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Heft 80: Wir können auch anders - Soziale Utopie heute

2001 | Inhalt | Editorial | Abstracts | Leseprobe

Titelseite Heft 80
  • Juni 2001
  • 116 Seiten
  • EUR 11,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-353-5

Zu diesem Heft

Die Wirklichkeit ist der kühnsten Phantasie vorausgeeilt. Wie ein Staat in zehn, nein in einem Jahr beschaffen sein wird, kann niemand mehr voraussagen

Karl Liebknecht

Was ist eine Utopie? Aus dem politischen Alltag lässt sich eine positiv umrissene Definition nicht ohne weiteres ableiten. Denn dort will niemand etwas mit diesem Wort zu tun haben. Fast möchte man meinen, das Überleben der Utopie konnte nur durch seine Nützlichkeit als politischer Kampfbegriff gesichert werden. Und auch als wissenschaftliches Objekt sind Utopien sperrige Konstruktionen. Es ist nicht ohne weiteres möglich, sie in die Grenzen einzelner akademischer Disziplinen zu zwängen: "Sie eignen sich besonders wenig zur Zerstückelung in einzelne Aspekte und zur Behandlung von einzelnen dieser Aspekte mit Hilfe einer speziellen Fachsprache" (Elias 1985: 103). Wenn überhaupt, so lassen sich jedoch fünf konstante Merkmale herausarbeiten. Erstens: Utopien haben den Status von Fiktionen. Sie sind von ihrem Sach- bzw. Raumbezug suspendiert. Zweitens: Ihre Funktion besteht stets in einem Gegenentwurf. Drittens: Ihr thematisches Repertoire ist eingegrenzt auf a) den idealen Menschentypus, b) Harmoniestreben und c) geometrische Phantasie, also wesentlich das Streben nach Ordnung. Viertens: Soweit es Raumutopien betrifft, ist der utopische Raum stets in sich geschlossen und von der übrigen Welt abgegrenzt. In den Zeitutopien hingegen wird nach einem zeitlichen Dreischritt verfahren: Auf das verlorene goldene Zeitalter folgt eine schlechte Gegenwart (in der die Utopie verfasst wird), die durch das Streben nach der utopischen goldenen Ära zu überwinden ist (die von der AutorIn umrissen wird). Fünftens: Utopien sind ihrem Grunde nach deskriptiv-klassifikatorisch und damit sujektlos. Sie beschreiben nicht Ereignisse, sondern Rituale.

Doch das Geheimnis des utopischen Substrats liegt nicht in ihrer Form. Die formalisierte Betrachtungsweise vernachlässigt, dass Utopie ein Ziel und eine Absicht hat: Freiheitsgewinnung. Nicht nur bürgerliche Freiheit im Sinne von Individualität und Einzigartigkeit. Das würde nicht ausreichen. Dazu ist das Wesen dieses Begriffs zu umkämpft. Freiheit ist, und damit auch die Utopie, ein " in seinen Inhalten variierbarer Beziehungsbegriff", und es besteht immer nur "das spezielle Interesse an einer Freiheit, die die Freiheit eines speziellen Interesses ist" (Bloch 1986:75). So utopisierten sich die Einen mit fliegenden gebratenen Tauben in eine Freiheit vom Hunger; die Anderen wollten vertraglich abgesicherte Konkurrenzfähigkeit, um sich von ihren Territorialfürsten zu befreien, damit sie und ihresgleichen sich zur besitzenden Klasse emanzipieren konnten. Doch die damit gewonnene Freiheit führte in einen Klassenstaat, in dem Freiheit nun bedeutet, die neuen Besitzenden zu enteignen: Expropriation der Expropriateure. Das ist alles nicht neu. Doch es zeigt, dass es mit einem formalen Gerüst nicht getan ist: Damit lässt sich utopisches Denken nicht hinreichend erfassen. Denn immer ist die Utopie, definiert Elias, (1985: 103) "ein Phantasiebild einer Gesellschaft, das Lösungsvorschläge für ganz bestimmte ungelöste Probleme der jeweiligen Ursprungsgesellschaft enthält, und zwar Lösungsvorschläge, die entweder anzeigen, welche Änderungen der bestehenden Gesellschaft die Verfasser oder Träger einer solchen Utopie herbeiwünschen oder welche Änderungen sie fürchten und vielleicht manchmal beides zugleich." Doch nicht nur das. Nicht nur ihrer Ursprungsgesellschaft gegenüber hat die Utopie kritisch zu sein, wenn sie vermeiden will, dass ihr zweifellos vorhandenes formales Gerüst beliebig an jeder Fassade zu bloßen Verschönerungsarbeiten eingesetzt werden kann. Auch ihren eigenen Entwurf hat sie in ihre eigene Kritik einzubeziehen, denn " die utopiekritische Utopie deckt nicht nur die Konflikte ihrer Ursprungsgesellschaft auf, sondern auch noch die derjenigen, die diese Konflikte utopisch zu lösen scheint. Sie weist immer einen Schritt weiter voraus" (Winter 1985: 94).

