Auf der Suche nach dem Subjekt
Wenn man die Publikationen der deutschen Stadtforschung betrachtet, so dominieren seit einigen Jahren Fragestellungen, die vor allem um Probleme der Exklusion und Integration kreisen. Auch die Gruppe spaceLab hatte in Die Stadt als Beute den Schwerpunkt der Analyse auf Marginalisierungs- und Verdrängungsprozesse gelegt. Mit der Fertigstellung des Buches wuchs jedoch bei uns das Unbehagen über die eigene Vorgehensweise. Zum einen erwiesen sich die Theoreme der Regulationsschule, mit denen wir bislang explizit oder implizit gearbeitet hatten, als nicht ausreichend, um die gegenwärtige Transformation des sozialen Raums zu erfassen und zu verstehen. Die verschiedenen Strömungen dieser postmarxistischen Gesellschaftstheorie konnten zwar auf differenzierte Weise die Krise des fordistischen Kapitalismus beschreiben, blieben aber häufig formelhaft und blass, wenn es um eine genauere Bestimmung des Postfordismus ging. Gerade was die Frage der handelnden Subjekte anbetraf, tat sich bei uns ein großes Loch auf. Zum anderen empfanden wir unseren Blick auf den städtischen Raum als zu eingeschränkt. Bestimmte Bereiche des urbanen Lebens - wie etwa die Alltagspraktiken der Normalklassen - fanden in den Analysen zu wenig Berücksichtigung. Ebenso blieb unsere Forderung eine Leerformel, auch angesichts der Krise der Stadt ein Verständnis des Sozialen zu entwickeln, das nicht nur als eine Kultur der Probleme erscheint, sondern auch als Entfaltungs- und Möglichkeitsraum.
Auf der Suche nach gesellschafts- und staatskritischen Ansätzen stießen wir wieder auf das Werk von Henri Lefébvre. Der französische Philosoph und Marxist erklärt den Alltag zur entscheidenden Kategorie für den Zusammenhang von Ökonomie und Lebenspraxis der Individuen. Habe bislang im Kapitalismus das Ökonomische eine vorherrschende Rolle gespielt, so komme nun der Alltäglichkeit diese Bedeutung zu. Erklärtes Ziel seines Erkenntnisinteresses ist insbesondere eine Aufwertung der Subjektivität und die Suche nach Spielräumen für Autonomie und Kreativität. Die Kritik des Alltagslebens beschränkt sich nicht auf die Reproduktionssphäre, sondern hat den gesamten Vergesellschaftungsprozess im Blick. Sie schließt somit eine Kritik der politischen Ökonomie mit ein und transzendiert diese zugleich. Der Alltag ist zwar wesentlich von den ökonomisch-technologischen Vorgaben geprägt, dennoch geht die soziale Praxis der Kollektive nicht völlig in der Systemlogik auf: Zurück bleibt immer ein nicht domestizierbarer Rest. Diese Ambiguität produziert Konflikte, die das Alltagsleben als Widerspruchsverhältnis zwischen produktiver Aktivität und passivem Konsum, zwischen Alltäglichkeit und Kreativität strukturieren. Deshalb muss für Lefébvre die Analyse des Bestehenden stets auch auf das Sprengende verweisen und die Frage nach einer befreienden Perspektive stellen. Indem die Kritik am Alltagsleben aufzeigt, wie die Menschen leben, erhebt sie zugleich Anklage gegen die Strategien, aus denen dieser Alltag erwächst und legt die Willkür der herrschenden Ordnung bloß.
Während Lefébvres Alltagskritik angesichts der sozialen Konflikte in den siebziger Jahren in der Bundesrepublik einen gewissen Zuspruch fand, stieß seine andere zentrale These auf weitgehendes Unverständnis: Nicht mehr das Industrielle bilde die Episteme des Spätkapitalismus, sondern das Städtische werde zum strategischen Ort und strategischen Objekt der gesellschaftlichen Entwicklung, die Produktion des Raumes zum dominanten Prozess für die Reproduktion der sozialen Verhältnisse. Für Lefébvre brachte der Prozess der vollständigen Verstädterung eine grundlegende Verschiebung der Erkenntnispraxis mit sich. So wäre zu sagen, daß das Städtische (im Gegensatz zum Urbanismus, dessen Zweideutigkeit deutlich wird) am Horizont aufsteigt, langsam auf epistemologisches Gebiet übergreift, zur Episteme der Zeit wird. Geschichte und Geschichtliches entfernen sich. Psychoanalyse, Linguistik haben, wie die politische Ökonomie, ihren Höhepunkt überschritten und beginnen zu verfallen. Das Städtische ist im Kommen (Lefébvre 1972: 48). Im Städtischen sieht Lefébvre den Keim des Möglichen, das die parzellierte Alltäglichkeit überwinden kann.
