Begabungsideologie, Hegemonie der Eliten und Bildungspolitik

Abstract

Angesichts der Reproduktion sozialer Ungleichheit mithilfe des Bildungssystems, bei steigender Bedeutung von Bildung für Individuen und Gesellschaft, stellt sich die Frage nach hegemonialen Strategien der Eliten und Ideologemen, die dies absichern (sollen). Abgesichert wird das herrschende System der Bildungsapartheid - am besten im deutschen dreigliedrigen, ständestaatlichen Ursprüngen entstammenden Schulsystem verkörpert - in entscheidender Weise durch die Ideologie der Begabung, mit der Einzelnen ihr gesellschaftlicher Platz zugewiesen wird. Diskutiert wird in diesem Artikel deshalb zum einen der gesellschaftspolitische, bildungsmäßig vermittelte, Ort dieser Strategie, zum anderen geht es um eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit Positionen der pädagogischen Psychologie, dem von ihr produzierten legitimatorischen wissenschaftlichen Schein.

I.

Bildung und soziale Ungleichheit

Angesichts der PISA-Ergebnisse, die einmal mehr die hohe soziale Selektivität - d.h. den Ausschluß größerer Bevölkerungsteile von Bildung - des deutschen Bildungssystems herausstellen, und dem Unwillen entscheidender Teile der herrschenden wie beherrschten Fraktionen im Rahmen einer Ursachenanalyse bildungspolitische Konsequenzen in einer Weise zu diskutieren, mit der sie die Analysen über die Reproduktionsfunktion des Bildungssystems für die Aufrechterhaltung von Klassenstrukturen und damit sozialer Ungleichheit ernstnehmen, gilt es, der Frage nachzugehen, welche Ideologeme wie hegemoniale Strategien hier wirken. Denn erklärungsbedürftig ist, wie sich in Gesellschaften mit demokratischen Ansprüchen - bei Anerkennung der hohen Bedeutung von Bildung für individuelle wie gesellschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten - Systeme der Bildungsapartheid ohne größeren Widerstand haben durchsetzen und aufrechterhalten lassen.

Am offensichtlichsten wird diese Bildungsapartheid vom dreigliedrigen deutschen System verkörpert, dem nicht allein die vormoderne, ständestaatliche Verankerung (Becker 1957: 27f.) eingeschrieben ist, das zudem auch noch die hegemonialen Interessen der privilegierten Eliten besonders deutlich zum Ausdruck bringt. Entscheidend ist dabei die Absicherung dieser Art von Berechtigungswesen durch Herrschende wie Beherrschte mithilfe der Ideologie der Begabung, mit der eine Zuweisung Einzelner zu den je besonderen Schulformen - auch begabungsgerechte Auslese oder Profilbildung genannt -verbunden ist.

Vor diesem Hintergrund analysiert, funktioniert Schule hierzulande im Sinne des Systemerhalts bestens; denn die Benachteiligten und Betrogenen schreiben sich (zumindest mehrheitlich bislang) ihre schulischen Misserfolge selber zu - unterstützt durch das Zeugnissystem, mit dem Auskunft gegeben werden soll über Leistungsstand und -fähigkeiten, vor allem aber Leistungsbereitschaft und -willen, damit konformes Verhalten, bewertet werden. Ginge es also realiter im Kontext der alteuropäischen Bildungstradition, in der von der Bildungsfähigkeit und Vernunftbegabung aller ausgegangen wird, in der Bildungsforschung um die Frage nach den Bedingungen der Produktion von Dummheit, so versteht diese es - vor allem in der Folge der Obsessionen 'pädagogischer Psychologie', die sich den Anschein von Wissenschaftlichkeit gibt (s.u.) -, derartigen gesellschaftstheoretisch wie -politisch akzentuierten Fragen mehrheitlich auszuweichen. Dabei wäre es insbesondere praktisch wichtig wie machbar, die Systemlogik von Schule als Ausdruck einer Winner-Loser-Logik in den differenten Konsequenzen vor allem den lebensgeschichtlich katastrophalen - für alle Betroffenen aufzuschlüsseln (Aronson 2000).

