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Heft 84: Der oder die Sozialstaat? Doing Gender europäischer Wohlfahrtsregime

2002 | Inhalt | Editorial | Abstracts | Leseprobe

Titelseite Heft 84
  • Juni 2002
  • 108 Seiten
  • EUR 11,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-368-3

Maria Bitzan

Sozialpolitische Ver- und Entdeckungen
Geschlechterkonflikte und Soziale Arbeit

Abstract: Der folgende Beitrag gewinnt seine spezifische Blickrichtung auf Soziale Arbeit aus der Voraussetzung, dass gesellschaftliche Konfliktverhältnisse weder adäquat gesellschaftlich wahrgenommen noch in der Öffentlichkeit verhandelt werden. Es geht hier um die Geschlechterkonflikte einer Gesellschaft, die sich selbst als demokratisch, egalitär und gerecht beschreibt hinsichtlich der Gleichheit zwischen Männern und Frauen. Die Betrachtung moderner sozialpolitischer Konstruktionen des Geschlechterverhältnisses, die auch pädagogische und vor allem sozialpädagogische / sozialarbeiterische Professionen einschließen, zielt auf ein Plädoyer für regionale sozialpolitische Öffentlichkeiten, in denen sowohl die Inhalte geschlechterpolitischer Ungleichheiten thematisiert als auch eine andere Bezugnahme von Frauen aufeinander deutlich werden können. Denn ein Kennzeichen dieses Konfliktes ist die Abwertung/Unkenntlichmachung weiblicher Bezugnahmen und ihrer sozialpolitischen Leistungen.

Das Ziel feministischer Bestrebungen ist nicht die Angleichung der weiblichen Lebensentwürfe an die männlichen oder, politisch gesprochen, die einfache Teilhabe am öffentlichen Leben, insbesondere den Entscheidungsstellen. Vielmehr geht es sowohl in praktischer Politik wie auch in emanzipatorischen professionellen Bemühungen um die Erweiterung der Handlungsräume von Mädchen und Frauen. Politisches Ziel ist die Entfaltung von mehr und vielfältigeren Optionen. Das bedeutet, nach den subjektiven Vermögen und Wünschen zu suchen und nach deren Beschränkungen. Das bedeutet auch, nach den Quellen der Bestärkung und Anerkennung zu suchen, die diese Räume auszunutzen ermöglichen. Unter den Bedingungen der Geschlechterhierarchie ist dies nicht so einfach und nicht so selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Den vermehrten Möglichkeiten von Frauen in der Moderne stehen extrem widersprüchliche und, darin enthalten, auch äußerst traditionelle Erwartungen gegenüber, die zu vereinbaren eine Individualleistung jeder Frau und jeden Mädchens darstellt, obwohl die Widersprüche als solche individuell gar nicht lösbar sind (vgl. Bitzan/Funk 1995).

Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen lässt sich zusammenfassen in der These: Typische aus dem Geschlechterverhältnis resultierende Konflikte sind durch Erscheinungsformen der Moderne verdeckt - und gerade nicht gelöst. Sozialpolitische Definitions- und Umgangsweisen (denen auch Sozialpädagogik, Bildungs- und Soziale Arbeit zuzurechnen sind) tragen zur Verdeckung und Normalisierung bei. Will sich die Soziale Arbeit aus dieser funktionalisierenden Aufgabe lösen, kann und muss sie beitragen zu Prozessen der Ent-Deckung der Konflikte. Ein Weg wäre die Gestaltung anderer Formen von Öffentlichkeit und (öffentlicher) Bezugnahme von Frauen aufeinander, die die Anerkennung dieser Konflikte (im Sinn von Wahrnehmung) ermöglicht und sie gesellschaftlich thematisierbar macht.

Um diese Zusammenhänge und Schlussfolgerungen plausibel zu machen, werde ich im folgenden zunächst zu klären haben, - 1. - welchen Charakter moderne Geschlechterverhältnisse haben. Einige Erscheinungsformen dieses spezifischen Verdeckungszusammenhangs lassen sich als Leugnung von Ungleichheit verdeutlichen, und die Rückwirkung auf Selbstwahrnehmungen bei Frauen (Männer habe ich hier weniger im Visier) sind zu betrachten. Dann gilt es, - 2. - Sozialpolitik als Normalisierungsfaktor des Geschlechterverhältnisses aufzuzeigen und - 3. - die Rolle professioneller Arbeit darin zu verdeutlichen. Erst dann lassen sich - 4. - Aspekte sammeln, die professionelle und politische Gegenstrategien bzw. Erfahrungen ansprechen, die der Ent-Öffentlichung entgegenarbeiten und zwischen Partizipation und Differenz Ansätze einer Politik des Sozialen praktizieren.

Geschlechterverhältnisse in der Moderne

Alle jüngeren empirischen Untersuchungen zur alltäglichen Lebensführung von Frauen wie zu Orientierungen junger Frauen hinsichtlich ihrer Lebensplanung (vgl. z.B. Diezinger/Rerrich 1998; Geißler/Oechsle 1996) laufen auf ähnliche Befunde hinaus: Zusammengefasst lässt sich Modernisierung beschreiben als Öffnung des Optionsrahmens für Frauen hinsichtlich ihrer privaten' Lebensführung und ihrer beruflichen Möglichkeiten. Diese neuen Lebensformen stehen allerdings nicht einfach zur Verfügung, sondern sind je individuell auszubalancierende und auszuhandelnde Ergebnisse subjektiver Abwägungen.