Seine Aufforderung, ein kritisches Raum-Denken zu entwickeln, fand jedoch in der hiesigen Stadtforschung wenig Widerhall. Zwar gab es Ansätze, die sich auf marxistische Terminologien stützten, allerdings dominierte dann die Vorgabe, einzig die Ökonomie und das Wertgesetz als universelle Referenten des städtischen Raums anzuerkennen (The German Ableiter). Ende der achtziger Jahre verloren politökonomische Erklärungsmodelle zunehmend an Bedeutung und wurden zugunsten eines Kultur-Dispositivs an den Rand des Wahren gedrängt. Die Öffnung der Disziplin für postmoderne Wissenskonzepte erfolgte jedoch unter weitgehender Ausblendung damit verbundener diskurs- und symbolanalytischer Verfahrensweisen. Insbesondere der Bereich des Macht-Wissen-Komplexes (Foucault etc.) blieb (und bleibt) für die deutsche Stadtforschung eine Leerstelle. Auf diese Weise fiel der romantische Revolutionär (Kurt Meyer) doppelt durchs Raster: Mit der wachsenden Institutionalisierung sozialer Bewegungen (z.B. die Grünen) und dem Verebben militanter Kämpfe ließ das Interesse an einer grundsätzlichen Staats- und Gesellschaftskritik nach. Angesichts des vorherrschenden Regierungsdenkens besaßen die Überlegungen von Lefébvre zur staatlichen Produktionsweise für die deutsche Urbanistik keinen Gebrauchswert mehr.
Der neue Geist des Kapitalismus
Und heute? Können die Überlegungen von Henri Lefébvre dazu beitragen, die Krümmungen und Windungen des postfordistischen Alltags zu verstehen?
Zunächst muss man sich den Transformationsprozess der letzten Jahrzehnte nochmals vergegenwärtigen. Im Laufe der siebziger Jahre gerät das fordistische Wachstumsmodell in eine doppelte Krise. Einerseits erschöpfen sich die Produktivitätsreserven der tayloristischen Arbeitsorganisation, andererseits versagen mit der wachsenden Internationalisierung der Ökonomie die Instrumentarien des keynesianischen Wohlfahrtsstaates. Angesichts der größer werdenden Schere zwischen dem realen gesellschaftlichen Konfliktpotential und den staatlichen Problemlösungsmöglichkeiten artikuliert sich eine wachsende Kritik an der Regulationspraxis der fordistischen Institutionen. Der Neoliberalismus nimmt diese Kritik am Wohlfahrtsstaat gewissermaßen auf und wendet sie gegen die Subjekte: Die mit ihm verbundenen neuen Machttechnologien zielen darauf ab, soziale Risiken zu individualisieren, vormalige Schutzrechte abzubauen und die Menschen der Selbstregulation zu überantworten. Nachdem zu Beginn des letzten Jahrhunderts an die Stelle des autoritär-paternalistischen Regimes Formen einer sachlichen Herrschaft getreten waren, scheint sich gegenwärtig mit der Aufforderung zur kontrollierten Autonomie ein neues soziales Regulativ durchzusetzen.