Das entscheidende Einfallstor für den Erhalt des herrschenden bundesdeutschen dreigliedrigen Schulsystems, dessen Abschaffung allein die real existierende Klassenstruktur noch nicht überwände, gleichwohl die Chancen dazu verbessern könnte, stellt die Begabungsideologie dar, deren unwissenschaftlicher Charakter in den letzten Jahrzehnten zwar immer stärker herausgestellt wurde, die aber trotzdem in hegemonialen Auseinandersetzungen immer noch sehr wirksam und funktional ist. Mit dieser Ideologie, die in Deutschland wesentlich das Gymnasium absichert, legitimieren primär Oberschicht und Bildungsbürgertum - über dessen katastrophale Rolle in der deutschen Geschichte gesondert zu handeln wäre (vgl. Bollenbeck 1999) - im Kampf um knappe Güter, d.h. gesellschaftlich privilegierte Positionen, Einkünfte etc., ihre Wettbewerbsvorteile. Dabei handelt es sich um die schulisch vermittelte Absicherung von Statuszuweisungen in hegemonialen Kämpfen durch Zuschreibungen von Begabung, Intelligenz und Leistung, mit denen - wie bildungssoziologische Analysen zur hohen sozialen Selektivität des Schulsystems seit langem aufweisen - über Lebenschancen und Lebensqualitäten wie politisches Engagement bereits in einem sehr frühen Alter entschieden wird (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001: 32).

Gerade weil sich logisch wie politisch aus vorliegenden empirischen Bildungsforschungsergebnissen, in die auch die IGLU-Ergebnisse zu Schülerleistungen in der Grundschule einzubeziehen sind (Bos et al. 2003), die Forderung nach einem grundlegenden Strukturwandel im Schulsystem, d.h. nach einer Einheitsschule, ergibt, um zunächst einmal systemimmanente Leistungen - Bildungsniveau aller, Demokratiefähigkeit - einzufordern, ist ein Blick in bildungspolitische Debatten aus der Zeit der ersten Bildungsreform sinnvoll -dies nicht nur weil Erstaunliches zutage tritt, sondern auch, um weiter auf der Frage zu beharren, warum sich allen Erkenntnissen zum Trotz und angesichts der steigenden Bedeutung von Bildungsabschlüssen für Lebensläufe im Bildungssystem nichts verändert hat (vgl. Vester 2004).

Begabung und Lernen

Als 1968 der Deutsche Bildungsrat Gutachten zum Thema Begabung und Lernen (Roth 1968) publizierte, verband sich damit zum ersten Mal in der deutschen Diskussion eine weitgehende, öffentliche Entmythologisierung des Begabungsbegriffes - u.a. durch die Aufnahme von Ergebnissen internationaler sozialwissenschaftlich orientierter Bildungsforschung. Roth hob in seiner Einleitung hervor, dass in den Gutachten Pauschalbegriffe wie Begabung und Intelligenz nicht mehr die Rolle (spielen, d.V.), wie es vielleicht selbst noch der Fachmann erwartet. Der Zentralbegriff ist der Lernbegriff geworden, man könnte auch sagen: ein neuer Begriff des Lernens. Entsprechend treten in den Vordergrund Begriffe wie Lernfähigkeit, Lernprozeß, Lernerfahrungen, Lernzuwachs, Lernleistungen, Steuerung und Steigerung von Lernleistungen, Lehrverfahren usw. Der Begriff Lernfähigkeit bezieht sich noch am ehesten auf den Begabungsbegriff, aber auch er enthält schon, dass jedes weiterführende Lernen früher Gelerntes zur Voraussetzung hat. Insofern werden in allen Gutachten die erworbenen oder nicht erworbenen Lernvoraussetzungen wichtiger genommen als kaum präzis bekannte Variablen wie Begabung (im genetischen Sinne) oder Reifung (Roth 1968: 22).

Nicht wesentlich anders als das Deutsche PISA-Konsortium (2001) fast 35 Jahre später - allerdings ohne dessen neoliberale OECD-Semantik - formuliert Roth als Erkenntnisstand wie Perspektive, dass die gesamte kulturelle Entfaltung der Person entscheidend von Lernprozessen abhängt, in die der Heranwachsende in der Schule und schon in seiner vorschulischen Umwelt verwickelt wird. Wie intensiv sich das individuelle Kind sich diesen Lernprozessen unterzieht, hängt wiederum von der allgemeinen Lern- und Leistungsmotivation ab, die Elternhaus und Schule in ihm aufzurichten und zu stabilisieren vermochten. Diese Lernprozesse sollten aber nicht einfach einen Schüler hervorbringen, der viel aufnimmt und weiß, sondern jenen Schüler, der auch selbständig, produktiv und kritisch denkt (Roth 1968: 36).

