage der Problemdefinitionen, der Suche nach gelingenderen Lösungen, der Frage nach Stabilisierung eigener Zusammenhänge und schließlich der Kollektivierung, der politischen Stärkung der Perspektiven. Die Frage nach dem Eigenen gilt aber ebenso im Ansatz gemeinwesenbezogener Arbeitsschritte als Zugang zu Zielgruppen. Es ist kein therapeutischer Ansatz, sondern ein politischer, der um die Verdeckungen und Entöffentlichungen weiblicher Konflikte weiß und diese zum Thema sozialpolitischer Auseinandersetzungen zu machen gedenkt. Eine solche Partizipation geht somit weit über die enggefaßte Beteiligung (als Chance des Mitmachens) hinaus und bearbeitet vor allem die in dieser enthaltenen degradierenden Momente (Verhinderung von Selbstbestimmung, Entwertung der sozialen Kompetenz).
Diese Erkenntnis betrifft im übrigen nicht nur die Adressatinnen der sozialen Arbeit. Fachfrauen brauchen einen parallelen Prozeß, in dem sie an einem "eigenen Ort" ihre Anliegen und Interessen bestimmen und in die Konzeptionen und Definitionen einbringen. An diesem Ort (Fach-AK, Frauenteam, Fortbildungen,...) geschieht Vergewisserung und Anerkennung der eigenen Wahrnehmung und Erfahrungen. In meinen Untersuchungen wurde klar, daß Frauen es kaum schaffen, ihr Wahrnehmungen gegen dominante Problembeschreibungen und Legitimationsanforderungen, die anderen Maßstäben geschuldet sind, aufrechtzuerhalten, wenn sie sich nicht einen eigenen Zusammenhang geschaffen haben.
4. Sozialpolitische Handlungskompetenz als Teil von Fachlichkeit
Zusammenfassend sollen einige notwendige Kompetenzen für eine sozialpolitische Handlungsorientierung akzentuiert werden, mit denen der geschlechterdifferenzierende Blick verbunden ist und die die Fachlichkeit in der GWA qualifizieren (vgl. Bitzan/Funk 1995 und Ministerium...1995).
Geschlechterdifferenzierung trägt erheblich zur Qualifizierung von Lebensweltorientierung in der sozialen Arbeit bei. Sie zwingt zu einem genaueren Blick auf die Lebenswelten und zu spezifischeren Fragen an das, was als Problem definiert wird. Sie ist unweigerlich verbunden mit Konfliktorientierung als Ausgangspunkt für fachliches Handeln:
- Probleme werden begriffen als Indikatoren für Konflikte, als Ausdruck von widersprüchlichen oder überfordernden Anforderungen und Risse im normalerweise eingespielten geschlechtsspezifisch erwarteten Bewältigungshandeln.
- Sie bezieht bei der Bearbeitung Akteure der unterlegten Konflikte und Konfliktstrukturen mit ein. Das können sowohl Bezugspersonen im Umfeld der Betroffenen sein als auch Systemvertreter aus der Politik und öffentlichen Einrichtungen. Es geht auch um die Strukturen selbst, die normalerweise gar nicht als Konflikte in Erscheinung treten. Der sozialpolitische Zusammenhang ist als konkrete Vorgabestruktur, in der Individuen (auch) unter geschlechtsspezifischen Erwartungen zu handeln haben, zum Thema zu machen - mit den Betroffenen wie mit den Repräsentanten.
- Konfliktorientierung bedeutet auch, den herangetragenen Erwartungen nicht unbedingt gerecht zu werden. Mit der veränderten Wahrnehmung entstehen andere Handlungsansätze und Handlungsziele. Konfliktorientierung erfordert also auch ein Streiten für fachgerechte Maßnahmen innerhalb der Trägerkonzeptionen und innerhalb der kommunalen Öffentlichkeit.
