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Heft 83: Zur globalen Regulierung des Bildungssystems

2002 | Inhalt | Editorial | Abstracts | Leseprobe

Titelseite Heft 83
  • März 2002
  • 128 Seiten
  • EUR 11,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-365-9

Jürgen Klausenitzer

Altes und Neues
Anmerkungen zur Diskussion über die gegenwärtige Restrukturierung des deutschen Bildungswesens

Abstract: Im Kontext eines von Weltbank, OECD, WTO und EU organisierten globalen Paradigmenwechsels wird in der Bundesrepublik Deutschland eine Restrukturierung des Bildungswesens als Teil der allgemeinen Öffentlichen Dienste vorgenommen, die auf größere Kosteneffizienz, Senkung der Staatsquote und Rückführung der Bildungsexpansion der siebziger Jahre hin orientiert ist. Aus den verschiedenen Maßnahmen der deutschen Bundesländer zur Realisierung dieses Ziels lassen sich idealtypisch zwei Varianten identifizieren: eine konservative, die versucht, mit verschärfter Selektion das dreigliedrige Schulwesen zu stärken, Eliten zu fördern und damit die Legitimität des Bildungswesens zu stärken; und eine modernisierende, die mit Hilfe von Markt und Management versucht, kosteneffizientere Steuerungsformen durchzusetzen. Vorbereitet wird diese Restrukturierung durch die Delegitimierung des alten staatsbürokratischen Schulwesens und durch die Organisierung eines neuen common sense über das, was in Bildungsinstitutionen öffentlich als angemessen erachtet wird. Chancengleichheit und Autonomie werden durch öffentliche Diskurse neu bestimmt. Der Staat bleibt als organisierendes Element der Reproduktion der Gesellschaft weitgehend außerhalb der Analyse. Die beschriebenen Entwicklungen legen die Frage nahe, wie weit das gegenwärtig organisierte "institutional renewal" (OECD) das Verhältnis von Schule und Gesellschaft grundsätzlich neu bestimmt.

Der vorliegende Text basiert auf der Übersetzung eines an der Universität Keele/Newcastle gehaltenen Vortrags (vgl. Klausenitzer 2001b).

Nebeneinander von Alt und Neu

Der Umstand, dass auch die Reform des deutschen Schulwesens (1) in den siebziger Jahren dessen stark selektiven Charakter nicht wesentlich verändert (vgl. Lersch 2001: 147f.; Geißler 1996: 256f.; Krais 1996: 118f.), sondern den Graben zwischen Kindern von Eltern mit niedrigem sozioökonomischem Status und Mittelschichtkindern eher vergrößert hat, war in den achtziger und neunziger Jahren von keiner Relevanz in der öffentlichen bildungspolitischen Debatte. Deren Fokus war in erster Linie auf die Schule als Einzelinstitution und ihren Beitrag zur Verbesserung von Schülerleistungen gerichtet. Seit den neunziger Jahren kreisen die wesentlichen öffentlichen Debatten um die Frage, wie es gelingen kann, das, was als Blockaden der bürokratischen Staatsschule definiert wird, aufzulösen und deren innovatives Potential freizusetzen (Stichworte: Autonomie und Eigenverantwortung, Wettbewerb und Neue Verwaltungssteuerung, Qualitätssicherung und Evaluation). Zentral ist dabei die Annahme, dass dies erst mit der Etablierung eines neuen "institutional setting" (Chubb/Moe 1990: 36) oder eines "institutional renewal" (OECD 1995: 7) möglich wird.

Die wesentlichen Protagonisten dieses Diskurses - Schulverwaltungsbeamte, Medien, Repräsentanten der Wirtschaft und die Experten in Organisationsentwicklung und Betriebswirtschaft - agieren vor dem Hintergrund einer Restrukturierung des Wohlfahrtsstaates und seiner Institutionen, deren Steuerungsparameter nun nicht nur national, sondern global (vgl. Klausenitzer 2001a) als Markt und Management bestimmt werden. Im Bildungsbereich ignoriert der Diskurs über Autonomie und Qualität den ökonomischen Kontext weitgehend oder akzeptiert ihn und die Finanzkrise des Staates samt den Anforderungen der Wissensgesellschaft' und des globalen Wettbewerbs als nicht zu hinterfragende Gegebenheiten (vgl. Radtke/Weiß 2000). Wir haben es eher mit einem Restrukturierungsprozess der Öffentlichen Dienste zu tun als mit einer Bildungsreform - einem Top-down-Prozess, der Lehrer als Träger von Lehr- und Lernprozessen marginalisiert und Eltern zu privaten, individuellen Kunden definiert.

Eine entscheidende Rolle bei der Initiierung und Organisation der öffentlichen bildungspolitischen Debatte in Deutschland spielte und spielt die Bertelsmann-Stiftung. Reinhard Mohn, Eigner des Bertelsmann-Konzerns (vgl. Bennhold 2001: 279f.), war neben Vertretern von Volkswagen und der Deutschen Bank, Ökonomen und Erziehungswissenschaftlern prominentes Mitglied einer Anfang der neunziger Jahre von dem nordrhein-westfälischen Sozialdemokraten ins Leben gerufenen Bildungskommission "Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft". Der Kommissionsbericht, unter dem nämlichen Titel publiziert (vgl. Bildungskommission NRW 1995), ist für die öffentliche bildungspolitische Debatte in Deutschland ein wichtiger Text. Er enthält im wesentlichen alle Grundzüge der neuen institutionellen Rahmenbedingungen: teilautonome Schulen, Wettbewerb unter den Schulen, Evaluation, Kompetenzen und Schlüsselqualifikationen (der Wissensgesellschaft'), modulare Strukturen, engere Beziehungen von Schule und Wirtschaft. Die Bertelsmann-Stiftung war und ist nicht nur führende Organisatorin der öffentlichen Diskussion, sie organisiert auch eine Reihe von Projekten in den 16 deutschen Ländern - unter anderem gemeinsam mit dem nordrhein-westfälischen Schulministerium das in 52 Schulen durchgeführte Pilotprojekt Schule & Co. (vgl. Bertelsmann-Stiftung o.J.).