In seinem Gutachten Sozialisation und Schulerfolg nimmt Mollenhauer diesen Faden auf und formuliert zusammenfassend:

Die Lernfähigkeit von Kindern und ihr Leistungsniveau sind abhängig von verschiedenen Variablen, die den Sozialisationsprozeß standardisieren. Durch ihr Zusammenwirken bringen sie Dispositionen im Kinde hervor, die als kollektive Chancen-Unterschiede begriffen werden müssen. Die Lernfähigkeit des Kindes, als ein Aspekt seiner 'Begabung', unterliegt damit einer Reihe von Bedingungen, die für die Unterschicht sich relativ beschränkend, für die Mittelschicht sich relativ fördernd auswirkt. Die restriktiven Bedingungen, die im Sozialisationsprozeß wirksamen 'Begabungs'-Barrieren, sind vornehmlich in sozio-ökonomischen Bedingungen, Wertorientierungen, Erziehungspraktiken und familienstrukturellen Merkmalen zu suchen (Mollenhauer 1968: 292).

Die Einsicht in die Bedeutung gesellschaftlicher Strukturen (1968: 294) für verschiedene Dimensionen der Bildungsfrage führt Mollenhauer auf der Basis seines Demokratisierungsinteresses zu der Schlussfolgerung:

Im Hinblick auf die Veränderung der Sozialisationsbedingungen scheinen - trotz der im Vergleich zur Organisation schulischer Lernprozesse weit größeren Schwierigkeiten - einige Folgerungen möglich. Die entscheidende Schwierigkeit besteht darin, dass die Praktiken des Umgangs mit Kindern derart mit Persönlichkeitsstrukturen, Wertorientierungen und - durch diese hindurch - mit sozialen und ökonomischen Lagen verknüpft sind, dass tatsächliche und allgemein wirkungsvolle Veränderungen nur in dem Maße zu erwarten sind, in dem zugleich diese sozialen und ökonomischen Lagen sich verändern (1968: 292).

Begabungsideologie und Hegemonie

Mit Bezug auf diesen Erkenntnis- wie Diskussionsstand muten die Inhalte - und damit de facto Mängel - in gegenwärtigen bildungspolitischen Debatten umso merkwürdiger an. Will man nicht a priori simplen Volksverdummungsthesen folgen, so gilt es, Interessen aufzuschlüsseln, die Analyse hegemonialer Strategien - und zugleich die ideologischer Positionierungen - voranzutreiben.

Im Kern geht es (in) der herrschenden gesellschaftspolitischen Strategie - von der wissenschaftstheoretische wie -politische Fragen erst einmal abzutrennen sind (s.u.) - um die Interessensvertretung derjenigen, die klassenstrukturell bevorzugt, ihre Position der Vorteilsnahme als legitim zu verkaufen trachten. Dazu bietet sich die Begabungsideologie - als eine Variante der nature-nurture-Debatte - in Deutschland vor dem Hintergrund der Geschichte von Autoritarismus, Eugenik und Rassenhygiene offensichtlich besonders gut an, lässt sich doch im Alltagsbewußtsein begabt mit intelligent und hochwertig verbinden. Solange die Mehrheit derer, die das Gymnasium besuchen, glaubt, infolge der eigenen Begabung dahin zu gehören wie umgekehrt die der Hauptschüler die eigene Stellung mit Dummheit verknüpft, nützt es erst einmal auch wenig, dass diese mystifizierte Bewusstseinsform durch fortgeschrittene evolutionstheoretische Erkenntnisse zu widerlegen ist; es bedarf u.E. der öffentlichen Debatte und Auseinandersetzung. Denn die Erkenntnis, menschliche Gleichheit sei ein geschichtlich kontingentes Faktum, Gleichheit also kein Axiom: sie ist weder ein ethisches Prinzip (obwohl gleiche Behandlung eins sein könnte) noch stellt sie Normen sozialen Handelns auf. Sie ist ganz einfach das Ergebnis der Entwicklungsgeschichte des Menschen (Gould 1995: 154), verweist einmal mehr auf die gesellschaftspolitische Verortung und hegemoniale Instrumentalisierung der Begabungsideologie, die von der natürlichen Ungleichheit der Menschen ausgeht - interessant ist nur, dass Eliten samt Abkömmlingen immer zu den Begabten gehören (wollen).