Neu ist dabei die Vielfältigkeit der Formen. Die Umsetzung geschieht jedoch in der BRD in einem gesellschaftlichen Rahmen, in dem die Grenzziehungen zwischen Markt, Staat und Privatheit im Gegensatz zu anderen Staaten (und auch im Gegensatz zur ehemaligen DDR) extrem familienlastig zugeschnitten sind. So fassen Diezinger und Rerrich zusammen, dass es trotz des Zugangs von Frauen in Erwerbsarbeit (quantitative und qualitative Zunahme) für diese auch heute noch keineswegs selbstverständlich ist, längerfristig unabhängig von Partner oder Staat mit selbstgeleisteter Erwerbsarbeit die eigene Existenz zu bestreiten; insbesondere, wenn andere Personen miternährt werden müssen (vgl. Diezinger/Rerrich 1998:168f). Fürsorge und Reproduktion (1) bleiben normativ und de facto Sache der Familien und damit praktisch Sache der Frauen. Sie sind also aus der allgemeinen - und damit öffentlich thematisierten - Organisation von Arbeit ausgeschlossen, und alle Folgen dieser Abtrennung und Hierarchisierung werden zu Klärungsbedarf von Frauen definiert. Pauschal und ohne Differenzierungen hinsichtlich Bildungshorizont, regionalen Ressourcen und biografischen sowie herkunftsbedingten Rahmungen formuliert, lässt sich die Auseinandersetzung mit der Balance der verschiedenen Lebensbereiche und die Verarbeitung geschlechtsbezogener Zumutungen, deren Realität gleichzeitig geleugnet werden muss, als die zentrale moderne Anforderung an Frauen definieren. Diese Prozesse sind als private Aufgaben so sehr aus der öffentlichen Thematisierung herausgenommen, dass sie nurmehr als Beratungs- und Unterstützungsbedarf für Frauen aufscheinen. Das nennen wir die Ent-Öffentlichung des Geschlechterkonflikts in der Moderne. Gleichwohl ist diese Sphäre kaum weniger reguliert - allerdings hinter dem Schleier angeblicher Privatentscheidungen.

Die für die Moderne zutreffende doppelte Vergesellschaftung von Frauen (vgl. Becker-Schmidt 1987) wird gemeinhin als Verbesserung für Mädchen und Frauen gehandelt (historisch neue Berufsorientierung, selbständige Lebensführung). Die damit aufgeworfenen neuen Probleme gelten jedoch als besondere Probleme' von Mädchen und Frauen, nicht als politische Herausforderungen. Das, was im Alltag als selbstverständliches Verhalten erscheint, ist also nicht einfach Vollzug alter oder neuer Leitbilder, sondern, wie Diezinger/Rerrich provokativ formulieren, die ständige Neuerfindung des Altbekannten. Kritik und überschüssige Wünsche bleiben eingeschlossen in individuelle Abwägungen - Entscheidungen erscheinen unspektakulär als individuelle Lösung. Eingebettet in die Ideologie der Gleichheit der Geschlechter wählen die Subjekte vermeintlich frei ihre Lebensformen.

"Gerade die Idee der romantischen Liebe als Modell der Gleichheit zwischen ungleichen Partnern erlaubt es, die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu dethematisieren und damit scheinbar zu neutralisieren" (Oechsle 1998: 196).

Als Folgen dieser spezifischen sozialstaatlichen Form von Modernisierung werden Frauen - so Böhnisch et al. 1999 - von sozialstaatlichen Krisen direkter personell erfasst: Z.B. müssen sie persönlich schnell reagieren bei staatlichen Versorgungslücken (zu wenig Kindergartenplätze, Schulausfall, Altenversorgung ...), z.B. müssen sie herhalten bei der Bewältigung der Arbeitslosigkeit, z.B. haben sie sozusagen bei jedem Gang zum Sozialamt die Sozialhilfe-Debatte vor Augen (Legitimation des Schmarotzerdaseins') und z.B. obliegen ihnen im Alltag des Lebens in Armut die gestalterischen Anteile (Haushalt, Wohnung sauberhalten, Ansehen der häuslichen Umgebung, Kindererziehung in beengten Verhältnissen, Essen kochen aus nichts...) (vgl. Bitzan/Klöck 1993). (3) So sind auch die klassischen' Auswirkungen der Geschlechterhierarchie nicht aufgelöst: die ubiquitär zur spürende Misogynie, die ungebrochene Normalität' von Gewalt gegen Frauen, mit der Frauen irgendwie leben müssen.

Wir haben zur Beschreibung dieser Form von Modernisierung das (theoretische) Konstrukt des geschlechtshierarchischen Verdeckungszusammenhangs entwickelt, mit dem die im funktionierenden Alltag verwischten Konflikte sichtbar gemacht werden können. Der theoretisch offene Ansatz eignet sich für die Untersuchung der Verbindung von strukturellen Bedingungen mit den Strategien, mit denen sie durch die Subjekte (verändernd) reproduziert werden. Verdeckungen wirken als Vereindeutigungen und Übergehen widersprüchlicher Anforderungen und Voraussetzungen - Ent-Öffentlichung - und spielen die Folgen den Frauen zu. Sie wirken im Bereich sozialpolitischer Normalitätsmuster (z.B. Familienorientierung, z.B. in der Ausklammerung der grundlegenden Bedeutung von Bedürftigkeit aus dem gesellschaftlich Relevanten), im Bereich gesellschaftlicher Symbolproduktion (z.B. der Bilder von modernem Frau-Sein), und sie schlagen sich nieder auf die eigenen biografischen Konstruktionen: als Individualisierung von Gelingen und Scheitern (vgl. Bitzan et al. 2000). Die Verdeckungen und Umdeutungen greifen ineinander und bilden so einen engen Wirkungs-Zusammenhang, mit dem die Strukturen reproduziert werden. (2) Das eigene Bewusstsein/Empfinden ist geprägt von (inneren) Vermittlungen zwischen (verunsichernden) Erfahrungen, beschränkten Vorgaben und teilweise neuen Möglichkeiten. Obwohl deren Bewältigung ständig erwartet wird, stellen die Lebensbereiche der Reproduktionsaufgabe (Care-Bereich) keine Bezugsgrößen dar, auf die sich Mädchen und Frauen öffentlich als moderne und politische Gesellschaftsmitglieder beziehen können. So entsteht Verwirrung, Erfahrung von Übergangenheit, die nirgends eingeklagt werden kann. Das geht bis in die eigenen Wahrnehmungen hinein: Sie können sich ihrer selbst nicht ganz sicher sein - und damit auch anderen Frauen und Mädchen nicht.

