Bedingungen für die Entwicklung einer gemeinwesenorientierten Praxis der Sozialen Arbeit
Mit dem Erstarken der Rechten in den Vereinigten Staaten und in Europa richten sich Reformbemühungen nicht mehr in erster Linie auf die staatlichen Institutionen, sondern auf diejenigen des sogenannten Freien Marktes (Aronowitz 1996). Das wird von konservativer Seite mit dem Argument begründet, der Wohlfahrtsstaat, seine Professionellen und seine politischen Köpfe hätten keine funktionierenden Antworten mehr auf die Verschlechterung der Lebensbedingungen der Armen und die nachlassende Qualität der Lebensbedingungen in den lokalen Gemeinschaften. In diesem Beitrag wird jedoch weder erneut der Grad dieser Verschlechterung dokumentiert (Wilson 1996) noch die bürokratischen Routinen des Mehr desselben der sozialen Interventionen (Fabricant/Burghardt 1992; Dressel 1992); vielmehr werden wir Vorschläge entwickeln, wie die derzeitige Praxis im Umgang mit den Armen geändert werden kann.
Wir gehen in unserem Papier davon aus, daß es den nichtstaatlichen und den Non Profit-Organisationen nicht gelungen ist, ein Bewußtsein für das Gemeinwesen und für die Mitgliedschaft in ihren Einrichtungen aufzubauen. Sie tragen eher zu der Erosion eines aktiven bürgerschaftlichen Engagements bei, als daß sie es befördern. Wir unterstellen, daß bürgerschaftliches Engagement nicht aus sich selbst heraus entsteht, sondern daß ihm von allen staatlichen Wohlfahrtseinrichtungen Nahrung und Unterstützung zukommen muß. Gerade angesichts des derzeitigen Verfalls der Gemeinschaften kommt jedem Kontakt zwischen einem Klienten und einer Wohlfahrtseinrichtung die Qualität zu, das Bewußtsein für demokratische bürgerschaftliche Teilhabe entweder zu befördern oder zu verschlechtern. Deshalb werden wir hier auf zwei fundamentale Aspekte einer gemeinwesenorientierten Praxis hinweisen: Wir beschreiben zunächst die Erfahrungen, die ein Klient schrittweise macht, wenn er in Kontakt mit einem Sozialen Dienst kommt und ihn durchläuft. Diese Erfahrungen gilt es zu verbessern und effektiv zu nutzen. Zweitens beschäftigen wir uns mit der Frage, welche Regeln etabliert werden müssen, um das Interesse der Klienten an einer aktiven Mitgliedschaft in den entsprechenden Einrichtungen zu wecken.
Die Sackgasse der Sozialen Dienste: Der Zerfall der Gemeinschaften und der Rückzug der Klienten
Die Standardliteratur zu den Sozialen Diensten ist von Texten dominiert, die die Menschen eingebettet in ihre Umgebung betrachten (Meyer & Medderratti 1997). Auf dieser Basis werden Modelle für professionelle Interventionen auf der Mikro-, der Meso- und der Makro- Ebene entwickelt, die sich zum Teil überlappen. In vielen Variationen konzipieren diese Modelle das Verhältnis zwischen den Sozialen Diensten und der lokalen Gemeinschaft. Sie gehen jedoch alle von einer Beziehungsdichte zwischen den Sozialen Diensten und der jeweiligen Gemeinschaft aus, die es angesichts der heutigen Lebenslagen schon lange nicht mehr gibt. So haben zum Beispiel Putnam (1993) und Schorr (1997) die verschiedenen Faktoren dokumentiert, die die Bürger daran hindern, sich am öffentlichen Leben zu beteiligen. Überarbeitete Mittelschichtsangehörige, die nicht mehr in der Nähe ihrer Arbeitsstätte leben und sich unter dem Druck des Arbeitsmarktes 'flexibilisierten' Arbeitszeiten anpassen, sich um die Versorgung ihrer Kinder kümmern und ökonomischen Verpflichtungen nachkommen müssen, ohne dabei auf Familien-Unterstützung zurückgreifen zu können, sind weniger in bürgerschaftliche Aktivitäten eingebunden, als dies jemals in den vergangenen fünfzig Jahren der Fall gewesen ist.