Jedes Projekt, jeder Ansatz wird daran interessiert sein, im Gemeinwesen akzeptiert zu sein und einen guten Ruf zu haben. Eine gewisse Akzeptanzbasis ist erforderlich, um überhaupt als Fachlichkeit ernstgenommen zu werden und Chancen zur Einmischung wahrnehmen zu können. Allerdings darf die Bezugsgröße der Akzeptanz nicht unter der Hand wieder ausschließlich die sowieso bestimmende Elite des Gemeinwesens (Kommunalpolitik) sein. Wenn Gemeinwesen sich aus vielen Gemeinwesen zusammensetzt, die unter Umständen konflikthaft miteinander in Beziehung stehen, dann ist auch die Frage der Akzeptanz äußerst ambivalent. Sie bedeutet zwangsläufig eine Gratwanderung zwischen genügend Anerkennung durch die "öffentliche Meinung" und der gebotenen Klarheit, in Konflikte zu gehen, indem der "öffentlichen Meinung" andere Definitionen entgegengesetzt werden. Sich mit verdeckten Problemlagen zu beschäftigen, ist kommunalpolitisch nicht erwünscht. Es kann nicht darum gehen, ein Rezept für diese Gratwanderung zu entwickeln, sondern ein Bewußtsein darüber, an was bzw. wem sich die Handlungsmaßstäbe orientieren. Die Fachlichkeit braucht so einerseits die eigene Selbstvergewisserung, um öffentliche Angriffe zu konfrontieren, andererseits die aktive Suche nach und Präsentation von anderen BündnispartnerInnen - vielleicht auch solcher, die zunächst kein sozialpolitisches Renommee haben. Sie muß sich darüber im klaren sein, daß die üblichen öffentlichen Quellen von Anerkenung in diesem Feld äußerst gering sind.
Die sich verschärfende sozialpolitische Entwicklung (Sparzwang, Legitimationsdruck) betrifft auch inzwischen bereits für selbstverständlich gehaltene Standards, die in der GWA bzw. der gemeinwesenorientierten Jugendhilfe anerkannt sind.
- Die fachlich mittlerweile konsensuale Lebensweltorientierung bietet ein entscheidendes fachliches Verbindungsstück zur geschlechterdifferenzierenden Arbeit, weil sie den Blick für die Subjekte in der Lebenswelt und ihren je eigenen Lebens- und Deutungszusammenhang geschärft hat. In Verbindung mit den Sparbemühungen erfährt sie nun unglückselige Verzerrungen: Mit der Lebensweltorientierung sollten alle Beteiligten an einem Problem/Konflikt ins Blickfeld kommen, folglich müsse angeblich auch mit allen gearbeitet werden - also gerade nicht mehr parteilich und konfliktorientiert, insbesondere bei Interventionen gegen Gewalt. Spezifische Fachstellen (z.B. bei sexuellem Mißbrauch) erübrigten sich ebenfalls, da ja Angebote nicht mehr an Problemen orientiert werden sollten. Ebenso dürften lebensweltliche Zusammenhänge nicht künstlich auseinanderdividiert werden, und in unserer Gesellschaft sei die Familie immer noch die kleinste lebensweltliche Einheit. Verkannt wird hiermit, daß die jeweilige Lebenswelt zwar das reale Bezugsfeld aller Personen ist, sie aber deshalb keineswegs harmonisch und bindend für alle ist. Im Gegenteil: Lebensweltorientierung hieße gerade, vorhandene Konflikte und Konfliktstrukturen in der Lebenswelt aufzusuchen, insbesondere geschlechterhierarchische. Konflikte erkennen heißt auch, Verletzungen/Beschädigungen zu erkennen und gezielte Hilfen zu suchen. Lebensweltorientierung entbindet somit gerade nicht von Parteilichkeit und spezifischen Angeboten, sondern fordert sie um so stärker heraus.
- Mit dem Argument gebotener Geschlechterdifferenzierung wird der moderne Trend begünstigt, Jungen und Männer als ebenso Zugerichtete des Geschlechterverhältnisses darzustellen und ihnen doch endlich mehr Aufmerksamkeit zu schenken. So aber werden die Forderungen der parteilichen Mädchen- und Frauenarbeit vereinnahmt unter Verleugnung der hierarchischen Anteile bestehender Hilfsangebote und unter Absehung davon, daß die frauen- und mädchenbezogenen Angebote meist nicht fest institutionalisiert sind. Unter der Hand werden diese wieder hinausgedrängt.