Normalisierung 1: Sozialpolitik

Das Gesellschaftskonzept des modernen demokratischen Wohlfahrtsstaates beinhaltet bestimmte Formen der System- und der Sozialintegration - so Böhnisch (1994). Dies wird geregelt in spezifischen Zuschnitten von Ansprüchen der Subjekte und Zumutungen des Staates (als soziokulturelle Definitionen von Lebensweisen). Diese Konstellationen sind für die Geschlechter nicht gleich, bzw. präziser: Mit ihnen werden - unter anderem - Geschlechter konstruiert, d.h. Zuschnitte durchgesetzt, die je für Mann' oder Frau' unterschiedliche Orientierungsmuster bereitstellen.

Die Systemintegration betrifft vor allem die ökonomischen Grundlagen des kapitalistischen Wirtschaftssystems, die bezüglich des Geschlechterverhältnisses in Form der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung organisiert sind.

Die soziale Integration in moderner Form ist zunehmend eine staatliche Aufgabe (4) und zeigt sich

  • im rechtlich-ideologischen Bereich als Paradigma der Gleichheit: eine egalitäre Gesellschaft, die allen Mitgliedern "ohne Ansehen der Person" die gleichen Rechte und Teilhabe zugesteht;
  • im sozialen normativen Bereich als Normalisierung auch von Abweichendem (in bestimmten Grenzen). (5)

Beides vollzieht sich über spezifische Institutionen mit entsprechenden Umgangsregeln: Gesetzliche Rechte und ihre Agenturen der Durchsetzung sowie Institutionen der Bildung, der sozialen Sicherung sowie der Sozialarbeit/ pädagogik. Es sind, anders gesprochen, Formen, wie in dieser Gesellschaft der Umgang mit Differenz organisiert ist. Das Schmiermittel der Integration ist also die Normalisierung - was bedeutet, dass Differenz negiert oder inferiorisiert wird. Damit verbunden und transportiert werden kulturelle Definitionen von Anspruch und Zumutbarkeit, die je geschlechtsspezifisch unterschiedliche Umgangsweisen mit den zentralen Integrationsfaktoren Arbeit, Beruf, Geld, Familie, Geschlecht etc. beinhalten. Bis Mitte der siebziger Jahre hieß dies für Frauen: Integration primär über das Muster der Ehe und der Familiensubsidiarität - für Männer entsprechend: Arbeitsmarktteilnehmer und Familienernährer. Heute ist dies aufgeweichter (für beide Geschlechter), obwohl die ökonomische Struktur der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung noch geblieben ist.

Zwar hat zwar die sozialintegrative Funktion des Sozialstaats in den siebziger Jahren (mit der Ideologie der Chancengleichheit) ein Leben neben der Arbeitsgesellschaft' möglich gemacht - es gleichzeitig aber so begrenzt und kulturell abgewertet, dass keine Anreize darin liegen (Böhnisch et al. 1999). So ist die familiäre' Lebensform, also die, die im Reproduktionsbereich vonstatten geht, zwar neben der Erwerbsarbeit immer schon die für Frauen vorgesehene gewesen, gleichzeitig aber stets mit dem Sekundärstatus versehen - unzureichend ausgestattet hinsichtlich sozialer Sicherung, Selbstbestimmungsrechten und Anspruchsrahmen. (6)

Sozialhilfe und Soziale Dienste gelten unter dem Integrationsanspruch zum einen zwar als Kompensation für die aus den vorgesehenen Formen der sozialen Sicherung Herausfallenden - aber nur, um die alte Schieflage wieder herzustellen bzw. durch ihre Hilfe noch zu bestätigen. Die Betreffenden erscheinen individuell bedürftig und brauchen Hilfe'. (7) Zum andern dienen diese Institutionen der Normalisierung: Zwischen Ausgrenzung und Kompensation liegen all die im Konkreten oft wohlmeinenden Bemühungen der Bildungs- und Sozialarbeit, Lebensverläufe, Lebenspläne und aktuelle Bewältigungsmuster zu normalisieren - von der Berufsberatung für Hauptschülerinnen über die Stärkung männlichen Cliquengebarens in der Mobilen Jugendarbeit bis hin zum Adoptivrecht oder der sozialpädagogischen Familienhilfe.

Seit einigen Jahren werden, angestoßen von feministischen Wissenschaftlerinnen in Deutschland, England, Skandinavien und den USA, Analysen und politische Impulse zur sozialpolitischen Verfasstheit von Care in den Industriestaaten vorgelegt und diskutiert (vgl. Überblick bei Brückner 2001). Care-Arbeit stellt das Scharnier zwischen Öffentlichkeit und Privatheit dar, das je nach gesellschaftlichem Bedarf flexibel eingestellt wird. Professionelle Soziale Arbeit sorgt unter anderem dafür, dass die privat zu erbringenden Care-Leistungen (von Frauen!) weiterhin in dieser Form von Frauen erbracht werden (Normalisierung). Gleichzeitig ist sie selbst Bestandteil gesellschaftlicher Care-Arbeit.