Im Folgenden wird der Versuch unternommen, anhand der Entwicklung in zwei Bundesländern die These zu belegen, dass die im Anschluss an die Rückführung von Bildungsausgaben nun in Angriff genommene Restrukturierung des "insitutional setting" des deutschen Bildungswesens im wesentlichen von zwei Entwicklungssträngen geprägt ist, nämlich

  • der Verschärfung des selektiven Charakters des dreigliedrigen Schulsystems sowie
  • der Einführung von Markt- und Management-Elementen.

Im Folgenden werden Grundzüge von Maßnahmen beschrieben, die in ausgewählten Bundesländern durchgeführt wurden bzw. werden und die Besonderheit der gegenwärtigen (Übergangs-)Situation verdeutlichen. Dabei sind vor allem zwei verschiedene Entwicklungsstränge anzutreffen, die allerdings in der Realität gar nicht voneinander getrennt werden können, weil sie oft mit- oder nebeneinander existieren. (2)

Verschärfung des selektiven Charakters des dreigliedrigen Schulsystems (3)

Konservative Bildungspolitik wird im wesentlichen charakterisiert von den Versuchen,

  • die Selektions- und Allokationsfunktion des Bildungswesens aufrecht zu erhalten und den Bedürfnissen der Wirtschaft anzupassen sowie
  • das Gymnasium als Eliteschule, die es einmal war, zu erhalten bzw. wieder herzustellen - vor allem für die traditionelle Mittelschicht, die sich den Königsweg' zur Universität und damit zu größeren Chancen auf Beschäftigung sichern will.

Angesichts der gegenwärtigen Veränderungen, die dazu führen, dass eine Politik der Chancengleichheit faktisch marginalisiert ist oder lediglich instrumentell, nämlich als Beitrag zur sozialen Kohäsion gesehen wird (vgl. OECD 1995: 7; 2001: 83f.), bleibt kaum eine klare Unterscheidungslinie zwischen konservativer und sozialdemokratischer Bildungspolitik zu erkennen. Das Gesamtbild wird mit der Vereinigung von West- und Ostdeutschland noch komplexer, denn die Neuen Länder haben zwar weitgehend das westdeutsche Bildungssystem übernommen, an einigen Standards, wie z.B. dem Abitur nach zwölf Jahren, aber festgehalten - quasi im Vorgriff auf gesamtdeutsche Entwicklungen (vgl. Weiß/Weishaupt 1999: 119). Immerhin können in allen 16 Bundesländern Entwicklungen und Tendenzen beobachtet werden, die sich (unter Verzicht auf die Analyse interner Widersprüche) wie folgt skizzieren lassen: (4)

  • Verkürzung der Schulzeit von 13 auf 12 Jahre;
  • Einführung von zentral verwalteten Abschlussprüfungen in den Klassen 9, 10 und 13 bzw. 12 (Zentralabitur);
  • Zurücknahme von Wahlmöglichkeiten in der Oberstufe und damit Revision der in den siebziger Jahren eingeführten Oberstufenreform als Vorbereitung auf das Studium;
  • Verschärfung der Anforderungen in Tests und Prüfungen;
  • Reorganisation der Curricula im Sinne traditioneller Werte - auch im Kontext der Schulverkürzung und der Diskussion um ein Kerncurriculum;
  • Unterstützung für Hochbegabte und "Fast-track"-Schulbiographien im Zusammenhang mit der Ermöglichung von "Vielfalt und Elitebildung" (excellency). (5)

Es ist abzusehen, dass diese Maßnahmen Kindern, die nicht aus Familien mit akademischem Bildungshintergrund kommen, vermehrt Schwierigkeiten bereiten und somit zu einer weiteren Vertiefung des Grabens zwischen Kindern aus der Mittelschicht und solchen, die aus bildungsferneren Schichten kommen, führen werden. Angesichts der Tatsachen, dass die hohe Selektivität des Schulsystems nicht ernsthaft in Frage gestellt wird(6) und dass der ideologische Fokus der Bildungsdebatte unter anderem auf die Ermöglichung von Differenz und Vielfalt, d.h. Polarisierung gerichtet ist, ist es gegenwärtig nicht sehr wahrscheinlich, dass sich an diesen Maßnahmen größere gesellschaftliche Konflikte entzünden.

Dass sieben Bundesländer bereits zentral verwaltete Abschlussprüfungen eingerichtet haben und zumindest Hessen und Brandenburg solche planen, verweist nicht nur auf den vorhandenen Willen zur Verschärfung der Selektivität des Schulwesens, sondern kann auch als erster Schritt hin zur Einführung eines zentral verwalteten Evaluationssystems und eines verbindlichen Kerncurriculums entlang europäischer Indikatoren interpretiert werden (vgl. Europäische Kommission 2000).