- Die von Fachfrauen geforderte Partizipation, insbesondere bei politischen Planungen, wird nicht selten als Alibi benutzt, um die Verantwortung für den geschlechterdifferenzierenden Blick und insbesondere für Mädchenangebote abzuschieben und aus dem "allgemeinen" Kontext herauszulassen.
- Der feministische Standard, in der Mädchenarbeit vor allem an den Stärken der Mädchen anzusetzen, sie nicht defizitär zu definieren, schlägt zurück in Argumenten, daß Mädchen alle Türen offenstünden, wenn sie denn so stark seien. Mädchenarbeiterinnen selbst treten in die Falle, wenn sie aus dem Bemühen heraus, Mädchen nicht zu stigmatisieren, den Blick für benachteiligende Strukturen verlieren.
- Ein ganz progressives Argument ist die Erklärung der örtlichen Jugendhilfeträger, die Geschlechterdifferenzierung in alle Regelstrukturen hineinzuschreiben. Damit würden sich besondere (feministische) Projekte erübrigen. Real heißt das leider meistens, daß an den Regelstrukturen so gut wie nichts geändert wird, bestehende fachliche Angebote von Projekten aber zum Verschwinden gebracht werden. Nebeneffekt: So entfällt auch die stetige Mahnung an diesen Teil der Fachlichkeit.
Mit diesen angedeuteten Tendenzen möchte ich nicht Mutlosigkeit verbreiten oder für einen Rückzug aus der Fachdiskussion plädieren. Im Gegenteil: Mehr denn je macht es Sinn, die wirklichen Inhalte der Geschlechterdifferenzierung an den Analysekategorien der Geschlechterhierarchie auszuarbeiten und die tatsächlichen Lebensrealitäten von Frauen und Mädchen immer wieder als kritische Anfragen hervorzuheben. Wichtig scheint mir, hieraus Fragestellungen, Prüfkriterien (Evaluationsmaßstäbe) zu entwickeln, die diesen Zielen entsprechen, und diese offensiv gegen solche vereinnahmenden und damit zunichtemachenden Strategien zu wenden. In diesem Sinn sehe ich eine Chance in dem derzeitigen Bemühen, Qualitätssicherung in der sozialen Arbeit festzuschreiben. Für die GWA bedeutet dies, sich konsequent den geschlechterdifferenzierenden Lebensweltanalysen als prozeßbegleitende Bedingung der Arbeit zuzuwenden, Partizipation immer von den Interessen der Subjekte her zu denken und sich nicht in die Fallen sparpolitischer Legitimationszwänge zu begeben. Politische GWA bleibt konfliktorientiert und arbeitet mit den betroffenen Mädchen und Frauen ihre Interessen als politische heraus.
Anmerkungen
1. Z.B. gehört Berufstätigkeit zum selbstverständlichen Lebensentwurf eines jeden Mädchens, und selbst die Änderung des Eherechts, das Ehefrauen die gleiche Geschäftsfähigkeit wie Männern zugesteht und die Partnerschaft in der Ehe propagiert, ist schon 20 Jahre her.
2. Einige weitere Markierungspunkte des weiblichen Lebenszusammenhangs:
- Die als Nichtarbeit definierten Tätigkeiten der Reproduktion erfordern als "weibliche" Kompetenz Beziehungsorientiertheit und Emotionalität, Empathie etc.. Gleichzeitig sind Frauen Grenzgängerinnen zwischen der häuslich-versorgenden und der beruflichen Sphäre, in der Rationalität, Sachlichkeit, Leistungsstreben und Eigennutz gefordert sind - eine ständige innere Vermittlungs- und Umstellungsarbeit ist gefordert. Frauenalltag ist somit keineswegs hinreichend als Familienalltag erfaßt.
- Frauen haben immer die Wahl zwischen unbefriedigenden Alternativen, was einen permanenten Angriff auf das Selbstbewußtsein und die Selbstsicherheit erzeugt.