Ein Kennzeichen der Care-Arbeit ist die Asymmetrie zwischen der persönlichen Verantwortung für die zu erbringende Sorgeleistung (professionell wie ehrenamtlich wie privat) und der Macht über Ressourcen (finanziell, strukturell, Einfluss). Denn die professionelle Arbeit unterliegt der gleichen Abwertung: Auch sie hat einen niedrigen gesellschaftlichen Status. Die Asymmetrie führt zu Konflikten auf allen Ebenen, insbesondere zu Interaktionskonflikten zwischen den Beteiligten. Die Bearbeitung solcher Konflikte geschieht in Formen wie Fortbildungen, Supervision, Qualitätssicherung etc., die jedoch nicht an die Grundstruktur heran kommen.

Auch die aktuellen gesellschaftlichen Segregationsprozesse, die ja zu neuen Aufgaben der Sozialen Arbeit führen, ändern dies nicht. Die Soziale Arbeit wird zunehmend die Funktion der Mediatisierung/Vermittlung der Privatisierung sozialer Aufgaben (Privatanbieter auf dem Markt und Verhäuslichung) übernehmen müssen. Das heißt in erster Linie: die Vermittlung von Fürsorgeleistungen zwischen Frauen in unterschiedlichster Form (privat, ehrenamtlich, professionell; bezahlt, unterbezahlt, unbezahlt). Die Individualisierung - vordergründig eine Befreiung aus vorgegebenen Geschlechterzuweisungen - bringt mit sich, dass Frauen jetzt zunehmend für ihre eigene soziale Sicherung zuständig sind, ohne dass sich die geschlechtshierarchischen Grundmuster geändert hätten. So erscheint Fortschritt im Gewande des Grades, in welchem Frauen dasselbe erreichen können wie Männer - ungeachtet der weiteren Belastungen und Missachtungserfahrungen. Von den Individuen wird das begehrlich aufgenommen, weil es Modernität verspricht. Die Kosten werden unsichtbar gemacht, was sich auf die eigenen Wahrnehmungen niederschlägt.

Dies macht die gegenseitige Wahrnehmung von Frauen schwierig. Frauen präsentieren sich gegenseitig als Vollzieherinnen des modernen Frauenbildes. Normalisierte Konfliktlagen sind nicht mehr als Zumutungen erkennbar, somit nicht kommunizierbar, und Soziale Arbeit trägt dazu bei, - ja, sie erfährt genau hieraus ihre Anerkennung.

Normalisierung 2: Verfachlichung

Soziale Arbeit muss als eine zentrale Vermittlungsagentur für die jeweiligen Zuschnitte von Ansprüchen und Zumutungen analysiert werden. Mit dieser Aufgabe ist aber gleichzeitig deren Verdeckung verbunden. Selbstverständlich erschöpft sich ihr Handlungsspielraum nicht hierin. Wo dieser aber liegt und welche Möglichkeiten der Transformation im Sinne der Erweiterung von autonomer Lebenspraxis aufscheinen, das soll im nächsten Abschnitt geklärt werden. Hier möchte ich zunächst einige Aspekte streifen, die deutlich machen, dass professionelle Bearbeitung im sozialen und sozialpädagogischen Bereich die Tendenz hat, diesen Verdeckungen zu folgen und Ent-Öffentlichung mitzutragen, wenn sie nicht dezidiert reflektiert wird.

Kennzeichen Sozialer Arbeit sind generell unter anderem:

  • Individualisierung (case-work)
  • Problemdefinitionen an Personen - Defizitorientierung,
  • Klientinnenstatus schaffen - zu Bedürftigen definieren, Rechte einschränken.

Einige Beispiele:

  • Sozialhilfe, auch als soziale Beratungs- und Begleitungsarbeit gedacht, bezieht sich in allen Formen (materielle Hilfe ebenso wie psychosoziale Stützung) auf die individuelle Notlage und gewährt ggf. unmittelbare Unterstützung: Das ist für die Person zunächst hilfreich. Die üblichen Formen der Klientelisierung inkl. des Nachweises einer geschlechterkonformen Lebensführung (z.B. Alleinerziehende ohne Mann in der Wohnung, keine Leistungen von einem Mann etc.) mit Bedürftigkeitsprüfung wie die Offenlegung der Verhältnisse und der Wünsche, für die die Leistungen beantragt werden, brauche ich wohl nicht näher auszuführen. Sozialhilfe ist eines der stärksten Mittel, Lebensformen zu reglementieren und in traditionelle Geschlechterverhältnisse zu normalisieren - weder werden homosexuelle Lebensgemeinschaften als Ressourcen-Zusammenhang gesehen, noch gelten intergenerative, nachbarschaftliche oder freundschaftliche Frauenbeziehungen als Ressource, deren Stärkung mitbedacht würde. Im Gegenteil: Nur wenn es um die Kürzung der Mittel geht, kommen solche Kontexte in den Blick - als Einsparungsmöglichkeit, nicht als besonders zu fördernder Zusammenhang.
  • Gerade Problemdiagnosen der Sozialen Arbeit setzen individuell an und haben für spezifische lebensweltliche Bewältigungsressourcen kaum einen Blick. Inwiefern in den schwierigen Lebenssituationen Bewältigungen stecken, inwiefern es nicht geglückte Bearbeitungen von sozialstaatlichen Zumutungen sind - dies geht in die Betrachtung meist ebenso wenig ein.
  • Erziehungsfragen werden in der Jugendhilfe in der Regel als individuelle Themen der Eltern, und das ist immer noch die Mutter, verhandelt und zielen auf Stützung der Familie. Noch selten wird elterliche Verantwortung in der Weise thematisiert, dass es als ein öffentlich relevantes Problem gesehen wird, wenn Väter ihrer Erziehungsverantwortung nicht nachkommen. Auch hier gibt es die Rückwirkung, dass Frauen sich gegenseitig als scharfe Beobachterinnen bezüglich der Erfüllung des Auftrags gute Mutter' beäugen.
  • Die Jugendhilfe hat - trotz Lebensweltorientierung - in ihren unterschiedlichen Feldern ebenfalls einen massiven Geschlechterbias, der Konflikte von Mädchen und auch von Jungen nicht adäquat verstehen kann und z.B. die Normalitäten weiblicher und männlicher Öffentlichkeiten weiterführt (z.B. in offener Jugendarbeit; vgl. Bitzan/Daigler 2001).

