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Heft 68: '68 wird 30 - Zur Kontinuität eines Bruches

1998 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 68
  • Juni 1998
  • 116 Seiten
  • EUR 11,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-287-3

C. Wolfgang Müller

Ein Stück des Wegs zur gemeinsamen dritten Sache
Berliner Erinnerungen und Erfahrungen

Die Redaktion der WIDERSPRÜCHE hatte mich gebeten, zu diesem Heft mit einem Essay beizutragen, der meine Erfahrungen über den Zusammenhang zwischen Studentenbewegung, neuen sozialen Bewegungen und Neuerungen in der Sozialen Arbeit widerspiegeln sollte. Der Gattungsbegriff Essay verweist auf eine literarische Form der Bearbeitung. Das kommt mir gegenwärtig entgegen. Für eine Atempause in den italienischen Seealpen nahe der französischen Grenze entspannend, bin ich weit weg von jenem notwendigen elektronischen Schnickschnack, der zur Produktion bibliographiefester fachwissenschaftlicher Beiträge gehört. Ich bin deshalb auf das angewiesen, was mir in der Erinnerung als geronnene Erfahrungen bewußtseinsdominant haften geblieben ist. Das hat, wie wir wissen, seine Probleme. Aber bei einem Reizthema wie der zum Code festgefrorenen Jahreszahl "68" sind diese Probleme sowieso nicht vermeidbar. Und zwar auf beiden Seiten nicht. Sowohl die Zeitzeugen wie auch die Zaungäste, die um Erinnerungen und Erfahrungen nachfragen, benutzen das Thema als eine große Projektionsfläche, auf der sie ihre Hoffnungen und Wünsche, ihre Befürchtungen und Vorurteile abbilden. Erinnerungen und Erwartungen laufen für alle Beteiligten durch eine Membrane, die in beide Richtungen selektiv durchlässig ist.

Paradigmawechsel im Studium

Also "68". Dies vorweg: Ich bin kein "68er". In jenem Jahr war ich 40 Jahre alt und seit einiger Zeit Professor für Erziehungswissenschaft/Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Berlin, die insbesondere durch ihre von Paul Heimann, Wolfgang Schulz und Gunther Otto begründete "Berliner Schule der Didaktik" über die Grenzen der isolierten Halbstadt hinaus bekannt geworden ist. Meine Sturm-und-Drang-Jahre hatte ich eigentlich hinter mir. Ich hatte auch keine generationstypischen Probleme mit einem Elternhaus, das mit den Nationalsozialisten sympathisiert hätte. Meine Eltern waren lebensreformerisch und sozialdemokratisch orientiert und engagiert und haben mir meinen Weg ins Leben auf vielfältige Weise erleichtert. Ich hatte da keine Rechnungen zu begleichen. Aber ich hatte andererseits auch keine typische Hochschulsozialisation erfahren und erlitten, sondern war während und nach meinem Studium in Berlin und Basel in der Praxis der außerschulischen Jugendarbeit und in anderen, teilweise abenteuerlichen publizistischen Berufsfeldern tätig gewesen. Dann war ich auf Vermittlung durch Ludwig von Friedeburg und Willy Brandt zu einem zweijährigen Forschungsaufenthalt in die USA als Harkness Fellow eingeladen worden. In den Staaten geriet ich in die Nachwehen der Studentenrevolte in Berkeley, nahm an Aktionen der Bürgerrechtsbewegung an der Ostküste teil und profitierte von der kommunikativen Subkultur der folk and protest song-Bewegung um Pete Seeger, Phil Ochs und Joan Baez.