- Der Nahbereich der Wohnung (Haus, Nachbarschaft, Umgebung, Versorgungsinfrastruktur) bekommt durch die Reproduktionstätigkeiten eine hohe Bedeutung.
- Frauenleben heißt leben unter ständiger Bedrohung der körperlichen Integrität und allgemeiner Mißachtung. Gewaltübergriffe sind real, das Sprechen darüber tabuisiert.
- Frauen sind an die Erwartung gebunden, "es" zu schaffen - auch unter Frauen ein Tabuthema, mit dem sie die eigene Wahrnehmung von Überforderung und Gewalt bagatellisieren. Sozialpolitisch ergibt sich daraus die Definition, hinsichtlich der Belastungen von Frauen sei kein Handlungsbedarf vorhanden.
3. Typisches Beispiel für ein solchermaßen fahrlässiges Vorgehen ist der Verweis auf die Anzahl von sogenannten Alleinerziehenden in einem Stadtteil.
4. Ernährerlohn gibt beispielsweise noch keine Auskunft über das der Hausfrau zur Verfügung stehende Haushaltsbudget; wenn Vater im wichtigsten Verein im Ort Mitglied ist, heißt das noch lange nicht, daß die Frau im Ort integriert ist...
5. Im Bezug auf Mädchen und Frauen stellen Überlegungen zur mädchengerechten Jugendhilfeplanung, Erfahrungen der feministischen Mädchenarbeit und GWA sowie Verfahren der Frauenforschung methodisches Know-how für diese Anforderung zur Verfügung. Daß auch jungen- und männerspezifische Analyseformen im Bewußtsein ihrer geschlechtsspezifischen Ausrichtungen und Selbstkonzepte entwickelt werden müssen, bleibt bisher eine fachliche Einforderung von Feministinnen. Solange die Geschlechterdifferenzierung nicht zum allgemeinen Standard wird, bleiben sie in der vermeintlichen Allgemeinheit unerkannt und unbearbeitet.
6. Die Komplizenschaft mit der Abhängigkeit ist geradezu ein Kennzeichen der Unterkultur. "Es ist trügerisch zu meinen, viele Frauen führten mehr oder weniger oder vielleicht zunehmend ein unabhängiges Eigenleben parallel zu den patriarchalen Taten; sozusagen an einem anderen Ort. Ich meine vielmehr, daß eine differenzierte geschlechtliche Interessenverquickung in den zivilisierten Patriarchaten die Mittäterschaft von Frauen hergestellt hat (...)" (Thürmer-Rohr 1988: 41).
7. Mit einer solchen Perspektive können auch neue konkretere Umgangsweisen für und mit Männern entwickelt werden, z.B. genauer nach ihren Reproduktionsweisen und Bezugsnetzen zu fragen, um besser zu begreifen, wo beide, Frauen wie Männer, jeweils Anerkennungsquellen haben und wie sie so erweitert bzw. verlagert werden können, daß sie nicht zu Lasten Schwächerer gehen.
Literatur
Bitzan, Maria 1996: Geschlechterhierarchie als kollektiver Realitätsverlust. Zum Verhältnis von Allltagstheorie und Feminismus. In: Grunwald; Ortmann; Rauschenbach; Treptow (Hg.): Alltag, Nichtalltägliches und die Lebenswelt. Weinheim, München, S.29-37
Bitzan, Maria; Funk, Heide 1995: Geschlechterdifferenzierung als Qualifizierung der Jugendhilfeplanung. In: Bolay; Herrmann (Hg.): Jugendhilfeplanung als politischer Prozeß. Neuwied, S.71-124
Bitzan, Maria; Hemmerich, Wera 1997: Die Gestaltung des Sozialen - die Überforderung des Privaten. In: Müller; Reinl (Hg.): Reader zum Bundeskongreß Soziale Arbeit 1996. Neuwied
Bitzan, Maria; Klöck, Tilo 1993: Wer streitet denn mit Aschenputtel? Konfliktorientierung und Geschlechterdifferenz. München
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