Von größter Bedeutung für die Organisationen des Wohlfahrtsstaates ist die Analyse von W.J. Wilson. In seinen Arbeiten The Truly Disadvantaged und When Work Disappears hat er die Zusammenhänge zwischen sozioökonomischen Trends und demographischen Veränderungen dokumentiert, die schließlich zum Zusammenbruch vieler Gemeinschaften geführt haben. Er hat gezeigt, daß in den armen Gemeinden durch die Tendenz der Industrie, sich in den Vorstädten anzusiedeln oder im Ausland zu investieren, die Arbeitsplätze weggebrochen sind und daß das gerade die Mittel- und die Arbeiterklasse - und hier besonders diejenigen, die im öffentlichen Dienst standen - dazu veranlaßt hat, in bessergestellte Stadtteile umzuziehen. Die Konsequenzen für die Gemeinwesenstrukturen waren dramatisch und komplex, da das institutionalisierte Leben in den Gemeinwesen besonders durch die Mittelklasse höchst effektiv unterstützt worden war. Ihre Erfahrungen, ihre Sozialisation, ihre Werte und ihre ökonomische Stärke hatten es diesen Bewohnern ermöglicht, den Alltag zu strukturieren, die ökonomischen Mittel aufzubringen und eine Anwesenheitsdichte zu schaffen, die als entscheidende Zutaten für ein starkes Gemeinwesen betrachtet werden müssen. Dagegen hatten die in den benachteiligten Gemeinwesen zurückgebliebenen Armen nicht die Erfahrungen und die Kapazitäten, um die Leerstellen zu füllen, die mit der Migration der Mittelklasse entstanden sind. Zusätzlich führte der Verlust von Arbeitsplätzen in Verbindung mit dem Verschwinden von sozialen Netzwerken, die auch über die benachteiligten Quartiere hinwegreichten, zu einer wachsenden sozialen, ökonomischen und politischen Isolation dieser Quartiere. Wilson hat darauf hingewiesen, daß die Zunahme von ungesetzlicher Arbeit (etwa Drogenhandel), von Desinteresse an Ausbildung oder von Schwangerschaften Minderjähriger großteils mit der Transformation und zunehmenden Isolation dieser Stadtteile zusammenhing. Wilsons Analyse läßt daher den Schluß zu, daß wirtschaftlich verwundbare und in ihrem sozialen Leben marginalisierte Menschen weder die Möglichkeit noch das Interesse haben, sich am sozialen Leben der quartiersbezogenen Einrichtungen zu beteiligen.
Die zukünftige Stärke dieser Gemeinschaften wird davon abhängen, ob es gelingt, Verbindungen zwischen den staatlichen Sozialen Diensten und den Bewohnern zu schaffen. Doch so, wie diese Dienste derzeit arbeiten, laden sie häufig nicht zu einer aktiven Teilnahme der Bewohner ein, sondern verstärken eher deren Mißtrauen und Isolation. Staatliche Einrichtungen Sozialer Arbeit, etwa Ausbildungsprogramme, Kliniken, Kindertagesstätten oder Projekte zur Gemeinwesenentwicklung sind ohne Frage in den vergangenen Jahren von Mittelkürzungen betroffen. Dies hat ihre Arbeit und ihre Verfügbarkeit für ihre Nutzer nachteilig beeinflußt. Zugleich hat die Finanzkrise aber auch die darunter verborgene und lang andauernde Krise des Verhältnisses zwischen den Sozialen Diensten und den Bürgern hervortreten lassen. Die Bürokratie des Wohlfahrtsstaates hat die Menschen eher zu passiven Nachfragern individueller Hilfe gemacht. Daß der Staat die Verteilung der knappen finanziellen Ressourcen mit wachsender Strenge überwacht, verstärkt diese Tendenz.
Und so haben gerade die Errungenschaften, mit denen eine Verstärkung der Bürgerrechte erreicht werden konnte (etwa die Arbeitslosenversicherung oder die Gesundheitsversorgung), zu einer Verringerung bürgerschaftlicher Aktivitäten geführt (Barbalet 1988; Moon 1988, 1993). Außerdem sollen die staatlichen Institutionen nun Dienste anbieten, deren Erbringung früher in der Verantwortung der Gemeinschaften selbst gelegen hat: etwa die Sorge für kleine Kinder, für die Alten oder für ausreichende Arbeit. Die Organisationen, von denen Unterstützung verlangt wird, haben selten bedacht, daß die Qualität ihrer Arbeit in einem engen Zusammenhang mit dem Vorhandensein funktionierender Verbindungen zu den Gemeinwesen steht.