Wenn Soziale Arbeit vor allem als Aktionsfeld beschrieben werden muss, in welchem Frauen sich begegnen - als Professionelle und als Betroffene -, dann führen Frauen auch gegenseitig Defizitbeschreibungen und Klientelisierungen durch, auch wenn selbstverständlich die neuen Diskurse aus Frauenbewegung und Modernisierung an den Akteurinnen nicht spurlos vorbeigegangen sind:

  • Durch ein Verständnis von gesellschaftlicher Geschlechterhierarchie konnte Soziale Arbeit Frauen als Opfer (z.B. von männlicher Gewalt) erkennen (etwa geschlagene Frauen, Missbrauch und Weglaufen von Mädchen). Dies hat aber zum Teil zu erneuter Betreuungsmentalität im positiv gemeinten Sinne geführt - zu neuen Formen von Abhängigkeit (Schutz) und Bevormundung, wie frau sich richtig' zu befreien hat (vgl. Debatten um Frauenhäuser, Mädchenhäuser etc.).
  • Ein neues Frauenbild existiert auch in den sozialarbeiterischen Vorstellungen: die aktive selbstbewusste Frau, die sich aus Abhängigkeiten löst. Mit diesen Erwartungen werden Betroffene ebenso konfrontiert wie mit den alten Erwartungen an die klassische Frauen- und Mutterrolle (bspw. Alleinerziehende, die funktionieren' und Selbständigkeit toll finden müssen).

Die Soziale Arbeit hat also ständig doppelte Botschaften für die Frauen bereit. So zeigt sich hier wie unter einem Brennglas, was allen Frauen zugemutet wird. Konflikte und Widersprüche im weiblichen Lebenszusammenhang werden - neben sozialarbeiterischer Betreuung - bearbeitet mit Formen der Bildungsarbeit, in denen es darum geht, besser mit ihnen zurechtzukommen, Kompetenzen zu stärken, zu lernen, sich Beratung zu holen, sich besser zu bewerben etc.. Sie laufen Gefahr, nur' der besseren Integration der Widersprüche in den eigenen Lebenszusammenhang zu dienen und somit die neue Normalität der alles checkenden Frau zu fördern, weil sie an den individuellen Kompetenzen ansetzen und diese zum Angelpunkt des Gelingens machen. Partizipation als Leitlinie moderner Jugendhilfe und moderner, der Gleichberechtigung verpflichteter Politik scheint auf den ersten Blick eine adäquate Antwort. Aber wenn keine Räume geschaffen werden, Widersprüche zum Ausdruck zu bringen, das Ungleichheitstabu zu durchbrechen, funktioniert Partizipation als Transmissionsriemen der Zumutungen und Vernutzung. Dann werden Frauen und besonders Mädchen gern ihre Modernität und Gleichheit in den Vordergrund rücken, zeigen, was sie schaffen. Sich nicht auflösende Überforderungen und Verunsicherungen bleiben bei vielen Verfahren außen vor. Das spricht nicht gegen Partizipation, aber für andere Methoden (vgl. Bitzan/Daigler1999)!

Gleichzeitig zu diesen Verfachlichungen sind aber die Aktionsfelder der Sozialen Arbeit als Sichtfenster zu betrachten, in denen sich am schärfsten ungelöste gesellschaftliche Konflikte zeigen. Soziale Arbeit kann daher auch als Agentur genutzt werden, die Problematiken immer wieder ins Gemeinwesen einzubringen, andere Formen der Bezugnahme zu unterstützen.

Öffentlichkeit und Konfliktorientierung: Für eine andere Frauenbezugnahme

Weil sich also soziale Arbeit nicht automatisch darin erschöpft, Vollstreckerin der Integration in das herrschaftliche Geschlechterverhältnis zu sein, will ich hier - kurz - Perspektiven für eine Soziale Arbeit andeuten, die die Subjekte stärken und Konflikte wieder veröffentlichen kann, welche aus den widersprüchlichen Zumutungen resultieren. Auch geht es um die Ver-Öffentlichung der Ansprüche der Subjekte, die durch die staatliche Frauen- und Sozialpolitik so effizient kanalisiert werden.

Feministische Sozialarbeit hat unter anderem mit den Frauen- und Mädchenprojekten versucht, eine andere Richtung der Behandlung' von Problemen einzuschlagen: Indem Schwierigkeiten von Frauen und Mädchen als Konflikte auf Grund des Geschlechterverhältnisses begriffen werden (und nicht als individuelle Probleme), werden Solidarität und Parteilichkeit postuliert, die die Stärken und Ressourcen der Frauen schätzen, stützen und veröffentlichen sollen (vgl. Bitzan 1999). Die Falle dieser engagierten Arbeit habe ich schon angesprochen: die Gefahr neuer Betreuungsmentalitäten' und letztlich die Versozialpädagogisierung' der Konflikte. So erscheint bspw. - nicht zuletzt durch die erfolgreiche Arbeit der Frauenhäuser - die Gewalt gegen Frauen als Thema der Sozialarbeit, also als ein Fachgebiet, worauf die professionelle Antwort eben der Schutz und die Begleitung der betroffenen Frauen ist. Das Thema ist als gesellschaftlicher Skandal damit entsorgt (vgl. Hagemann-White 1993). Daran lässt sich erkennen, dass sich innerhalb der interaktiven Konstellationen und Rahmungen der Sozialen Arbeit allein kein Ausweg findet und die Versuche sich im Raum der Hilfe und Kontrolle verfangen.

