Pfad: Startseite > Hefte > 1998 > Zu diesem Heft

 

Druckansicht: Benutzen Sie bitte die Druckfunktion Ihres Browser | Zurück zur Bildschirmansicht

Startseite Suchen Druckansicht imagemap Schrift verkleinern Schrift vergrößern

Heft 70: abseits fallen - Abstieg bis zum Ausschluß?

1998 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 70
  • Dezember 1998
  • 108 Seiten
  • EUR 11,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-293-8

Zu diesem Heft

Viele Wege führen ins gesellschaftliche und soziale Abseits. Die Frage nach der Bedeutung von Ausgrenzung für die Betroffenen ist zunächst die Frage nach ihren zentralen Dimensionen. An vorderster Stelle steht dabei die Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt, also die dauerhafte Versperrung der Rückkehr oder des Eintritts in eine reguläre Erwerbsarbeit, die gleichzeitig auch mit einem individuellen Rückzug vom Arbeitsmarkt einhergehen kann. Nach wie vor ist dies die verheerendste Form von Ausgrenzung, weil sie in der Regel mit einer oder mehreren der folgenden Formen verbunden ist, vor allem aber mit der ökonomischen Ausgrenzung, mit der die Fähigkeit verlorengeht, innerhalb des regulären Erwerbssystems für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Als weitere Dimension der Ausgenzung ist die kulturelle Ausgrenzung zu nennen, die die Möglichkeit abschneidet, den anerkannten Werten, Verhaltensmustern und Lebenszielen entsprechend zu leben, aber auch die Ausgrenzung durch gesellschaftliche Isolation, die sich einerseits als Vereinzelung, andererseits als Konzentration der sozialen Kontakte auf einen engen Kreis (Gruppen- und Milieubildung) auswirken kann, und die räumliche Ausgrenzung, d.h. die Konzentration der Armut in bestimmten Stadtvierteln. Schließlich ist von institutioneller Ausgrenzung zu sprechen, wenn etwa bildende oder versorgende Institutionen durch ihre selektiven und/oder kontrollierenden Funktionen zur Ausgrenzung beitragen oder ihre Dienstleistungen gegenüber bestimmten Personen grundsätzlich einstellen (vgl. Kronauer 1997: 38ff.).

Zweifellos sind die Bedeutung und Gewichtung dieser Dimensionen der Ausgrenzung lokalen und nationalen Besonderheiten unterworfen; gleichwohl muß aber auch eine neue historische Qualität der Ausgrenzung konstatiert werden. Denn zum einen reichen die Beschäftigungseffekte des wirtschaftlichen Wachstums auf absehbare Zeit nicht mehr aus, um das Arbeitskräfteangebot zu absorbieren; zum anderen war "Arbeitslosigkeit in früheren Epochen eingebettet (...) in eine Expansion von an- und ungelernter Industriearbeit" (Kronauer 1997: 28), während heute gerade dieses Beschäftigungssegment rapide abnimmt, wodurch Arbeitslosigkeit für diejenigen, die sich in diesem Bereich reproduzieren müssen, von einer ehemals vorübergehenden Unterbrechung der Erwerbsbiographie zu einem dauerhaften Zustand zu werden droht. Das Resultat ist eine extreme Polarisierung innerhalb des Erwerbssystems. Und schließlich weist Arbeitslosigkeit heute auch deshalb eine neue historische Qualität auf, weil sie vor dem Hintergrund eines noch niemals dagewesenen kollektiven Aufstiegs und eines zuvor unbekannten Niveaus des gesellschaftlichen Wohlstands auftritt.