Die Verschärfung des selektiven Charakters des Bildungswesens ist die konservative Variante der Kostenreduktionsstrategie. Sie ist die konservative Antwort auf die Verschwendung qua Überproduktion' durch die Bildungsexpansion der siebziger und achtziger Jahre: Zwar hat sich der Prozentsatz derer, die die allgemeine Hochschulreife erlangen, von 6,1% (1960) auf 27% (1994; plus 10,2% Fachhochschulreife) erhöht; aber während also ca. 35% den (Fach-)Hochschulzugang erwerben, sind es nur ca. 17%, die das Studium erfolgreich beenden - soweit sie überhaupt ein Hochschulstudium aufgenommen haben (Klemm/Weegen (2000) bezeichnen dies als "ausbremsende Stagnation der universitären Abschlussquote"). Dies ist in den Augen derer, die Bildungsausgaben unter dem Blickwinkel kosteneffizienter Investition in Humankapital betrachten, unakzeptabel.

Die Verschärfung des selektiven Charakters des dreigliedrigen Schulwesens kann aber auch als Chance begriffen werden, nicht nur das konservative Konzept natürlicher' eignungsbezogener Lerntypen für bestimmte berufliche Gruppierungen wieder zu stärken, sondern auch ein Stück Legitimität des Bildungswesens in seiner Funktion als Zertifizierungsinstanz, das den Übergang vom Bildungs- zum Beschäftigungswesen reguliert und in Folge von Bildungsexpansion und Verwertungskrise gefährdet erscheint, zurückzugewinnen.

Einführung von Markt und Management

Während konservative Landesregierungen (z.B. Bayern, Baden-Württemberg) ihre Vorstellungen von Bildungspolitik an traditionellen Werten (versinnbildlicht in den sogenannten Kopfnoten), traditionellen schultypischen Lehrplänen und dem dreigliedrigen Schulwesen ausrichten, haben sozialdemokratische Länderregierungen (z.B. Hamburg, Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen) als erste im Bildungswesen über Elemente einer dezentralisierten und ergebnisorientierten Steuerungsstrategie der Bildungsverwaltung als Teil einer allgemeinen Restrukturierung der öffentlichen Verwaltung nachgedacht. Im Kontext einer sehr allgemein gehaltenen Debatte über Autonomie und Eigenverantwortung, Qualitätssicherung und Evaluation wurden unter anderen folgende Elemente einer neuen Verwaltungssteuerung realisiert:

  • (teil-)autonomes Management für einen bestimmten, auszuweitenden Prozentsatz des Gesamtbudgets einer Schule, Kosten-Leistungsrechnung und damit Ablösung der alten Prinzipien der Kameralistik;
  • Stärkung der Rolle des/der SchulleiterIn;
  • Entwicklung von Schulprogrammen.

Die Einführung dieser Elemente wurde von einem Diskurs über Qualitätssicherung und Evaluation (vgl. Maritzen 1999) begleitet - einem Diskurs, in dessen Hauptströmung offensichtlich über nationale wie internationale ökonomisch-politische Bedingungen und damit auch Konsequenzen der Einführung neuer Steuerungsinstrumente hinweggesehen wird (z.B. bei der Einführung zentral definierter Indikatoren für Qualität und bei der Privatisierung im Kontext der WTO/GATS-Handelsliberalisierung). Auf diese Weise wird z.B. die Frage umgangen, was Autonomie für eine Schule in der Realität, jenseits der Rhetorik eigentlich heißt. Die allgemeine Perspektive einer neuen Verwaltungssteuerung und die Folgen ergebnisorientierter Steuerung und Finanzierung als Mittel der Effizienzsteigerung und Kostenreduktion für Institutionen im Bildungsbereich bleiben für die z.B. an der Formulierung von Schulprogrammen beteiligten LehrerInnen weitgehend im Dunkeln - obwohl die Konsequenzen an (kritischen) Analysen der Restrukturierung in Ländern, in denen Erfahrungen mit betriebswirtschaftlich orientierter Steuerung vorliegen, ziemlich deutlich abzulesen sind (vgl. z.B. Ball 1994; Gewirtz et al. 1995; Whitty et al. 1998; Klausenitzer 1999a; b).

Im Folgenden wird die gegenwärtige Situation am Beispiel von zwei Bundesländern beschrieben, die die oben skizzierten Maßnahmen - z.T. parallel zu den konservativen - implementiert haben bzw. gerade dabei sind.

Hessen

Hessen hat nach einer rot-grünen Koalition seit 1999 eine konservative Regierung (CDU/FDP) und kann als Beispiel für eine Situation des Nebeneinander von Altem und Neuem sowie eine Politik der kleinen Schritte bei der Restrukturierung des Bildungssektors gelten. Auf der Basis einer Kostenanalyse für den Öffentlichen Dienst bis zum Jahr 2015 (vgl. Bericht des Staatssekretärsausschusses 1997) hatte Rot-Grün im Jahre 1998 die Einführung der Neuen Verwaltungssteuerung beschlossen (vgl. Knobloch 2000: 2f.). Bereits 1992 hatte die Koalition das Schulgesetz geändert (vgl. Frommelt 1995: 185f.), wodurch die Einzelschule teilweise größere Kompetenzen im Sinne der "Bewirtschaftung von Personal- und Sachmitteln" zur Stärkung der Eigenverantwortung erhielt. Das neue Gesetz führte die Schulkonferenz aus Vertretern von Eltern, Lehrern und Schülern ein, die pädagogische und organisatorische Fragen nicht nur beraten, sondern auch entscheiden kann, wie z.B. die Anzahl von Schultagen (fünf oder sechs) oder die Entwicklung eines Schulprofils bzw. Schulprogramms. In gewissem Maße ermöglichte es auch, Personal selbständig anzustellen oder auf die Besetzung von Stellen größeren Einfluss zu nehmen.