Als ich im Oktober 1965 meine ersten Vorlesungen und Seminare auf dem Lankwitzer Campus abhielt, war ich nicht zuletzt durch die nordamerikanischen Erfahrungen davon überzeugt worden, daß man auch anders lehren, forschen und publizieren könne, als ich es in der redlichen Bürgerlichkeit der Adenauerjahre kennengelernt hatte. Und ich hatte, glaube ich, begriffen, daß man politisch kämpfen könne, ohne zu hassen. Daß Gegner nicht notwendig zu Feinden stilisiert werden müssen, um der Auseinandersetzung die nötige Power zu geben. In Berlin war es damals noch vergleichsweise ruhig. Die Studierenden sagten "Sie" zueinander und zogen zum Zwecke der Staatsprüfungen für das Lehramt an den Schulen das kleine Schwarze oder den Nadelstreifenanzug an. Erst langsam begann sich das Klima zu ändern. Forderungen nach einer Reform des Studiums wurden laut. Kritisches Studium, alternative Lehrinhalte, Projektstudium und Kleingruppenarbeit waren Kürzel, die über die Vorarbeiten des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes und die Bundesassistentenkonferenz (SDS und BAK) auch auf unserem Campus auf offene Ohren trafen. An der Freien Universität gab es damals eine lose Vereinigung von Studierenden der Soziologie und Philosophie, die sich auf die Vorlesungen und Seminare ihrer Professoren in den vorlaufenden Semesterferien durch eigene Text- und Referatsarbeit in alternativer und kontroverser Absicht präparierten. Die Gruppe um die Zeitschrift Argument machte auch an der PH Berlin Schule. Für meine Wahrnehmung begann das neue Studium mit dem Verkauf eines Raubdrucks des zuerst 1925 erschienenen Buches von Siegfried Bernfeld, Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Der Raubdruck, mit einem handbetriebenen Spiritus-Umdrucker auf umständliche Weise hergestellt, war der Anfang eines alternativen erziehungs- und gesellschaftswissenschaftlichen Studiums, das von studentischen Initiativgruppen ausging. Hochschullehrer schlossen sich diesen Initiativen an oder standen ihnen sympathisierend zur Seite. In anderen Fällen gab es Ablehnung und Widerstand. Einigen Kolleginnen und Kollegen paßte die ganze Richtung nicht. Andere zeigten sich ehrlich besorgt, daß die neue Betonung des gesellschaftswissenschaftlichen Grundlagenstudiums Zeit und Kraft für die Aneignung des umfangreichen Lehrstoffs abziehen werde, der für die Vorbereitung von Lehrern aller Schultypen und Wahlfächer für nötig erachtet wurde.

Für uns Sozialpädagogen war diese Neuorientierung eine deutliche Bereicherung. Wir vertieften uns erstmalig (oder wieder) in die vergessenen, verdrängten und verschwiegenen Texte von Autoren, die eine psychoanalytische oder/und sozialistische Erziehungslehre entwickelt hatten und die eine international gesehen reichhaltige und lehrreiche Praxis vorweisen konnten. Bienenfleißig stellten Lutz von Werder und seine Mitstreiter (darunter der spätere Mitgründer der Kinderladenbewegung und zwischenzeitliche Rektor der Alice-Salomon-Fachhochschule für Sozialarbeit Reinhart Wolff) eine Bibliographie psychoanalytischer, sozialistischer und kommunistischer Autoren zusammen, die von vielen als sinnvolle Anleitung zum gesellschaftswissenschaftlichen Grundlagenstudium verstanden und genutzt wurde. Ich selber hatte aus den USA eine Fülle von neueren sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnissen zur Arbeit von und mit Gruppen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nach Deutschland mitgebracht und teilweise übersetzt. Die berühmten Führungsstil-Experimente von Kurt Lewin und seinen Mitarbeitern Lippitt und White und die Zeltlager-Experimente von Sherif und Sherif, die sich mit dem experimentellen Erzeugen von Zuneigung und Abneigung Jugendlicher durch die Steuerung von Knappheit und Ressourcen-Überfluß befaßten, waren für mich damals von ebenso erhellender Prägekraft wie die Passagen über die erzwungene Familienlosigkeit des Proletariats in der Formierungsphase des europäischen Kapitalismus im Kommunistischen Manifest von 1848.