Nach Bloch (1986) wäre diese utopiekritische Utopie nicht bloß realistisch in ihrer Antizipation einer faktischen Zukunft, in der bestimmte Probleme der Gegenwart beseitigt sind. Sie ist "wirklich", weil sie wirksam ist und zukunftsträchtig. Das kann sie nur sein, wenn sie ihre eigenen Projektionen mit in ihren kritischen Blick nimmt. Sie ist dann mehr als bloße Opposition, die, in ein Wunschbild gefasst, der Wirklichkeit lediglich als Spiegel vorgehalten wird. Vielmehr wandeln sich uralte Wunschträume in einen vorausschauenden Blick, der nur Form werden kann, weil er fest in den Handlungsmöglichkeiten der Gegenwart verankert ist. Denn Utopien haben ihren Fahrplan; "alle Möglichkeiten kommen erst innerhalb der Geschichte zur Möglichkeit; auch das Neue ist historisch" (Bloch 1986: 16). Ohne ihre Verankerung im gesellschaftlich Vorgefundenen können sie sich nicht ausprägen.

Die Möglichkeiten einer derartigen utopiekritischen Utopie sind noch längst nicht ausgeschöpft. Die neuzeitliche, auf Thomas Morus zurückgehende, bald 500-jährige Utopietradition ist immer noch die entscheidende Synthese schuldig geblieben, in der "die individuelle Vernunft der Einzelnen ihr notwendiges Korrektiv in der kollektiven Vernunft einer solidarischen Gesellschaft und ihrer Institutionen hat und umgekehrt" (Saage 1990: 24). Damit wäre dann wohl kein monophones Zukunftsbild voller restriktiver Harmonie zu entwerfen, wie es die Kritiker der Utopie den Verfassern von (Ordnungs-)Utopien immer wieder, und häufig zu Recht, vorgeworfen haben. Vielmehr ist die reflexive Utopie der Moderne eine Utopie der Polyphonie und der Dissonanzen.

Ein Versuch, eine solche reflexive Utopie zu entwerfen, ist der Ansatz der WIDERSPRÜCHE-Redaktion zu einer Politik des Sozialen. Nicht von den hegemonialen Gebirgen der Kapitalakkumulation ausgehend, auch nicht von den Bastionen und Kasematten des Staates oder von den Zitadellen der zivilen Gesellschaft, sondern von alltagsweltlichen Zyklen und Praxen tagträumerisch handelnder Menschen haben wir transversale Optionen zu entdecken versucht, die sich in drei Richtungen entwickeln (vgl. Kunstreich 1999):

  • Konflikte innerhalb und zwischen Klassen nicht aus der ökonomischen Formbestimmtheit "abzuleiten", sondern die neuen "Maßverhältnisse des Politischen" (Negt/Kluge 1992) in den "unabgegoltenen" und deshalb möglichen Entwürfen von Subjekten zu entdecken;
  • Geschlechterverhältnisse weder auf den Dualismus 'Mann'/'Frau' zu reduzieren noch (de-)konstruktivistisch aufzulösen, sondern sie in ihren diskursiven Praxen danach zu befragen, welche andere intime Gesellschaftlichkeit in ihnen steckt;
  • Subjekthaftigkeit weder in ein illusorisches "Monosubjekt" zu projizieren noch in der traditionellen Monade namens "Individuum" zu suchen, sondern in "Sozialitäten" zu finden, die als Handlungssubjekte (vgl. Mannschatz 1997) die Form und Größe annehmen, die sie zur Erreichung ihrer Ziele brauchen.