In Teilen des Öffentlichen Dienstes außerhalb des Bildungsbereichs wurde die Neue Verwaltungssteuerung bereits in den neunziger Jahren eingeführt. Auf der kommunalen Ebene, bei der die Verantwortung für Gebäude, Instandhaltung, Reinigungsdienst, Sekretärinnen etc. liegt, machten es manche Kommunen zur Auflage, die Prinzipien des modernen Rechnungswesens (doppelte Buchführung) anzuwenden (vgl. Böttcher 1997: 203f.). 1994 unterstützte die rot-grüne Koalition ein Pilotprojekt im Landkreis Wetterau, das den Schulen im Rahmen der allgemeinen Verwaltungsreform erlaubte, ihre Schulbudgets relativ weitgehend eigenständig zu handhaben.

Nun soll im Landkreis Groß-Gerau unter der konservativen Landesregierung das Pilotprojekt Budgetierung von Schulen (manchmal auch Gemeinsame Verantwortung für Bildung und Erziehung in hessischen Schulen genannt) zur Umsetzung des Beschlusses der rot-grünen Koalition zur Einführung der Neuen Verwaltungssteuerung in der hessischen Verwaltung durchgeführt werden (Freiling 2001: 16f.). Ergebnisorientiertes Kontraktmanagement zwischen Einzelschule und zentraler Schulverwaltungvii wird die Grundlage sein für Schulbudget und Evaluationssystem. Die Kosten-Leistungs-Rechnung als Teil der Neuen Verwaltungssteuerung wird das alte kameralistische Verfahren der Kostenverwaltung ablösen, das im Hinblick auf Transparenz und ökonomische Anreize als veraltet beschrieben wird. Das Pilotprojekt soll bis zum Jahr 2008 laufen. Parallel dazu - also vor einer abschließenden Evaluierung - soll die Neue Verwaltungssteuerung, unterstützt von einem neuen SAP-Computerprogramm (Kosten: mindestens 50 Mio. €), ab 2003/4 landesweit eingeführt werden. Die Planungen sehen eine "wissenschaftliche Begleitung" entweder durch die Bertelsmann-Stiftung oder durch die internationale Management-Firma Accenture vor.

Parallel zu diesem bereits von der rot-grünen Landesregierung begonnenen Projekt zur Einführung der Neuen Verwaltungssteuerung verfolgt die konservative Regierung ihre Politik der Stärkung des traditionellen, selektiven Charakters des dreigliedrigen Schulsystems (s.o). Unter anderem wurde das von Rot-Grün verabschiedete Schulgesetz zurückgenommen und die darin (minimal) erweiterten Mitbestimmungsrechte der Eltern in der Schulkonferenz teilweise annulliert. Das gleiche gilt für das Recht der Eltern, über die Schullaufbahn am Ende der Grundschule selbständig zu entscheiden. Unter der konservativen Regierung haben die Schulen das Recht, die Entscheidung der Eltern nach einem halben Jahr zu revidieren und das Kind in einen anderen Schultyp als den von den Eltern gewählten zu versetzen, wenn die Grundschule keine eindeutige Empfehlung für einen bestimmten Schultyp ausgesprochen hat (Querversetzung).

Nordrhein-Westfalen

In den neunziger Jahren wurde in Nordrhein-Westfalen, einem traditionell sozialdemokratisch orientierten Flächenstaat, eine Reihe von Projekten durchgeführt, die die Erprobung von Elementen der Neuen Verwaltungssteuerung zum Inhalt hatten. Ende 2000 hat das Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung (damals: Ministerium für Schule, Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung) begonnen, das Projekt selbstständige Schule (zu Beginn Schule 21 genannt) als Pilotprojekt durchzuführen (für die Dokumentation des Projektentwurfs vgl. NRWL o.J.; für aktuelle Entwicklungen vgl. MSWF o.J.). Es wird unternommen, um die Möglichkeiten einer deutlichen Ausweitung der Schulautonomie unter staatlicher Regie weiter zu erproben. Die Zielsetzungen des Projekts wurden schon im bereits erwähnten Bericht der Bildungskommission NRW (1995) formuliert. Das Projekt wird sich weitgehend an den Erfahrungen orientieren, die in dem ebenfalls bereits erwähnten Bertelsmann-Projekt Schule & Co. gemacht wurden, dessen Zielsetzung es war, die Empfehlungen der Bildungskommission zu qualitätsorientierter Selbststeuerung und regionalen Bildungsnetzwerken umzusetzen.