Zwischen der (professionellen) Interaktion und der sozialpolitischen Funktion ist ein anderer Raum erforderlich, der es möglich macht, das, was im Privaten gefangen (und verdeckt) ist, hervorzuholen. Dieser Raum ist die Öffentlichkeit. Zu Hochzeiten der Frauenbewegung ließ sich die Öffentlichkeit teilweise aneignen. Das ist heute so nicht mehr möglich, sind doch Differenzen und Grenzziehungen bedeutsam geworden. Wo die Freiheit zur Wahl des Lebensentwurfs zum individuellen Leitbild geworden ist, entstehen nicht nur Widersprüche in den Subjekten, sondern werden in den Verhältnissen zwischen Frauen (resp. Mädchen) Konflikte aufgeworfen, für die es früher keine Wahrnehmung geben konnte. Becker-Schmidt weist auf die gesellschaftliche Funktionalisierbarkeit kontroverser weiblicher Leitbilder hin und betont daher die Notwendigkeit, für Frauen einen Diskussionsraum zu schaffen, "wo sie klären können, warum diese widersprüchlichen Bilder existieren, was sie bewirken und weshalb sie auch von Frauen aufgegriffen" (zit. nach Oechsle 1998: 198) und, so möchte ich ergänzen, gegeneinander gerichtet werden.

Öffentlichkeit wird, zumindest in aufgeklärter Diskurstheorie, als Arena der Aushandlung begriffen (vgl. Habermas 1990), als verständigungsorientierter, dem demokratischen Diskurs verpflichteter Prozess der Koordination des Politischen. Ohne hier im Einzelnen auf die Kritik dieses Öffentlichkeitskonzeptes einzugehen (vgl. Hauser 1987; Fraser 1994; Schlegel 1998), muss jedoch festgehalten werden, dass die gängige Praxis von Öffentlichkeit - und vor allem der Diskurs hierüber! - als Teil des Verdeckungszusammenhangs zu analysieren ist, - trotz zunehmender Repräsentanz von Frauen in Öffentlichkeit und Politik.

Zum einen haben wir gesehen, dass der Zugang selbst geschlechtsspezifisch segregiert ist (und die öffentliche Frau' häufig gerade dann Möglichkeiten der Artikulation findet, wenn sie von ihrem Frau-Sein absieht), so dass strukturell keine gleichwertige Teilhabe gewährleistet ist. Zum andern sind gerade die Inhalte dessen, was letztlich zum Ausschluss bzw. zu Konflikten von Frauen führt (die hegemoniale männliche Dominanzkultur), nicht Inhalte von Öffentlichkeit. Während der erste Sachverhalt sich mit der Modernisierung abgeschwächt hat, im Zuge der Gleichberechtigung mehr Frauen in der Öffentlichkeit zu sehen sind und für junge Frauen hier inzwischen Vorbilder erkennbar werden, unterliegt der zweite Sachverhalt eher einer Verschärfung, einer zunehmenden Ent-Öffentlichung. Ziel wäre es, das öffentlich verhandelbar zu machen, was ins Private, ins persönliche Erleben eingeschlossen ist. Dann werden auch Differenzen zwischen Frauen erkennbar - nicht als Rivalitäten darum, welche sich am besten in die modernen Anforderungen einzupassen weiß (und daher auch öffentliche Anerkennung genießt), sondern als Spektrum von Kreativität und Anregung. Denn Frauen praktizieren mehr und vielfältigere Lösungen, als öffentlich zur Sprache kommen, und würden gewinnen, wenn sie sich nicht mehr auf bestimmte Formen und Wege reduzieren würden.

Öffentlichkeit als Vermittlungsinstanz zwischen individuellen Bedürfnissen und dem Gesellschaftlichen verhandelt also Bedürfnisse. Allerdings nicht nur die Legitimität und Rangfolge thematisierter Bedürfnisse, sondern darüber hinaus auch die Benennung und damit Anerkennung dessen, was überhaupt ein Bedürfnis ist. Nancy Fraser wies darauf hin, dass es bereits ein Politikum ist, wann und wem es gelingt, maßgebende Definitionen menschlicher Bedürfnisse zu etablieren. Sie macht deutlich, dass zum einen nicht alle - aus Erfahrungen resultierenden - Bedürfnisse den Weg in die öffentliche Benennung finden. Zum andern werden Bedürfnisse, die benannt sind, in gesetzliche, administrative oder therapeutische Angelegenheiten übersetzt und damit tendenziell entpolitisiert (vgl. Fraser 1994: 237ff.). So geht es um die Gewährung oder Verweigerung von Rechten, um verwaltbare Bedürfnisse (z.B. verlängerte Öffnungszeiten von Kindergärten oder sozialpädagogische Familienhilfe bei Überforderung) sowie die Transformation von Konflikten in psychologische Probleme.

"Zugespitzt formuliert heißt das: Das Problem liegt nicht darin, dass die Lebensumstände von Frauen keine sozialpolitische Akzeptanz erfahren, (...) sondern das Problem besteht in der Art und Weise, in der sie sozialpolitisch akzeptiert werden" (Knab 1999: 3).