Gleichwohl wäre es verfehlt, ökonomische, soziale und kulturelle Ausgrenzungen als ein Entweder/Oder zu denken - als ein Drinnen/Draußen - Bild. Denn inzwischen ist empirisch gut abgesichert, daß es zwar eine beträchtliche Kontinuität von Armut und Arbeitslosigkeit gibt, andererseits aber auch eine erhebliche Fluktuation in und aus Armut. Exklusion ist nicht unumkehrbar, sondern markiert lediglich einen Endpunkt, von dem aus auch wieder aufgestiegen werden kann, d.h. sie stellt sich eher als ein Prozeß oder Spannungsverhältnis dar. Gleichwohl gibt aber "die Feststellung, daß Armut und Arbeitslosigkeit in vielen Fällen vorübergehende 'Episoden' darstellen (...) keinen Anlaß zur Beruhigung. Arbeitslosigkeit führt, selbst wenn sie nicht mit akuter Ausschlußdrohung verbunden ist, unter den Bedingungen eines zunehmend restriktiven Arbeitsmarkts zu beträchtlicher Angst vor dem sozialen Abstieg. Die Existenz der 'Entbehrlichen' verschärft diese Ängste noch" (Kronauer 1997: 45). Es steht zu befürchten, daß der verängstigte Drinnen/Draußen - Blick dominanter wird und sich über kurz oder lang in einen Bruch mit den Armen verlängert, der ihnen den ohnehin schon brüchigen sozialstaatlichen Schutz noch weitgehender entzieht. Im neoliberalen Diskurs, den Bourdieu (1998: 63) zu Recht als einen fatalistischen bezeichnet und in dem die "Prekarität" Teil einer neuen Herrschaftsform geworden ist (Bourdieu 1998: 100), wird das Drinnen/Draußen - Bild der Ausgrenzung zur Waffe derer, die etwas zu verlieren haben.

Zu den Beiträgen im einzelnen:

Das Spannungsverhältnis von Inklusion und Exklusion dechiffriert Zygmunt Baumann unter dem Aspekt einer neuen hegemonialen Law and Order - Politik. Während die Befreiung von Zwängen, die die neoliberale Wahlfreiheit einschränken, im globalen Verkehr von Menschen und Kapital die neue Weltordnung hervorbringt, verdammt derselbe Prozeß all die, die in lokaler Immobilität verharren müssen, zu Ausgeschlossenen. Das Gefängnis, in dem nicht "resozialisiert", sondern nur kommunikationslos in die Zelle geschlossen wird, wird damit zum Symbol des neuen Umgangs mit Law and Order - die weltweite Vernetzung der Mobilen zum leuchtenden anderen Symbol.

Um die statistische Korrelation zwischen Armut und psychischen Erkrankungen geht es in dem Artikel von Annette Leppert. Diese darf nicht dahingehend interpretiert werden, daß das Leben in den "unteren Schichten" die Entwicklung psychischer Erkrankungen fördere. Den kausalen Zusammenhang vermutet Leppert eher entgegengesetzt: Psychische Erkrankungen verhindern sozialen Aufstieg, befördern sozialen Abstieg und führen oft zum vorzeitigen Ausschluß aus dem Arbeitsleben. Gerade schizophrene Patienten, so kann Leppert empirisch belegen, können den kommunuikativen und ökonomischen Vorgaben der Arbeitswelt häufig nicht genügen. In den rehabilitativen Maßnahmen treffen sie dann meist wiederum auf eine Situation, die der Art und Symptomatik ihrer Erkrankung nicht gerecht wird. Gemeint sind Werkstätten für Behinderte: "Den Besonderheiten normal intelligenter psychisch Behinderter wird ihr Konzept in keiner Weise gerecht. Vielfach sind die Verhältnisse dort und der Charakter der ihnen abverlangten Arbeit bei ihrem ohnehin oft zerbrochenen Selbstwertgefühl eine zusätzliche Kränkung." Notwenig ist daher, so Leppert, eine psychotherapeutisch orientierte Rehabilitation, die sich konsequent den sozialkommunikativen Funktionseinbußen widmet und an der Beziehungsfähigkeit der Betroffenen ansetzt: "Mit der Selbstversorgung im Rahmen kleinerer Wohngemeinschaften könnte ein erster Schritt in Richtung eigenverantwortlicher, konkreter und sinnbringender Arbeitstätigkeit gemacht werden."