Soziale Dienste und die Entwicklung einer gemeinwesenorientierten Praxis
Andererseits kann die tägliche Arbeit der Sozialen Dienste durchaus eine zureichende Ausgangsbasis für Vertrauen und Verbindung bieten, da sie darauf ausgerichtet ist, die drückendsten Sorgen Einzelner zu lindern. Zudem werden viele Soziale Dienste mit bestimmten Orten verbunden und sind damit durchaus für Mitgliedschaft geeignet. Vor allem in den folgenden Bereichen haben sich Soziale Dienste häufig erfolgreich dadurch hervorgetan, daß sie der Entstehung bzw. Ermöglichung von Mitgliedschaftsbeziehungen besonderen Wert beigemessen haben: Wohngruppen für körperlich Behinderte, Drogenprogramme, gemeinwesenorientierte Arbeit mit geistig Behinderten, kooperative Ansätze im Schulwesen, lokale Umweltschutzinitiativen (Lieberman et al. 1991; Child Development Project 1994; Bondy et al. 1994; Swartz 1995; Sergiovanni 1994; Comer 1980; Medoff/Sklar 1994; Fairweather et al. 1969; Kretzman/McKnight 1993; O'Connell 1988, 1990; International Association... 1992; Crewe/Zola 1983; Walsh 1996; Burghardt/Fabricant 1987; Fabricant/Smith 1998; Stone 1996; Boyte 1996). Diese Experimente teilen verschiedene Merkmale. Erstens bedarf es einer Anleitung, die Verbindung zwischen den Quartiersbewohnern und dem Sozialen Dienst zu initiieren, zu implementieren und auf Dauer zu stellen. Zweitens müssen die Organisationen zulassen, daß ihre Benutzer ihre kulturellen Vorstellungen und Zweckbestimmungen einbringen. Drittens sind sie (mit Ausnahme der Schule) nicht im öffentlichen Dienst angesiedelt; es handelt sich um Freie Träger. Viertens sind die meisten Einrichtungen klein und beschränken ihre Arbeit auf ausgewählte Gebiete. Von ihnen können wir lernen, wie es gelingen kann, Zugehörigkeitsgefühle herzustellen.
Die verschiedenen Stufen des Aufbaus einer Gemeinwesenorientierung
Der erste Schritt besteht darin, den interessierten Menschen Gelegenheit zum Engagement zu geben. Dies ist der entscheidende Schritt, denn aus vielerlei Gründen gehen die Bewohner eher argwöhnisch und mechanisch auf die Einrichtungen zu. Nicht eingehaltene Verabredungen, nur dünn besuchte Versammlungen und distanzierte oder instrumentelle Beziehungen zu den Mitarbeitern drücken dies aus. So schreibt Berman-Rossi (1995):
Von Beginn an lief alles auf einen Eklat zwischen dem Mitarbeiterteam und den Bewohnerinnen hinaus. Das Team betonte die Rechte der Bewohnerinnen, Dienstleistungen in Empfang zu nehmen; die Bewohnerinnen betonten ihr Recht, diese Dienstleistungen abzulehnen. Das Team war der Ansicht, die Bedürfnisse der Bewohnerinnen zu kennen; die Bewohnerinnen glaubten selbst darüber Bescheid zu wissen. Das Team hielt gegenseitige Hilfe für die entscheidende Bedingung ihres kollektiven Lebens; die Bewohnerinnen setzten dagegen auf Unabhängigkeit und Individualität. Die vom Team erwarteten interdependenten Beziehungen wurden von den Bewohnerinnen als Bedrohung empfunden. (...) Die Haltung der Mieterinnen wurde durch ihre vorangegangenen enttäuschenden Erfahrungen und durch ihre Einschätzung genährt, es gebe keinen Grund, warum gerade diese Professionellen sich von den vorhergehenden unterscheiden sollten. Beide Seiten verhielten sich ausgesprochen vorsichtig.