In der Projektskizze zu Schule 21 wird als Fokus die Zielsetzung genannt, die Qualität der Arbeit in der Schule zu verbessern und eine effiziente Verwaltung der für diesen Prozess notwendigen Ressourcen - Personal und Sachmittel - zu organisieren (vgl. Bertelsmann o.J.). Im Rahmen des neuen Regimes wird es zum Beispiel möglich sein, Personal entsprechend den Vorstellungen des Schulmanagements eigenständig einzustellen, Schulbudgets nach Prinzipien betriebswirtschaftlicher Rechnungslegung zu managen und Entscheidungen über Schul- und Unterrichtsorganisation vor Ort zu treffen. Ein wesentlicher Aspekt des Projekts sind verschiedene Maßnahmen zu Qualitätssicherung und Evaluation. In Hinblick auf die Finanzierung stellt die Projektskizze fest, dass neben Land und Kommune "ein weiterer Projektpartner" das Projekt mitfinanzieren wird. Die Vermutung liegt nahe, dass entweder die Bertelsmann-Stiftung selbst oder ein anderer multinationaler Bildungskonzern, wie etwa Accenture, diese Rolle spielen wird - wie etwa auch die des externen Projektmanagers. Die Aufgabe dieses Partners wird nicht nur die Verwaltung des Projekts sein, sondern auch die Fortbildung der dort Beschäftigten und die Beratung der daran beteiligten Regionen. Die Projektfinanzierung sowie die bestimmende Funktion eines externen Managers und Beraters werfen die Frage auf, in welchem Ausmaß die qualitative Entwicklung des nordrhein-westfälischen Schulwesens bereits in die Hände eines multinationalen Bildungskonzerns übergegangen ist.

Wenn man versucht, die am Beispiel von Hessen und Nordrhein-Westfalen skizzierten Entwicklungen zu verallgemeinern, kann man Folgendes feststellen:

- Die achtziger und neunziger Jahre lassen sich im Hinblick auf die Schulentwicklung durch zwei Phasen charakterisieren: Die erste ist gekennzeichnet durch Kostenreduktion und Delegitimierung der alten staatsbürokratischen Schule; die zweite besteht in der Initiierung eines öffentlichen Diskurses des Wandels' im Sinne von Neuer Verwaltungssteuerung, Qualitätssicherung und Evaluation sowie der Durchführung von Pilotprojekten auf einer noch sehr begrenzten Basis. Die Ergebnisse der Ende der neunziger Jahre begonnenen Projekte werden - so die Planung - im Laufe der ersten Dekade flächendeckend umgesetzt werden, so dass man davon ausgehen kann, dass der Prozess des Wandels insgesamt ungefähr eine Generation in Anspruch nehmen wird - eine Zeitspanne, die lang genug ist, um eine Generation von Lehrern, deren berufliche Sozialisation im Zeichen der Bildungsreform der siebziger Jahre und deren Vorstellungen stand, ohne großen Aufwand loszuwerden: "This kind of reform takes time" (OECD 1995: 77).

- Der Implementierungsprozess der Restrukturierung ist zwar als Abfolge kleiner Schritte organisiert, welche aber - platziert in strategisch wichtigen Schlüsselbereichen - als "radical enough to make a difference" charakterisiert werden (OECD 1995: 77). Schritt für Schritt werden die Kompetenzen der Schulen als Einzelinstitutionen auf der operationalen Ebene in begrenztem Umfang erweitert, während die zentralstaatlichen Zuständigkeiten auf strategischer Ebene (z.B. Curricula, Indikatoren für Evaluationssysteme) aufrecht erhalten, angepasst und erweitert werden: "a new paradigm for public management has emerged", gekennzeichnet unter anderem durch "the strengthening of strategic capacities at the centre" (OECD 1995: 8). Ein wesentliches Instrument dieses Prozesses ist das Institut des Pilotprojekts, das zum einen die Entwicklung und Überprüfung neuer organisatorischer Instrumente ermöglicht, zum anderen auch Raum und Zeit organisiert, die notwendig sind, damit die Betroffenen - vor allem die Lehrer - sich an die veränderten Verfahren, Prioritäten und (pädagogischen) Werte gewöhnen und sie als unausweichlich akzeptieren. Zeit, Experiment und schrittweise Veränderung können als wesentliche Faktoren einer Strategie des Konfliktmanagements interpretiert werden, die zugleich auch eine Strategie der Legitimationsgewinnung ist (vgl. Weiler 1993: 55f.). Über die Möglichkeiten, die sich in Zukunft abzeichnen könnten, der Organisierung interner Effizienz qua Markt und Management eine Perspektive externer Effizienz in Form eines völlig veränderten Verhältnisses von Schule, Gesellschaft und Staat folgen zu lassen, wird gegenwärtig in der OECD mehr oder weniger begründet spekuliert (vgl. OECD 2001: 133f.). Insofern kann man den gegenwärtigen institutionellen Wandel als Übergang in eine ungewisse Zukunft begreifen. (8)

- Die wesentlichen Akteure der Restrukturierung sind ganz offensichtlich die Finanzministerien, die die Tagesordnung für effizientere Strategien der Ressourcennutzung im Öffentlichen Dienst bestimmen mit dem "Ziel einer Reduzierung der Staatsquote" (Frankfurter Rundschau vom 15. Oktober 2001). Das entsprechende Know-how stellen Management-Firmen (9) im Auftrag eines multinationalen Bildungskonzerns - ob aber die Bildungsministerien diejenigen sind, die diesen Prozess steuern, ist mehr als fraglich. LehrerInnen und ihre organisierten Vertretungen werden in die Rolle ohnmächtiger Zuschauer gedrängt ("the missing voice in educational reform") - es sei denn, LehrerInnen lassen sich in die Schulprogrammentwicklung einbinden, deren längerfristige Perspektiven aber bewusst im Dunklen belassen werden.