Als eine der extremsten Formen sozialer Ausgrenzung kann man die Wohnungslosigkeit bezeichnen. Auch in Ostdeutschland ist sie inzwischen zu einem bedeutenden Problem herangewachsen. Volker Busch-Geertsema und Ekke-Ulf Ruhstrat präsentieren die Ergebnisse ihres zweijährigen Forschungsprojekts und erläutern - am Beispiel der Situation in Sachsen-Anhalt - den Umfang und die Ursachen drohender und eingetretener Wohnungslosigkeit sowie die Reaktionen von Wohnungswirtschaft und staatlichen Stellen. Wie passen die seit Jahren aus Ostdeutschland gemeldeten Wohnungsleerstände mit der gleichzeitigen Zunahme der Wohnungslosenzahlen und dem Ausbau der Kapazitäten von Obdachlosenunterkünften zusammen? Welche Formen der Prävention gibt es? Und wie sind die Reintegrationschancen der ausgegrenzten Haushalte zu bewerten? Der Handlungsbedarf ist evident, denn "das Erreichen westdeutscher Wohnungslosenquoten war nicht gemeint mit dem propagierten Ziel der Angleichung von Lebensverhältnissen in Ost und West!"

Peter Bartelheimer befaßt sich anhand des Beispiels Frankfurt am Main mit dem Mythos von der möglichen und erfolgreichen sozial-räumlichen Durchmischung, den sich die westdeutsche Nachkriegs- Wohnungspolitik zu eigen gemacht hat. Er kritisiert diesen Anspruch als "Denkmal untergegangener Verhältnisse". Diese Verhältnisse zeichneten sich dadurch aus, daß sich eine gedachte Mitte der Gesellschaft - eine mehr oder weniger fiktive Mittelschicht - für das Ganze setzte. Diese Zielvorstellung jedoch ist spätestens seit den neunziger Jahren nicht mehr zu verwirklichen. Daß dieser Diskurs der Integration perverse Effekte erzielen kann, zeichnet er anhand seines Fallbeispiels genau nach. Dabei kann er herausstellen, daß die Orientierung am Mythos der sozialen Durchmischung auch deshalb beibehalten wird, weil sich die jeweils zuständigen Ämter und Behörden in dieser Politik bestens eingerichtet haben und ihre Ressourcen von der Aufrechterhaltung dieses Blickwinkels abhängig sind. Um diesen unzeitgemäßen Zustand überwinden zu können, plädiert er für eine Steuerung des Wohnhilfesystems über Zielvereinbarungen, die Dienstleistungen rund um das Wohnen, den Wideraufbau einer präventiv wirkenden Infrastruktur, den Einsatz von Sozialarbeit und die Versorgung in Wohnungsnotfällen vorsehen. Vor allem jedoch muß darauf verzichtet werden, Menschen ingenieursmäßig im städtischen Raum bewegen zu wollen. Stattdessen müssen die Risiken benachteiligter Gruppen und die Mechanismen des sozialen Ausschlusses dort bearbeitet werden, wo sie auftreten.

Heinz Sünker nimmt abschließend eine theoretische Positionsbestimmung für die Soziale Arbeit vor, die sich mit den in den vorhergehenden Beiträgen thematisierten Ausschlußprozessen zu befassen hat. Er schließt dabei zunächst an gesellschaftstheoretische und -kritische Überlegungen aus den siebziger Jahren an, die sich durch die Reflexion ihrer gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen auszeichneten. Damit spricht er vor allem die Frage an, wie mit dem schon von Hegel thematisierten Problem umzugehen ist, daß das Individuum nur um den Preis des Herausreißens aus dem Bande der Familie und der Entfremdung voneinander "Sohn der bürgerlichen Gesellschaft" werden konnte. Damit weist er erneut auf, daß die Rede von der "Individualisierung" für die bürgerliche Gesellschaft konstitutiv ist. Sünker kritisiert in diesem Zusammenhang den in neuerer Zeit von den Kommunitaristen unternommenen Versuch, den Atomismus der Individuen über bloße "Einbindung" aufheben zu wollen. Über diese sozialromantischen Vorstellungen hinausgehend schlägt er mit Adorno die Stärkung von Autonomie als Funktionsbestimmung von Sozialer Arbeit vor. Dazu gehört zentral die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen. Erst so kann, im Anschluß an den Marx der Grundrisse, die Assoziation freier Individuen auf die Tagesordnung kommen.

Die Redaktion

Literatur

  • Bourdieu, Piere 1998: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz
  • Kronauer, Martin 1997: "Soziale Ausgrenzung" und "Underclass": Über neue Formen der gesellschaftlichen Spaltung. In: Leviathan. Heft 1, S. 28-49

1998 | Inhalt | Editorial | Leseprobe