Was für Auswirkungen die gegenwärtigen gesellschaftlichen Umwälzungen auf die Alltagspraxis der Kollektive und Subjekte haben, ist bislang weder theoretisch noch empirisch hinreichend erforscht. Die Behauptung, dass es einen ausgebildeten postfordistischen Sozialcharakter gebe, stützt sich eher auf Annahmen und Behauptungen. Resümiert man beispielsweise die Ergebnisse industriesoziologischer Studien, so neigt das postfordistische Unternehmen offensichtlich dazu, die Unterschiedlichkeit der Interessenslagen von Kapital und Arbeit aufzuheben und die Lohnabhängigen vollständig unter die Kapitallogik zu subsumieren. Als ideologischer Idealtypus bildet sich so der Arbeitskraftunternehmer heraus, der durch Selbstverantwortlichkeit, Leistungsbereitschaft und Betriebsidentifikation gekennzeichnet ist. Zumindest dem programmatischen Anspruch nach soll die Trennung von Arbeit und Alltag aufgehoben werden. Dieses Konzept hat allerdings wenig mit der Marx'schen Entfremdungskritik gemein. Die Mobilisierung der Subjektivität zielt vielmehr darauf ab, die Fähigkeit und den Willen der Individuen zur Kooperation und Kommunikation aufzusaugen und zu verwerten. Wie der italienische Postoperaist Maurizio Lazzarato zu Recht hervorhebt, handelt es sich hierbei um eine neue Machttechnik. Die Aufforderung zu Subjektivität und Kreativität stellt für ihn einen autoritären Diskurs dar, der den Antagonismus zwischen Autonomie und Kommando nicht tilgt. Seid 'Subjekte der Kommunikation' lautet also die Parole des Managements - und damit verbunden ist die Drohung, sogar totalitärer zu werden als durch die rigide Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit, von Entwurf und Ausführung, denn der Kapitalist zielt darauf, die Subjektivität und Persönlichkeit des Produzenten bei der Produktion des Werts zu vernutzen. Das Kommando soll im Subjekt und in der Kommunikation verankert werden (Lazzarato 1998: 42ff). Natürlich stellt die Figur des Arbeitskraftsunternehmers ein Ideal dar, das für einen großen Bereich des Arbeitsmarktes noch keine reale Bedeutung hat. Gleichwohl könnte es sich dabei um ein Element des sich herausbildenden postfordistischen Sozialcharakters handeln. Allerdings lässt sich gegen Lazzarato einwenden, dass er den neuen Machttechnologien eine totalisierende Hermetik unterstellt. Mit Blick auf mögliche Emanzipationspotentiale wäre jedoch zu fragen, wo und wie das neue Vergesellschaftungsmodell Ambiguitäten und Überschüsse produziert, auf die sich eine kulturrevolutionäre Praxis beziehen kann.
Die grundlegenden Veränderungen der Lebensverhältnisse haben herkömmliche Berufsbilder und Klassenidentitäten hinfällig werden lassen und das Feld der Auseinandersetzung globalisiert. Gleichzeitig untergraben die polarisierenden Folgen der neoliberalen Offensive die materiellen Bedingungen, von denen die Linke bislang implizit oder explizit ausging. Die industriegesellschaftlichen Ressourcen einer kollektiven Solidarität, die aus der gemeinsamen Erfahrung der Arbeit unter entfremdeten Bedingungen entstanden war, haben sich weitgehend verflüchtigt. Die sozialen Träger des alten Klassenkompromisses sind zerkrümelt worden, aber aus den Widersprüchen des neoliberalen Kapitalismus hat sich kein neues kollektives Gegenprojekt entwickelt. Die Hoffnungen auf eine radikale Transformation der kapitalistischen Gesellschaft haben sich nicht nur zerschlagen, die Modelle der fordistischen wie der postfordistischen Linken besitzen auch keine erklärende und mobilisierende Kraft mehr. Die Linke, durch die kapitalistische Restrukturierung gesellschaftlich marginalisiert, scheint keine Antwort auf die neoliberalen Attacken zu finden. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, dass die Opposition gegen den Casino-Kapitalismus meist nur aus einer verschleppten fordistischen Logik heraus opponiert (so beispielsweise Pierre Bourdieu). Eine solche Kritik klagt soziale Gerechtigkeit ein und prangert die Tyrannei des globalisierten Marktes an, der eine Krise der sozialen Integration bewirke. Angesichts wachsender sozialer Härten scheinen sich auch ehemalige Kritiker des Fordismus zum Teil ins goldene Zeitalter zurückzusehnen. Doch dies ist weder möglich noch wünschenswert. Aber ebenso sieht sich die postfordistische Linke damit konfrontiert, dass ihre Forderungen nach Selbstverwirklichung und Autonomie nun zum Bestandteil flexibler Sozialtechniken geworden sind. Nachdem der Kapitalismus die kritische Gegenposition gleichsam absorbiert hat, tendiert diese ehemals legitime Kritik zur Affirmation des Bestehenden.