Die Basis dieser hegemonialen Strategie bildet das Zusammenspiel von einer Politik der Schließung, um sich - vor allem auch angesichts der gesteigerten Bedeutung von Bildungszertifikaten - unliebsame Konkurrenz vom Halse zu halten, mit der unmittelbar in die Begabungsideologie eingelassenen Ideologie der Exzellenz (s. Fischer/Mandell 1994).

II.

Konstrukte pädagogischer Psychologie und Gesellschaftspolitik

Pädagogische Psychologie - in ihrer Mainstream-Gestalt - und Psychometrie dienen als weitere wichtige ideologische Hilfsmittel zur Aufrecherhaltung der herrschenden Machtverhältnisse, werden sie doch strategisch in gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen genutzt, um die Intelligenz der Privilegierten und die Defizienz sozialer und politischer Randgruppen zu validieren. Die Einsicht in die Fragmentierung moderner Identität und damit verbunden, die Erkenntnis der Notwendigkeit, Fragen von Begabung und intellektuellen Fähigkeiten zu kontextualisieren, führen eine kritische Psychologie dazu, menschliche Sozialität als fundamental für die Konstitution des Selbst zu verstehen. Dies kritische Verständnis veranlasst uns zur Einschätzung, dass das Ich niemals vollkommen, sondern stets im Prozess ist, sich zu formen und durch sozio-kulturelle, symbolische und ideologische Bereiche geformt zu werden. In diesem Zusammenhang ersetzt eine kritische Psychoanalyse den Begriff des Selbst - mit seiner Implikation von Autonomie und Einheit - durch den Begriff Subjekt - mit seinem Hinweis auf die Entstehung des Selbst durch seine Wechselwirkung mit der Außenwelt.

Vor diesem Hintergrund muss die Entwicklung geistiger Tätigkeiten auf eine große Vielfalt von Faktoren zu beziehen sein, einschließlich der Kontextanalyse, der bewussten und unbewussten Produktion von Subjektivität, der subtilen Dynamik interpersoneller Interaktion und der Position eines Einzelnen oder einer Gruppe im Netzwerk der Realität. Einfach ausgedrückt erstreckt sich der Geist - im Gegensatz zu den Erklärungen von Befürwortern der Begabten- und Talentiertenpädagogik für die Elite - über die Haut des Menschen hinaus. Intelligenz, Gedächtnis und Denkvermögen sind nicht einfach nur Besitztümer von Einzelnen - sie sind immer soziale wie politische Prozesse. Mit dieser Erkenntnis wird die Primitivität psychometrischer IQ-Tests, ihrem Messen von kultureller Vertrautheit mit westlicher Ausbildung und sprachlicher Sozialisation offen gelegt.

In diesem Rahmen bezieht eine kritisch-theoretische Auseinandersetzung mit der Psychologie die Kritik an psychologischem Wissen, dessen Autorität, und an dem Paradigma, in dem es entsteht, mit ein. Das herkömmliche psychologische Paradigma hat etwa die Geschichten, Erfahrungen und das alltägliche Umfeld kultureller und politischer Randgruppen stets außer Acht gelassen. Durch eine kritische Bewertung der Psychologie und ihrer elitären Annahmen entsteht Raum, um den Eurozentrismus dieser Wissenschaft und die Art der Produktion psychologischen Wissens miteinander zu konfrontieren. Sie stellt das monokulturelle Wertesystem herkömmlicher Psychologie, damit den Standpunkt einer positivistischen Epistemologie, welche den Verstand in bestimmten interpretativen, hermeneutischen Formen von Wissen darstellt, in Frage. Derartige epistemologische Orientierungen hindern Wissenschaftler daran, die sozio-psychologische Welt in kritischer Weise zu erforschen, indem sie die psychologischen Prozesse in Zusammenhang mit deren breiteren Kontext bringen, wodurch scheinbar isolierte und abstrakte Phänomene an Bedeutung gewinnen (vgl. Kincheloe/Steinberg/Villaverde 1999).

Eine solche Herangehensweise führt zu einer Psychologie, die sich einer fehlgeleiteten Vorstellung von Individualisierung schuldig macht, indem sie von der notwendigen Vergesellschaftungsanalyse absieht. Eine Kritik der Cartesianisch-Newtonschen Lehre lehnt diese Form von Individuation und die Theorie des autonomen, vernünftigen Subjekts, auf die diese aufbaut, ab. Fest im Epizentrum des