Hier müssen neue Begegnungsformen erst wieder heraus finden, denn Frauen begegnen sich ja nicht außerhalb dieser Transformationen und ihrer gesellschaftlichen Bedeutungen. Es geht darum, die nach innen rückwirkenden dominierenden Definitionen von Überlastung, Unfähigkeit, Ungenügen oder auch von ungebührender Anspruchshaltung nach außen zu wenden und als Ordnungsprinzipien des Sozialen erkennbar zu machen. Das gilt auch für die nichthegemonialen männlichen Ansprüche an soziale Vergesellschaftungsmöglichkeiten und ihre sozialpolitische Beachtung. Sozialpolitik und Soziale Arbeit liefern bisher die falschen Chiffren dafür, bedienen immer noch das Bild der guten und vor allem zuständigen Mutter, das Bild des Mädchens, das nicht kompetent genug ist für die richtige Berufswahl und das Bild einer zusammengehörigen Familie - und reproduziert mit der familialisierten Verantwortung unbenannt Abhängigkeiten, die auf der kommunikativen und ideologischen Ebene bereits verpönt sind.

Notwendig sind

  • Mittel der Kommunikation und Interpretation; d.h. diskursive Ressourcen, mit denen dann auch neue Formen des Diskurses erfunden werden können. (8) Für die moderneren Verdeckungen gibt es noch wenige Ausdrucksmittel. Es ist zu überlegen, inwiefern auch andere als sprachliche Mittel zunehmend eine Rolle spielen, um Erfahrungen des sekundären Übergangenwerdens thematisierbar zu machen. Zum Beispiel Erfahrungen, die noch in dem Bild der starken Frau, die selbstbewusst ihren Job etc. in die Hand nimmt, zeigen können, welche Reduktionen diese Beschreibung beinhaltet. Hier zeigt sich, dass Benennungen, die in der Frauenbewegung zentral geworden sind, mittlerweile auch wieder Reduzierungen transportieren und zum Teil einer Sozialpolitik zuarbeiten, die auf modernisierte Reprivatisierung sozialer Risiken setzt (z.B. Selbständigkeit).
  • ExpertInnendiskurse, die durch den Erwerb von Teilöffentlichkeiten und ihre Durchlässigkeit von kritischen oppositionellen Segmenten in sozialen Bewegungen als Brückendiskurse fungieren können. Dies können wissenschaftliche Diskurse sein oder solche, die sich aus einer bestimmten Fachlichkeit heraus entwickeln; zum Beispiel Vernetzungen der Mädchenarbeit, die auch Verbindungsmöglichkeiten zu Akteuren emanzipatorischer Jugendarbeit oder Jugendpolitik finden. ExpertInnendiskurse können aber ebenso aus Zusammenschlüssen von Teilöffentlichkeiten entstehen, die keine wissenschaftlichen ExpertInnen sind, sondern etwa besonders Betroffene oder regionale Zusammenschlüsse, die sich mit einem Thema intensiver beschäftigt haben.

Gerade neue Benennungen und vielfältige ExpertInnendiskurse ermöglichen mit der Interpretation (und Infragestellung) des gegebenen Politischen und Fachlichen (!) auch veränderte Interpretationen von Identitäten und Bedürfnissen. Aus diesen Überlegungen lassen sich für pädagogische Praxis Orientierungen ableiten. (9)

  1. Es geht darum, im Handlungsprozess Konflikte aufzuspüren und herauszuarbeiten, Konfliktverhältnisse zu benennen und interaktive Konflikte in größere Zusammenhänge zu stellen. Die Professionelle rechnet systematisch mit vorhandenen Konflikten und trägt dazu bei, erkennbar zu machen, dass in jedem Handeln Konfliktbewältigung eine Rolle spielt. So kann sie Probleme' anders deuten und Differenz anerkennen.
  2. Als Professionelle müssen wir davon ausgehen, dass hinter den starken Selbstbildern ein prekärer Selbstbezug bei Frauen Unsicherheit sowie Misstrauen gegenüber Anderen erzeugt. Wer sich ihrer selbst nicht sicher ist, ist sich auch der Anderen nicht sicher und sucht Anerkennung da, wo vermeintlich die Sicherheit herkommt: im männlichen Bezugssystem. Immer noch machen auch junge Frauen die Erfahrung, dass es nicht wirklich gesellschaftlichen Wert bringt, sich auf Frauen zu beziehen. Somit kann aus der positiv verstandenen, bewusst praktizierten weiblichen Bezugnahme aufeinander (die nicht mit Harmonie zu verwechseln ist) eine Strategie entwickelt werden, die Anliegen und Erfahrungen von Frauen ins Licht der Wahrnehmung rückt und zu Wirklichkeit definiert. Es geht hiermit also um (alternative) Deutungen dessen, was wichtig' ist, was Lebenszusammenhänge bestimmt und welche Bedürfnisse daraus entstehen.
  3. Es geht aber nicht nur um die Schaffung neuer Bezugnahmen, sondern auch um die Wahrnehmung von vorhandenen Bezügen, die - von der symbolischen und öffentlichen Ordnung verschwiegen - immer auch existieren. Und zwar in Alltagssituationen, in Hilfesituationen, in Generationenbeziehungen und z.B. in weltanschaulichen Gruppen etc.. Charakteristisch ist die Unbenanntheit und Abwertung. Es geht darum, sichtbar zu machen, welche Sicherheiten und Bedeutungen aus dem Bezug von Frauen entstehen und wie hier ein Wissen um Bedürfnisse und Lösungsmöglichkeiten vorhanden ist, das normalerweise' unerkannt vernutzt wird und für die Frauen selbst nicht mehr kenntlich ist.
  4. Auch für fachpolitisches Engagement hat sich eine Doppelstrategie als (weiterhin) notwendig erwiesen: Einmischung in die fachpolitischen Debatten braucht das Pendant eigener Orte, in denen Pädagoginnen nicht nur Strategien gegen die Marginalisierung und für die Thematisierung ihrer Perspektive entwickeln, sondern die sie nutzen, Verunsicherungen, uneindeutige Wahrnehmungen, andere fachliche Impulse zu veröffentlichen, ohne sie in das herrschende Definitionssystem einzupassen. Nicht nur gefundene Lösungen verteidigen (= sozialpolitische Anerkennung suchen), sondern Raum für neue, verschiedene erlauben. (10)