Damit deuten sich auch die Grenzen der Alltagskritik von Lefébvre an. Er konnte zwar gewisse Dogmen der marxistischen Bewegung aufsprengen, blieb aber letztlich einer geschichtsphilosophisch fundierten Revolutionstheorie verhaftet. Entgegen seinen Vorstellungen, dass eine Entwicklung hin zur Selbstverwaltung fast unvermeidbar sei, ist das Kapital aus der Krise der fordistischen Vergesellschaftung gestärkt hervorgegangen. Die französischen Soziologen Luc Boltanski und Eve Chiapello haben darauf hingewiesen, dass der Kapitalismus im Laufe seiner Geschichte unterschiedlichen Kritikformen ausgesetzt wurde. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts lassen sich demnach grundsätzlich zwei Strömungen erkennen: Die eine richtet sich gegen Ausbeutung und Ungleichheit (critique sociale), die andere thematisiert Aspekte der Autonomie und Selbstverwirklichung (critique artiste). Beide Kritikformen versucht das System aufzugreifen und gegenseitig auszuspielen.
Unsere Hypothese ist, dass der Kapitalismus in seinen jeweiligen Entwicklungsstadien nie beide Arten der Befreiung gleichermaßen anbietet, sondern vielmehr dazu tendiert, auf der einen Ebene zurückzunehmen, was er auf der anderen offeriert. Da indes zwischen beiden Formen der Befreiung eine starke Interdependenz besteht, wirkt jedes Zugeständnis und jede Zurücknahme auf der einen Ebene auf die jeweils andere zurück, was zu einem neuen Stand im Verhältnis zwischen den beiden Formen der Entfremdung führt (Boltanski/Chiapello 2000: 484f.)
So setzen mit der Krise des fordistischen Entwicklungsmodells Strukturveränderungen ein, die den Forderungen der critique artiste eher zu entsprechen scheinen bzw. in Übereinstimmung mit vorherrschenden Entwicklungstendenzen stehen. Die vormals dominante Artikulationweise der critique sociale beginnt hingegen mit dem kapitalistischen Restrukturierungsprozess ihre herausragende Rolle als Befreiungsideologie einzubüßen. Durch neue Identitäts- und Konsumangebote gelingt es dem flexiblen Kapitalismus, auf Wünsche oder Forderungen der neuen sozialen Bewegungen einzugehen, deren Transgressionsenergien sich mit der Zeit in Lebensstile verwandeln, ohne sich freilich darin aufzulösen. Es ist offensichtlich, dass gegenwärtig die soziale Position der Subjekte nicht nur von der Stellung im Produktions- und Arbeitsprozess abhängt, sondern zunehmend auch von symbolischen Formen der Distinktion, die vor allem auf ästhetischen Erfahrungen und bestimmten Konsummustern beruhen. Trug die fordistische Massenkonsumtion zu einer Öffnung des sozialen Raums und zu einer Freisetzung von Subjektivität bei, so bewirkt heute der Konsum eher eine verstärkte Hierarchisierung der Klassenverhältnisse, sei es über das Medium Geld, mittels distinktiver Lebensstile oder durch eine restriktive Regulierung der Zugänglichkeit von Orten. Zugleich wird der Zuwachs an Kreativität und Selbsttätigkeit mit einem Abbau an sozialen Standards, prekarisierten Arbeitsverhältnissen und einer wachsenden Ausgrenzung der Unproduktiven erkauft.
Eine Auseinandersetzung mit der postfordistischen Alltäglichkeit muss deshalb eine doppelte Stoßrichtung beinhalten: Einerseits gilt es eine critique sociale zu formulieren, die den veränderten Gesellschafts- und Machtstrukturen Rechnung trägt, andererseits muss man die critique artiste davon befreien, zu einer produktivistischen