Die Entwicklungen in Hessen und Nordrhein-Westfalen lassen sich als zwei idealtypische Strategien für verbesserte Kosten-Nutzen-Bilanz und Effizienzsteigerung einerseits und für die Sicherung von Klasseninteressen (vgl. Ball 1993: 3f.) andererseits lesen:

  • eine konservative, die den selektiven Charakter des dreigliedrigen Schulsystems betont und den Versuch unternimmt, die Allokationsfunktion über verschärfte Auslese und entsprechende Zertifikate zu stärken - dies allerdings scheint in Konflikt zu geraten mit Interessen an einem größeren Anteil höher Qualifizierter auf dem Arbeitsmarkt;
  • eine sozialdemokratisch/grüne, die auf verstärkte Dezentralisierung und Neue Verwaltungssteuerung setzt, wobei die verstärkte Selektivität über staatlich regulierte Bildungsmärkte erfolgt (nur dürftig verborgen hinter dem Schleier quasi-natürlicher Parameter wie Markt, Konsument, Effizienz).

Potentielle Konfliktfelder zeichnen sich ab durch den Umstand, dass die konservative Strategie Interessen der traditionellen Mittelschichten offen und direkt verfolgt, während die auf Markt und Management setzende Variante eher indirekte Eingriffe und Kontrolle zentralstaatlicher Instanzen bevorzugt.

Weil die Kontrolle von Kosten und Qualität absehbar verstärkt wird, ist die Rede von (institutioneller) Autonomie und Eigenverantwortung wenig mehr als Legitimationsrhetorik (die allerdings an enttäuschte Hoffnungen auf pädagogische Autonomie anknüpfen kann). Bestenfalls ist die institutionelle Autonomie zentralstaatlich kontrollierte Autonomie. Was jenseits der Rhetorik stattfindet, ist die Umsetzung von Strategien zur Senkung der Staatsquote durch eine veränderte Verwaltungssteuerung und ein zunehmend gewichtigeres Instrument staatlichen Handelns: die public-private partnership (10) - im Bildungsbereich am deutlichsten vorgeführt mit der engen Kooperation von Bertelsmann-Stiftung und Bildungsministerien der Länder.

Der Diskurswandel: Autonomie und Chancengleichheit

Nicht nur der institutionelle Wandel wird in kleinen, aber entscheidenden Schritten vollzogen. Auch der ihn begleitende Diskurs ist gekennzeichnet durch einen sich sehr langsam vollziehenden Wandel über die letzten zwei Jahrzehnte hinweg. Alte Begriffe sind teilweise noch in Gebrauch, haben aber ihren Gehalt nicht unwesentlich geändert. Darüber hinaus bestimmen neue Begriffe die Diskussion und vermitteln Momente von Legitimität, die anderen gesellschaftlichen Feldern entliehen sind, im wesentlichen der Betriebswirtschaft. So prägen Begriffe wie Ergebnisorientierung, Transparenz, Rechenschaftspflicht, Evaluation, Wettbewerb, Konsumenten etc. den neuen bildungspolitischen Diskurs und formen einen neuen common sense darüber, was als pädagogisch und bildungspolitisch angemessen erachtet wird. Zeit für persönliche Entwicklung und Entfaltung von Beziehungen zwischen LehrerInnen und SchülerInnen galt als wesentliche Voraussetzung für das Gelingen von Lernprozessen, deren Logik anderen Gesetzen folgt als die an Effizienzmaximierung orientierte Betriebswirtschaft. Zunehmend wird in Frage gestellt, ob die Pädagogik legitimer Weise eine andere Logik beanspruchen kann.

Um das Bildungssystem entsprechend der Logik von Markt und Management umzubauen, bedurfte es zuerst der Delegitimierung des Alten: Dem professionellen Selbstverständnis der Lehrer war nicht mehr zu trauen, die Staatsschule wurde als sklerotisch und unzugänglich für Innovation, Kreativität und die Bedürfnisse der Konsumenten definiert. Die Konstruktion eines neuen common sense darüber, was angesichts der neuen Herauforderungen der Wissensgesellschaft' als angemessen erachtet wird, wird deutlich unter anderem an dem Wandel, dem die Begriffe der Autonomie und der Chancengleichheit unterworfen wurden. Dass in diesem Bündel von Mythen und Legenden über die Potentiale von Markt und Management auch die veränderte Rolle des Staates weiterhin keiner kritischen Analyse unterzogen wird, ist nicht weiter verwunderlich.