Bereits gemachte nachbarschaftliche Erfahrungen können den Eindruck erzeugt haben, daß gemeinsames Handeln das Spektrum der Möglichkeiten nicht erweitern, sondern im Gegenteil einschränken (Wagner 1993). Sie können die Betroffenen dazu bringen, sich emotional zurückzuziehen und von gemeinsamen Aktionen fernzuhalten. In solchen Lebenszusammenhängen haben die nachfolgenden Generationen schrittweise immer weniger Interesse daran, kollektiv zu handeln. Dabei ist es so entscheidend wie schwierig, die Bürger in Aktivitäten zum Aufbau des Gemeinwesens einzubeziehen. Aber die Partizipation ist am sinnvollsten erst im zweiten Stadium des Prozesses angesiedelt. Vor dem Hintergrund des verständlichen Mißtrauens der Nutzer ist es zunächst erforderlich, ein Umdenken hinsichtlich ihres Verhältnisses zu dem Sozialen Dienst zu erreichen. Von Beginn des ersten Kontakts mit dem Dienst oder mit seinen Aktivitäten vor Ort an müssen Gelegenheiten gefunden werden, die die Verbundenheit befördern. Zum Beispiel muß von Seiten des Sozialen Dienstes überlegt werden, wie die Bewohner eingeladen oder willkommen geheißen werden können, an seinen Aufgaben und Angeboten teilzunehmen.
Der zweite Schritt zum Aufbau funktionierender Gemeinwesen ist der Übergang von einem bloßen Nutzer der Dienstleistung zu einem aktiv Teilnehmenden. Teilnahme heißt, ihm einen Anteil an der institutionellen Macht zuzugestehen und im besten Fall Gleichheit zwischen ihm und dem Personal herzustellen. Vertiefte Formen der Identifikation werden nämlich kaum eintreten, wenn den Nutzern lediglich restriktive oder symbolische Anteile an den Entscheidungsprozessen des Sozialen Dienstes zugebilligt werden. Eine Organisation kann daher nur als gemeinwesenorientiert bezeichnet werden, wenn sie auf einer entsprechend demokratischen Kultur beruht. Demokratie bedeutet dabei weit mehr als die Etablierung von Verfahren, die der Berücksichtigung von Wünschen und Anregungen aus dem Gemeinwesen dienen; vielmehr müssen Wege gefunden werden, die Teilhabemöglichkeiten der Quartiersbewohner systematisch zu verbreitern (Moon 1993; Barbalet 1988). So entsteht allerdings die anspruchsvolle Erwartung, daß die Bewohner sich aus eigener Initiative in die ständig verbreiternden Netzwerke der Sozialen Dienste einschalten werden. Die Häufigkeit der Aktivitäten der Benutzer im Rahmen des Sozialen Dienstes ist jedoch nur ein Indikator für quantitative Partizipation; die Qualität der Partizipation, die eher an der Intensität der Benutzeraktivitäten abgelesen werden kann, ist viel entscheidender dafür, ob es gelingt, Beziehungen zu entwickeln, die zu vertieften, d.h. Mitgliedschaftsverhältnissen zwischen dem Sozialen Dienst und den Bewohnern reifen können.
Viele Bewohner werden niemals von individuellen zu kollektiven Beteiligungsformen übergehen, indem sie Angebote bspw. nur aufsuchen, um sie für ihre familiären Interessen zu funktionalisieren und individuelle Probleme zu lösen, ohne ein Verhältnis zur Gruppe zu entwickeln, geschweige denn zu internalisieren. Für die aktive Teilhabe ist es daher entscheidend, interdependente Beziehungsformen mit anderen Teilnehmern zu aufzubauen. Solche Formen können aber nur verwirklicht werden, wenn sie bewußt in die Struktur und die Inhalte der Aktivitäten des Sozialen Dienstes eingebaut werden.
Die kürzlichen Reformen in den Sozialen Diensten haben die Stärkung der individuellen Unabhängigkeit ihrer Klienten betont und wenig, wenn nicht gar keine Aufmerksamkeit darauf verwandt, die Interdependenzen zwischen den Individuen zu unterstreichen. Individuelle Unabhängigkeit als primäres Ziel verstärkt Prozesse der Vereinzelung. Zum Beispiel kann ein geistig Behinderter, mit dem auf individuelle Unabhängigkeit hingearbeitet wird, in einem Ein-Zimmer-Appartement und an einem isolierten und entfremdeten Arbeitsplatz enden. Daher muß beim Aufbau einer gemeinwesenorientierten Perspektive ein Bewußtsein für die Interdependenzen zwischen den Teilhabenden geschaffen werden. Die Wahrnehmung einer echten Verbindung zwischen Kollektiv und Individuum bild