Zusammenfassend kann also andere Öffentlichkeit die sozialpolitischen Grundannahmen in Frage stellen und anderes Denken politisieren. Pädagogische Fachlichkeit kann dabei hilfreich sein, indem sie

  • Räume bereitstellt und stützt, in denen Verständigung unter Frauen möglich ist;
  • Differenz als Produktives kreativ einbringt und sich selbst in Beziehung setzt als Nicht-Gleiche;
  • Reibungen, Widersprüchliches, Ungereimtes offen hält, dafür Räume inszeniert;
  • "Weg-Lernen" inszeniert, d.h. bewusst aktive Schritte selbst geht und anbietet gegen die verinnerlichte Abwertung von Frauenbezügen (vgl. Hooks 1994).

Umdefinitionen der ideologisierten Wirklichkeit sind am ehesten über die Vielfältigkeit der vorhandenen Praxen herzustellen, wenn sie benannt werden können und die Strukturmuster der Widersprüche an ihren gesellschaftlichen Ort zurückdefiniert werden. Zu Recht mutmaßt Thürmer-Rohr (1995), dass nicht (mehr) die großen Gesamtentwürfe verbindend und zündend sein können, sondern immer wieder konkrete Fragen gegen die eingängigen Lösungen und vorgeschlagenen sozialen Definitionen. Hieraus ergeben sich durchaus wechselnde Bündnisse und Aktionsformen. (11)

Anmerkung

1. Dieser für Beziehungs- und Versorgungstätigkeiten verwendete Begriff wird in feministischen Zusammenhängen kritisiert, weil er suggeriert, hier werde nichts 'hergestellt', und weil er zu funktional auf den (ökonomischen) Produktionsprozess bezogen ist.

2. Das bedeutet nicht, dass Männer nicht von Krisen erfasst würden, aber dies geschieht vermittelter über Erwerbsarbeit und über den Puffer' Familie.

3. Nun ist die moderne geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zwar erheblich elastischer geworden und an den Rändern aufgeweicht (und im Erscheinungsbild der berufstätigen Mütter und der Kinderwagen schiebenden Männer nicht mehr so leicht zu erkennen), aber die letzte Illusion, dass diese Basis wirklich verändert wäre, raubte die Annektion der ehemaligen DDR und die Aufzwingung des BRD-Modells auf Gesamtdeutschland.

4. Weil sie erst anfiel, als alte Formen sozialer Zusammenhänge quasi naturwüchsig nicht mehr funktionierten - z.B. durch den Wandel der Systemintegration.

5. Andernfalls folgt Ausgrenzung (Heime, Knast, Psychiatrie). Beides dient der Bestärkung der Normalität.

6. Der Grad der Dekommodifizierung ist üblicherweise ein Maßstab für die Sozialstaatlichkeit einer Gesellschaft. Für die Care-Arbeit gilt dies nicht, da sie im wesentlichen noch gar nicht kommodifiziert wurde.

7. Für den Ausschluss sind primär andere Institutionen zuständig.

8. Eindrucksvoll zeigten dies die Selbsterfahrungsgruppen in den Anfängen der neuen Frauenbewegung, wo Frauen zum ersten Mal Worte für ihre Erfahrungen der Zurücksetzung und des Übergangenwerdens fanden.

9. Wie im übrigen auch für Forschungsvorhaben.

10. Ein weibliches Bezugsnetz zu schaffen und wertzuschätzen, bedeutet nun gerade nicht, essentialistische Überhöhungen eines abstrakten Weiblichen vorzunehmen, sondern einer Realität Anerkennung und Bedeutung (Status) zu geben, die normalerweise als unpolitisch' (privat) definiert wird. Auch in der Frauenforschung stellen gerade Netzwerkbeziehungen von Frauen im Zwischenbereich von Privatheit und Öffentlichkeit tendenziell einen blinden Fleck dar.

11. Zu vermuten ist, dass Gesellschaften in Bewegung auch mehr Spielräume für andere Formen der Öffentlichkeit und des Diskurses über Bedürfnisse ermöglichen. Als das System der DDR zusammenbrach, entstanden überall runde Tische und Foren, in denen von Grund auf diskutiert wurde, was denn die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger sind. Dass diese Formen so schnell so kläglich aus der politischen Praxis verschwanden, ist der gewaltförmigen Vereinnahmung durch die BRD-Politik zu verdanken, die genau hierfür keine Räume riskierte: Neues zu probieren, andere Definitionen probehalber zuzulassen, andere Regelungen des Sozialen aufzunehmen. So stark war der Anpassungsdruck, dass fraglos starr die Regelungen des westlichen Sozialsystems etabliert wurden, dass Frauen schon kurze Zeit danach sich selbst so beschrieben, wie es die Bedürfnisform für dieses System vorgibt.

Literatur

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Oechsle, Mechthild; Geissler, Birgit 1998: Die ungleiche Gleichheit. Junge Frauen und der Wandel im Geschlechterverhältnis. Opladen

Schlegel, Adelheid 1998: "Ohne Frauen ist kein Staat zu machen!" Zur Bedeutung der Öffentlichkeit im weiblichen Lebenszusammenhang. Unveröffentl. Diplomarbeit, Tübingen Thürmer-Rohr, Christina 1995: Denken der Differenz. Feminismus und Postmoderne. In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 39, S. 87-97

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