Die Beiträge dieses Heftes loten auf unterschiedlichen Konkretionsebenen und für unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer so oder ähnlich zu umreißenden reflexiven Utopie aus.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Gerhard Armanski unternimmt in eben dieser Absicht einen Streifzug durch die Geschichte utopischen Denkens. Nicht erst angesichts der historischen Erfahrungen mit dem Versuch, (ordnungs)utopische Gesellschaftsmodelle in die Realität umzusetzen, sondern bereits auf der Basis der Betrachtung historischer utopischer Entwürfe stimmt er zunächst in den Chor der Utopiekritiker mit ein. Er sieht die Utopie von einem inneren Zwiespalt gekennzeichnet: "In und neben dem Glücksversprechen lauert die Repression" ; wird das Versprechen 'eingelöst', wird auch die Repression real; "je weniger die Utopie 'real möglich' erschien, desto virulenter konnte sie als das Andere der geschichtlichen Last auftreten." Mit dieser Kritik hebt Armanski allerdings nicht auf eine Preisgabe des Utopiegedankens ab. Als seine emanzipatorisch produktive, wirklichkeitsrelevante Version der reflexiven Utopie skizziert er vielmehr " das lila-grüne Band der Utopie, nicht als geschichtlicher Großversuch, sondern als Experiment, als ganzheitliches Projekt, als Intention", für das die " Mythen und utopischen Topoi des individuellen Lebens" zentrale Bezugsgrößen darstellen.

Uwe Hirschfeld widmet sich dem Thema auf der Ebene der (sozialistischen) Politik. Um sich seinem Ziel der Förderung solidarischer Gesellschaftsformen in einer Zeit der scheinbaren Erosion des Sozialen zu nähern, bemüht er zunächst Marco Revellis Vorstellungen von einer solidarischen Ökonomie. Hirschfelds Kritik an Revellis Blindheit hinsichtlich nicht unmittelbar in den kapitalistischen Verwertungsprozess eingebundener ökonomischer Praktiken wie der Reproduktionsarbeit sowie an dessen Fixierung auf die ökonomische Sphäre führt ihn zu W.F. Haugs "Theorie des Ideologischen", die eben jenem Ideologischen als Vergesellschaftungsform "von oben" die Dimension des "Kulturellen" als "horizontale" Vergesellschaftungsform gegenüber stellt, in der "Individuen, Gruppen oder Klassen das praktizieren, was ihnen lebenswert erscheint und worin sie sich selber als Sinn und Zweck ihrer Lebenstätigkeiten fassen". Eine zentrale Aufgabe linker bzw. sozialistischer Politik sieht Hirschfeld entsprechend in der alltäglichen "Suche und Förderung des Kulturellen in den gesellschaftlichen Beziehungen": Eine "sozialistische Politik des Kulturellen" wird produktiv, wenn sie für die Menschen "Experimentierräume schafft", ohne dass diese " in die Vertikale der Herrschaft eingebunden" werden.

Rolf Schwendter nähert sich dem Thema Utopie aus der Perspektive der Sozialen Arbeit. Er stellt fest, dass es eine genuin disziplinäre Utopie in diesem Feld nicht gibt, und nimmt anschließend eine Systematisierung der unterschiedlichen "Partialutopien" vor, die das Handeln der in der Sozialen Arbeit Tätigen bestimmen. Den Schlüssel zu der Antwort auf die Frage allerdings, wie sich der sozialarbeiterische Arbeitsbereich konkret entwickeln wird, sieht Schwendter jenseits des ideellen Hintergrunds der Professionellen bei den von der Sozialen Arbeit Betroffenen. Dort herrschen laut Schwendter zwei konkurrierende Utopien vor, die den Kampfplatz zwischen gelingender Vergesellschaftung und Resignation strukturieren: die Utopie, zwar materiell versorgt, aber ansonsten nicht nur von den Professionellen, sondern auch von den in der gleichen Lage befindlichen Menschen in Ruhe gelassen zu werden, einerseits sowie die Utopie von einer eigentätigen "sozial vermittelten Willensbildung von unten" andererseits, wie sie in den Aktivitäten von Selbsthilfegruppen und ähnlichen Assoziationen zum Ausdruck kommt. Der Widerspruch zwischen beiden Utopien, so Schwendter, ist dafür verantwortlich, dass die "Realutopie" der Produzierendensozialpolitik (vgl. WIDERSPRÜCHE 11/1984) bisher nicht in einem größeren Ausmaß verbreitet ist, als das der Fall ist.

