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Heft 74: 1989 - 1999 - 2010: Brüche und Reformperspektiven

1999 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 74
  • Dezember 1999
  • 198 Seiten
  • EUR 11,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-324-1

Zu diesem Heft

Die Symbolik historischer Daten hat ihre eigenen Tücken. Als sich die WIDERSPRÜCHE-Redaktion im Sommer 1998 mit Rainer Land von der Zeitschrift Berliner Debatte INITIAL traf, waren wir uns - ebenso wie der Arbeitsausschuss des Sozialistischen Büros - nicht nur darin einig, dass es "politisch korrekt" sei, im zehnten Jahr nach den so unterschiedlich bezeichneten Ereignissen in der DDR (von "Revolution" über "Wende" bis hin zu "Konterrevolution") einen weiteren Versuch zu wagen, die sich sozialistisch bzw. radikaldemokratisch verstehenden Spektren beider Teilgesellschaften ins Gespräch zu bringen. Einig waren wir uns auch darüber, dass es nach immerhin fast zehn Jahren gemeinsamer Geschichte genügend Themen gebe, über die es zu diskutieren und auch zu streiten lohne. Neben den "Brüchen" sollten vor allem mögliche Perspektiven im Mittelpunkt stehen. Bei aller Unterschiedlichkeit der Kontexte und Herkünfte der entsprechenden Milieus in Ost und West waren - und sind -Übereinstimmungen im grundlegenden Selbstverständnis zu konstatieren. Das Sozialistische Büro, zeitweilig bedeutender Kristallisationspunkt der nonkonformistischen Linken der alten BRD, versteht sich weiterhin als offenes Diskussionsforum in der Tradition der Marx'schen Kritik. Die Berliner Debatte INITIAL hat ihre Wurzeln in der spezifischen Rezeption von Glasnost und Perestroika in der DDR. Sie versteht sich heute als offenes radikaldemokratisches Forum der Diskussion und will zwischen durchaus kontroversen Positionen vermitteln.

Auch dass die gemeinsame Veranstaltung um den 8. Mai 1999 herum platziert werden sollte, war schnell Konsens, ist doch dieses Datum unbestritten wichtiger Bezugspunkt beider deutschen Staaten - wenn auch mit unterschiedlichen Konnotationen. Bekanntermaßen erlangten beide Daten - 1999 und der 8. Mai durch den Angriffskrieg der Nato - mit dem neuen Deutschland' als militärischideologischem Frontsoldaten - neue symbolische Bedeutungen. Aus der grundgesetzlichen Verpflichtung und den völkerrechtlichen Vereinbarungen, dass von Deutschland nie wieder ein Krieg ausgehen darf, wurde schneller Makulatur als die meisten von uns es für möglich gehalten hatten. Dass der 8. Mai dieses Jahres mitten im neuen Krieg stattfand, hatte auch unmittelbare Rückwirkung auf unsere Tagung selbst. Sie wurde zu Gunsten der Teilnahme an der Großkundgebung auf dem Gendarmenmarkt unterbrochen, auf dem ein riesiges Transparent hing: "Gäbe es die DDR, es gäbe keinen deutschen Angriff auf Jugoslawien."

Dass sich auf dieser Konferenz zwei maginalisierte Positionen aus Ost und West trafen, war auch an der Teilnehmerzahl abzulesen. Selbst bei den gelungenen politisch-kulturellen Beiträgen waren nicht mehr als fünfzig Menschen anwesend. Das ist schade, denn Peter Grohmann* fesselte mit seinem politischen Kabarett ebenso wie Christoph Dieckmann - heute als einziger Ostdeutscher bei der westdeutschen ZEIT, früher unter anderem Fan des Fußballclubs Carl Zeiss Jena. Seine präzisen Reportagen interpretierten die "gesamtdeutsche Befindlichkeit" mindestens genauso gut wie die gehaltenen und die - teils aus Zeitnot, teils wegen Verhinderung - nicht gehaltenen Beiträge.

Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass das Motto der Konferenz Brüche und Reformperspektiven eher kritisch, wenn nicht pessimistisch interpretiert wurde. Die auch mögliche, eher optimistische Grundintention des Mottos ist noch am deutlichsten in dem Beitrag von Rainer Land zu spüren. Die anderen Beiträge betonen eher die verschiedenen Brüche - seien es die, die in der Vergangenheit zu der jetzigen Situation führten, seien es die, die notwendig sind, um zu anderen Perspektiven zu gelangen. Je nach Position findet dieses Dilemma auch in dem Ort symbolischen Ausdruck, an dem die Veranstaltung stattfand: dem Haus der Demokratie in der Berliner Friedrichstraße. Das schöne Jugendstilgebäude, einst SED-Bezirkszentrale, wurde im November und Dezember 1989 zum Kristallisationspunkt der Bürgerbewegungen und der innerparteilichen Opposition. Nun wurde es gerade abgewickelt. Der Beamtenbund wird die Immobilie aufmöbeln. Zum Zeitpunkt der Veranstaltung wirkte das Haus noch wie ein schäbiger Dom in der funkelnden, milliardenschweren Neugestaltung der Friedrichstraße. Der imposante "Neo-Mussolinismus" macht deutlich, dass die neoliberalen Reformperspektiven des Kapitals vor Selbstbewusstsein geradezu strotzen. Unsere Perspektiven des Bruchs sind dagegen beschämend klein. Mancher und manchem blieb als einziger Trost das Wissen darum, dass die Widersprüche des Kapitalismus bislang immer so lebendig waren, dass sie stets von neuem Ansätze ihrer Negation bzw. ihrer Aufhebung hervorgebracht haben

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Diese Hoffnung im Bloch'schen Sinne ist denn auch der zwar einzige, aber dennoch nicht gering zu schätzende rote Faden aller Tagungsbeiträge. Sie lassen sich als vier Zugänge zum neuen Deutschland lesen.