Autonomie

Als der Bildungsrat 1975 aufgelöst wurde (vgl. Friedeburg 1996: 56f.), bestand der Grund für diesen Schritt unter anderem in dessen Forderung nach größerer Autonomie für die pädagogischen Institutionen - damals aber im Kontext einer Bildungsexpansion, die sich auch um Demokratisierung der Institutionen und eine an Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen orientierte Pädagogik bemühte. Heute kennzeichnet der Begriff der Autonomie Grundzüge eines neuen institutionellen Rahmens, der über eine begrenzte Eigenständigkeit auf der operativen Ebene den Wettbewerb unter den Einzelinstitutionen organisieren soll, um damit eine günstigere Kosten-Nutzen-Relation zu ermöglichen. Dass damit die Qualität verbessert wird - und zwar nicht nur für die wenigen Schulen, die in der Lage sind, in dem eintretenden Prozess der Polarisierung lernschwierige Schüler an andere Institutionen zu verschieben ("the exclusion of the costly and difficult" (Clarke/Newman 1997: 149)) -, ist einer der großen Mythen der gegenwärtigen Diskussion. Die neue Bedeutung von Autonomie bezieht sich vor allem auf die eigenständige Handhabung von Personal- und Sachmittelbudgets sowie schulorganisatorischen Fragen, deren Vorgaben - z.B. definiert als Indikatoren für Qualitätsstandards - aber alle auf der strategischen Ebene außerhalb der Reichweite der Einzelinstitutionen und der in ihnen Beschäftigten - auch ihrer Leitung - formuliert werden. Ob die institutionelle Autonomie Handlungsspielräume der in den (teil-)autonomen Schulen arbeitenden LehrerInnen vergrößert, ist angesichts der Erfahrungen mit Markt und Management in angelsächsischen Ländern mehr als fraglich (vgl. Whitty et al. 1998). Dieser widersprüchliche Zusammenhang von verstärkten Entscheidungskompetenzen vor Ort (vor allem für gestärkte Leitungsfunktionen) und Zunahme zentral definierter Vorgaben verschwindet hinter den ideologischen Nebelkerzen von größerer Autonomie, die aber ein Stück weit ihre Wirkung entfalten können, da sie an Vorstellungen größerer pädagogischer Autonomie anknüpfen, die auch den Deutschen Bildungsrat zu seinen damaligen Empfehlungen bewogen haben.

Chancengleichheit

Chancengleichheit im Sinne von "Kompensierung gesellschaftlicher Benachteiligung" war ein wesentlicher Orientierungspunkt sozialdemokratischer Politik - nicht nur in der Bildungspolitik, sondern etwa auch bei der Stadtplanung, deren integraler Bestandteil der Bau von Gesamtschulen war. Im Bildungsbereich bedeutete Chancengleichheit unter anderem einen verbesserten Zugang zu Bildungsinstitutionen, vor allem für Mädchen, ländliche Regionen und Arbeiterkinder - eingebunden in Maßnahmen kompensatorischer Förderung. Heute sind dem Begriff der Chancengleichheit, dem Gernot Koneffke (1969: 389) Ende der sechziger Jahre bescheinigte, er stelle eine radikal verkürzte Version des Begriffs der Gleichheit dar, alle Dimensionen gesellschaftlicher Veränderung entzogen. So ist es nicht verwunderlich, dass auch konservative Kreise sich dieses Begriffs bedienen können. Losgelöst von dem Begriff einer gerechten oder guten Gesellschaft, lässt er sich gut in eine den Markt als Regulator aller gesellschaftlichen Sphären akzeptierende Vorstellungswelt integrieren. Die Reduzierung von Chancengleichheit auf gleiche Zugangschancen ermöglicht zugleich auch die Akzeptanz ungleicher Ergebnisse - ist doch jeder bei angeblich gleichen Ausgangsbedingungen selbst für die Ungleichheit verantwortlich. Daher ist es nicht verwunderlich, dass heute alle politischen Parteien von diesem Begriff Gebrauch machen - und sei es nur des Legitimationsgewinns oder seines ornamentalen Charakters wegen (vgl. Wunder 2001).

Die Rolle des Staates

Die deutsche Debatte über Dezentralisierung und Neue Verwaltungssteuerung wird in den meisten Fällen mit der Vorstellung verbunden, der Staat ziehe sich aus seinen Aufgaben und seiner Verantwortung zurück - "der schwindsüchtige Staat" (Reifenrath 2001). Während einige das begrüßen, argumentieren andere, die staatlichen Institutionen müssten gestärkt werden, um ihre Fähigkeiten zur Wahrnehmung ihrer im Grundgesetz verankerten Verantwortung zu gewährleisten: "Grundgesetzlich bleibt es bei der Verantwortung des Staates, unter dessen Aufsicht das gesamte Schulwesen steht, auch das private" (Friedeburg 2000: 56f.). Manche sehen im Staat ein Bollwerk gegen zunehmende Privatisierung - nicht zuletzt Sozialdemokraten und Gewerkschafter.

Diese Vorstellung gründet auf dem Konzept eines Staates, der als neutrale Instanz über den gesellschaftlichen Interessen schwebt. Sie vernachlässigt, dass der Staat den Restrukturierungsprozess seiner Institutionen und damit auch die Privatisierung Öffentlicher Dienste (in ihren verschiedenen Formen) selber organisiert - in enger Kooperation mit supranationalen Institutionen wie der OECD oder mit transnationalen Konzernen wie Bertelsmann. Der Restrukturierungsprozess im Bildungsbereich ist Teil eines Paradigmenwechsels in der Steuerung (ehemals) öffentlicher Daseinsvorsorge in Folge eines strukturellen Wandels, der beschrieben wird als "shortfall of economic performance" und Finanzkrise des Staates (OECD 1987: 18f.; 1995: 7f.) oder als die "drei großen Umwälzungen: die Globalisierung, die Informationsgesellschaft und die Beschleunigung der wissenschaftlich-technischen Revolution" (Europäische Kommission 1995: 5). Dieser Prozess steht in Deutschland noch am Anfang. Man kann davon ausgehen, dass die Vorgaben der Finanzminister zur Reduzierung der Staatsquote diesen Prozess weiter bestimmen werden. Nicht unwesentlich wird er auch von den Ergebnissen der WTO/GATS-Verhandlungen abhängen (vgl. Scherrer in diesem Heft).