Ursula Riedel-Pfäfflin untersucht, welche Utopien Frauen seit dem Beginn der ersten Frauenbewegung umgetrieben haben. Bescheiden zunächst muten die ersten Forderungen an: ein bisschen wählen, ein bisschen lernen, ein sehr kleines bisschen teilhaben an (schlecht) bezahlter Arbeit. Demgegenüber wirkt das inzwischen Erreichte großartig: Sind die Utopien von Frauen damit realisiert? Eher haben die bisherigen Entwicklungen des Geschlechterverhältnisses wohl neue Einsichten ergeben: Feministische Theorie und Praxis haben erkannt, dass sich hinter dem, was als 'das Allgemeine' - an dem Frauen endlich teilhaben wollten - verkleidet daherkam, traditionell bloß hegemoniale Männlichkeit verbarg; und die ist nicht nur repressiv, sondern auch langweilig. Frauen (und Männer) haben die vielfältigen Varianten des jeweils Spezifischen, Eigenen, die Differenzen unter Frauen (und unter Männern) entdeckt, und sie haben gelernt, diese auszukosten. Riedel-Pfäfflin zeigt, dass die deliberate Verletzung hierarchisch strukturierter Grenzziehungen Frauen neue, bisher nicht gekannte oder für möglich gehaltene Räume eröffnet, die sie sich längst anzueignen begonnen haben, nicht als historisches Großsubjekt 'Frau', sondern in einer Vielzahl verteilter alltäglicher Praktiken.

Reinhart Kößler und Henning Melber fordern mit Karl Marx, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist": ein kategorischer Imperativ, der, wenn man sich wie die Autoren mit den internationalen Beziehungen - und dort vor allem: mit den Beziehungen zwischen den Ländern des Nordens und den Ländern des Südens - auseinander setzt, direkt zur Utopie der Solidarität zwischen den Völkern führt. Eine solche Solidarität - nicht einseitig in Form von Almosen oder Kompensationen, sondern auf Gegenseitigkeit beruhend - ist nicht nur notwendig, um dagegen zu kämpfen, dass vor allem die Bevölkerungen der Südhalbkugel weiterhin unter den sich ständig verschärfenden Folgen immer enger werdender globaler Verflechtungen zu leiden haben, sondern auch, um sich gemeinsam der rücksichtslosen Ausbeutung globaler (nicht erneuerbarer) Ressourcen entgegen zu stellen. Voraussetzung für die Realisierung dieser Utopie ist für die Autoren, dass endlich der Barbarei, d.h. der alleinigen Herrschaft von Vernunft und kaltem Verstand ein Ende gesetzt wird: Solidarität vollzieht sich eben "nicht nur auf der Ebene begrifflicher Auseinandersetzung, sondern auch unverzichtbar auf jener des 'Gefühls' und endlich auch der Praxis."

Mit der Nähe dessen, was Bloch als Anti-Utopie schlechthin gilt, nämlich des Todes, beschäftigt sich Ralf Evers. Seine Auffassung vom Begriff der Altersweisheit legt nahe, dass es gerade das Utopische in den Rissen und Widersprüchen des Lebensentwurfes ist, das am Ende Trost zu bieten vermag. Die Prinzipien einer induktiven Utopie - Schmerz und Sehnsucht, Realismus und Hoffnung - sind nicht nur Motoren des Wendens, sondern bieten auch an dessen Ende Trost und ermöglichen ein Altern in Würde.

Die Redaktion

Literatur

  • Bloch, Ernst 1986: Freiheit und Ordnung. Abriss der Sozialutopien. Frankfurt/Main
  • Elias, Norbert 1985: Thomas Morus' Staatskritik. In: Voßkamp, Bd. 2, S. 101-150
  • Kunstreich, Timm 1999: Die soziale Frage am Ende des 20. Jahrhunderts. In: WIDERSPRÜCHE 74, S. 135-155
  • Mannschatz, Eberhard 1997: Erziehung zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Würzburg
  • Negt, Oskar; Kluge, Alexander 1992: Maßverhältnisse des Politischen. Frankfurt/Main
  • Saage, Richard 1990: Das Ende der politischen Utopie? Frankfurt/main
  • Voßkamp, Wilhelm (Hg.) 1985: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. 3 Bde., Frankfurt/main
  • Winter, Michael 1985: Don Quijote und Frankenstein. Utopie als Utopiekritik: Zur Genese der negativen Utopie. In: Voßkamp, Bd. 3, S. 86-112

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