Die Besichtigung des Verhältnisses von Demokratie und Recht beginnt mit der Analyse eines Bruchs, nämlich des Verfassungsbruchs durch den Angriffskrieg auf Jugoslawien. Hermann Klenner arbeitet die internationalen Verpflichtungen und Rechtsstandards bezüglich nationaler Minoritäten heraus. Volkmar Schöneburg begründet die These, dass Verfassungsrecht nicht nur Ausdruck, sondern auch Maß der Macht sei. Er widerspricht damit der (gerade in der Arbeiterbewegung geteilten) Lassalle'schen Auffassung, Verfassungsfragen seien lediglich Machtfragen. Wolf-Dieter Narr fragt vor diesem Hintergrund nach den Perspektiven einer Demokratisierung, die über den hegemonialen Stand bürgerlicher Repräsentation hinausgeht, und gibt sowohl skeptische als auch radikale - also an die Wurzel gehende - Antworten

In einem zweiten Zugang zum neuen Deutschland' betonen Roland Roth und Rainer Land deutlich unterschiedliche Perspektiven. Während Roland Roth vor allem Linien zwischen 1968 und 1989 zieht, aus denen er Konsequenzen für eine erneute und vertiefte Kritik der Politischen Ökonomie in Gestalt eines radikalen Reformismus ableitet, konturiert Rainer Land die Umrisse eines alternativen Entwicklungspfades, der bei entsprechender politischer Kräftekonstellation nicht nur den Fordismus ablösen, sondern auch etwas qualitativ Neues bewirken könnte.

Der dritte Zugang führt in das Innere der "Neues Deutschland AG". Die express-Redaktion sowie ihre Mitglieder Mag Wompel und Andreas Bachmann rekapitulieren am Diskussionsprozess im express die Ambivalenzen von Reformhoffnungen, die auch von Linken mit dem rot-grünen Regierungsbündnis verbunden waren, und einer radikalen Kritik an der betrieblichen Beschränktheit traditioneller Gewerkschaftspolitik. Die Optionen eines radikalen Reformismus werden auch in diesem zentralen Feld zumindest angerissen.

Abschließend präsentieren Peter Ruben und Timm Kunstreich zwei auf den ersten Blick konträre Einschätzungen der sozialpolitischen Perspektiven. Während Peter Ruben in einer kritischen Relektüre von Tönnies' Gemeinschaft und Gesellschaft zu einer skeptischen Beurteilung der Möglichkeit von Vergesellschaftung jenseits von über Individualeigentum vermittelten gesellschaftlichen Strukturen gelangt, sucht Timm Kunstreich aus der Rekonstruktion der fünfzehnjährigen Debatte um eine "Politik des Sozialen" in der WIDERSPRÜCHE-Redaktion die bisherigen analytischen Stränge zu vertiefen - in der Hoffnung, dass sich von hier aus neue Perspektiven entwickeln lassen. Auf den zweiten Blick ließe sich allerdings fragen, ob es zwischen den "sozialen Konstruktionen" Gemeinschaft/Gesellschaft und Politik des Sozialen nicht doch Verbindungslinien gibt. In jedem Fall gibt es genügend "Stoff" für nicht nur eine weitere Diskussionsrunde. Ein Fazit, das für alle angeführten Positionen gilt.

Eine Auswahl der Texte von Peter Grohmann, dem Grenzgänger und Pendler zwischen Ost und West, finden sich zwischen den Beiträgen verteilt über das ganze Heft. Die Texte von Christoph Dieckmann erschienen zuerst in "Die Zeit" zwischen 1996 und 1998 und können im Band - Das wahre Leben im falschen Berlin - Geschichten von ostdeutscher Identität - erschienen bei Ch. Links, Berlin, gelesen werden.

Die Artikel dieser Ausgabe erscheinen parallel in Ausgaben der Zeitschrift Berliner Debatte INITIAL. Wegen der zeitlich unterschiedlichen "Produktionsabläufe" werden nicht alle in einer einzigen Nummer erscheinen können. Wir bitten alle interessierten Leserinnen und Leser, aufmerksam die vergleichbare Debatte in INITIAL zu verfolgen. Wir hoffen, dass die Kooperation in dieser Form nicht die einzige bleibt, sondern sich weitere gemeinsame Fragestellungen und ggf. Projekte entwickeln lassen. Da diese Ausgabe der WIDERSPRÜCHE zugleich das Jahrbuch des Sozialistischen Büros für 1999 ist, bleibt außerdem zu hoffen, dass die hier dokumentierte Diskussion Anregungen für die nächste Jahrestagung des Sozialistischen Büros in Frankfurt gibt, die am 3. und 4. November 2000 stattfinden und Soziale Bewegung im / gegen den globalen Kapitalismus zum Thema haben wird.

Die Redaktion

* Peter Grohmann, Jahrgang 1937, Dresden/Stuttgart/Dresden; Mitbegründer und Mitarbeiter verschiedener Kultur- und gewerkschaftlicher Initiativen, unter anderem Club Voltaire, SZ Stuttgart, Theaterhaus Stuttgart, Projekt AnStiftung Dresden, Schriftsteller und Kabarettist, gewerkschaftlich organisiert seit 1953 (ohne Schwerter und Nadeln), schreibt regelmäßig seine Kolumne "Ostblick" im ötv-Magazin. Kontakt: AnStiftung, Haus auf der Grenze, Goethestr. 23, 01109 Dresden.

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