Dass die gegenwärtige Diskussion im Bildungsbereich so weitgehend von Mythen über Autonomie, Fähigkeiten des Marktes und Rolle des Staates bestimmt ist, hängt mit wenigstens zwei Gründen zusammen: Sie können erstens anknüpfen an Erfahrungen vieler mit der als Starrheit wahrgenommenen Regelhaftigkeit und Unflexibilität staatbürokratischer Verwaltung: im Bildungsbereich von Eltern und LehrerInnen wahrzunehmen als die anscheinend unwandelbaren Formen von Schule ("the grammar of schooling" (Tyack/Cuban 1995: 85f.)) und als die Unzugänglichkeit der Bildungsverwaltung für Formen partizipativer Demokratie. Die weitverbreitete Akzeptanz oder Hinnahme der Vorstellung, dass Markt und Management dies nun ändern werden, hat unter anderem darin seine Gründe. Und zweitens ist aus der politischen und erziehungswissenschaftlichen Diskussion in Deutschland der Zusammenhang (und Widerspruch) von Bildung in staatlicher Verantwortung und als Teil des politisch-demokratischen Systems einerseits und kapitalistischer Ökonomie andererseits seit den späten siebziger Jahren (fast) völlig ausgeblendet worden (im Gegensatz zur angelsächsischen Diskussion). Die Funktionen des Bildungssystems jenseits der Qualifikationsvermittlung, sein Verhältnis zum Beschäftigungswesen, die Rolle des Staates und damit die Reichweite von staatlichen Reformen sind damit völlig unterbelichtet geblieben. Der Mitte der siebziger Jahre vollzogene fast vollständige Abbruch einer kritischen Debatte über Schule und kapitalistische Gesellschaft - und damit auch der Entwicklung alternativer Vorstellungen - hat die weitgehende Akzeptanz einer an Markt und Management orientierten Steuerung stark erleichtert. Insofern kann es nicht erstaunen, dass sich die LehrerInnen bei dem von oben in die Wege geleiteten Paradigmenwechsel mehr oder weniger in der Rolle von Zuschauern wiederfinden. Vereinzelter lokaler Widerstand ist offensichtlich nur schwer in eine konsistente gemeinsame Perspektive zu bringen, da auch Gewerkschaften sich dem Druck korporatistischer Strategien - verkörpert etwa durch das Trade Union Advisory Committee (TUAC) bei der OECD, die Wirtschafts- und Sozialausschüsse in der EU oder das Bündnis für Arbeit in Deutschland - scheinbar nicht entziehen können. Angesichts fehlender Alternativen sowohl zu staatsbürokratischen als auch zu marktvermittelten Formen von Bildung kommt der Diskussion über Formen einer demokratisch-partizipativen Form von Bildung in öffentlicher Verantwortung eine besondere Bedeutung zu, da Widerstand gegen zunehmende Privatisierung von Diensten öffentlicher Daseinsvorsorge sich auf Dauer nicht allein aus zunehmend schwieriger werdenden Arbeitsbedingungen der in Bildungsinstitutionen Arbeitenden wird speisen können.

Anmerkung

1. Der Beitrag bezieht sich in erster Linie auf das Schulsystem; in den Bereichen Berufliche Bildung und vor allem Hochschule könnten sich ähnliche Entwicklungen beschreiben lassen (vgl. Bultmann in diesem Heft).

2. Konkrete Entwicklungen der Privatisierung innerhalb des staatlichen Schulwesens sowie der Einfluss der Wirtschaft besonders im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien müssen hier unberücksichtigt bleiben (vgl. Klausenitzer 2001b; im Hinblick auf die englische Entwicklung Hatcher 2001; Monbiot 2002).

3. Die Situation in den 16 Bundesländern ist in der Realität weitaus vielfältiger, als das hier dargestellt werden kann.

4. Dem Autor war keine systematische Zusammenfassung der Entwicklungen zugänglich. Die Informationen beruhen in erster Linie auf Meldungen der Presse.

5. Diese Maßnahmen wurden im Koalitionspapier der CDU/FDP-Regierung in Hessen als Prioritäten aufgeführt (Frankfurter Rundschau vom 6. April 1999).

6. Man kann es nur als Ironie bezeichnen, dass es der PISA-Studie der OECD bedurfte, um die hohe Selektivität des deutschen Schulwesens (wahrscheinlich vorübergehend) zum Thema zu machen.

7. Das hessische Bildungsministerium hat in diesem Zusammenhang den denkwürdigen Begriff der "Gegenstromverhandlung" geprägt (oder übernommen). Wie die neue Kompetenzverteilung zwischen Landesregierung und kommunaler Ebene aussehen wird, ist auch Gegenstand des Pilotprojekts.

8. Eins der diskutierten Szenarien wirft die Frage auf: "...oder ist es eher ein Vorschlag zur Rückkehr zum Bildungswesen des 18./19. Jahrhunderts (zuzüglich Internet)?" (OECD 2001: 152)

9. So z.B. die Roland Berger Strategy Consultants: "Wir müssen aber zweierlei tun: (...) den Wohlfahrtsstaat reformieren und Überregulierung, Staatsquote etc. zurückfahren" (Berger 2001: 38f).

10. PPP ist eine der herausragenden neuen "alternatives to direct public provision and regulation that might yield more cost-effective policy outcome" (OECD 1995: 8).

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