Eine neue Kommunikationskultur

Dieser curriculare Paradigmenwechsel im Studium der Erziehungswissenschaft, der 1970 mit der Einführung des Diplomstudiengangs in Erziehungswissenschaft mit dem Studienschwerpunkt Sozialpädagogik auch formal legitimiert worden war, indem das Diplomstudium vom "Lehramtsstudium" getrennt wurde, wäre allein zwar wichtig, aber nicht "bewegend" gewesen. Man kann auch die Aneignung relevanter Texte durch einen Seminarstil verhindern, dessen implizite Didaktik viele Studierende zur kognitiven wie emotionalen Distanzierung zwingt. Aber im Hinblick auf einen notwendigen methodischen Paradigmenwechsel kamen mir meine jahrelangen Erfahrungen in der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung und meine jüngsten nordamerikanischen Erlebnisse zustatten. Denn die universitäre Didaktik der sechziger Jahre in den USA bezog sich immer noch auf die reform- und erlebnispädagogischen Ansätze und Routinen eines Dewey und Kilpatrick und ihrer Projektmethode, ihres Fallstudiums und ihres (in Maßen) experimentell-forschenden Lernens. Meine Mitarbeiter und späteren Professoren-Kollegen Gunther Soukup und Hellmut Lessing kamen beide aus der sozialistischen bzw. gewerkschaftlichen Jugendarbeit. Wir unterschieden uns in der Art und Weise, wie wir Seminare und Übungen organisierten, von der damals an den meisten geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten geübten Lehrpraxis. Wir hatten eine deutliche Hochachtung vor "funktionalen", d.h. "tätigkeitsgenerierten" Lehr- und Lernprozessen, die zu Unrecht als Neuerscheinung nationalsozialistischer Erlebnispädagogik etikettiert worden sind und noch heute an vielen Universitäten mißtrauisch beäugt werden. Diese unsere didaktische Grundposition traf sich - und das betrachte ich noch heute als einen Glücksfall - mit den zunächst geduldigen, später immer ungeduldiger werdenden Suchbewegungen unserer Studierenden nach einer Gemeinsamkeit von Lehrenden und Lernenden bei der Erforschung dessen, was berufsqualifizierend und lustvoll gleichermaßen sein könnte. In diesem Zusammenhang spielten für uns damals Bertolt Brecht und seine spezielle Didaktik eine große Rolle. "BB als Didaktiker" hieß auch eine Vorlesung, die Christine Holzkamp und Gunther Soukup mit mir zusammen mehrfach und unter ungewöhnlichem Zuspruch abgehalten haben. Dabei ging es uns einmal um die "gemeinsame dritte Sache", die Brecht in der Bearbeitung des Gorki-Textes über die Pelagea Wlassowa als generationenübergreifendes Bindeglied eingeführt hat. "Immerfort hört man, wie schnell/Die Mütter die Söhne verlieren, aber ich/Behielt meinen Sohn. Wie behielt ich ihn? Durch/Die dritte Sache./Er und ich waren zwei, aber die dritte/Gemeinsame Sache, gemeinsam betrieben, war es, die/Uns einte."

Christine Holzkamp stellte das Gedicht Brechts über die "Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Wege des Laotse in die Emigration" in den Mittelpunkt ihres didaktischen Ansatzes. Beim Überschreiten der Grenze fragt der Zöllner den weisen Laotse nach zollpflichtigen Waren. Nein, sagt der ihn begleitende Knabe. "Er hat nur gelehrt." "Hat er was rausgekriegt?" fragt der Zöllner. Und die Antwort: "Daß das weiche Wasser in Bewegung/mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt./Du verstehst, das Harte unterliegt", macht den Zöllner neugierig. Wie das zu verstehen sei, das möchte er wissen. Er bietet dem Alten und dem Knaben für die nächsten Tage ein Obdach, damit sie ihre Erkenntnis aufschreiben können. Nach sieben Tagen händigen die beiden dem Zöllner einundachtzig Sprüche aus und bedanken sich für die Gastfreundschaft. Brecht: "Aber rühmen wir nicht nur den Weisen/Dessen Name auf dem Buche prangt!/Denn man muß dem Weisen seine Weisheit erst entreißen./Darum sei der Zöllner auch bedankt:/Er hat sie ihm abverlangt."

Gunther Soukup und Christine Holzkamp haben ihre Erfahrungen als Lehrende und Lernende in dieser Zeit in einem Sammelband niedergelegt, den sie mir zum 60. Geburtstag geschenkt haben (Soukup/Koch 1988: 75ff. und 96ff.). (1) Ihre Schilderungen und die Fotos, die in dem Sammelband abgedruckt sind, deuten die allgemeine Stimmung an, die damals auf dem Lankwitzer Campus herrschte. Wir unterschieden uns darin von den anderen großen Berliner Universitäten (die PH versammelte damals rund 5.000 Studierende) und ihrer anders strukturierten Diskurskultur. Nicht zufällig verlegten wir Teile der Brecht-Vorlesung auf den sommerlichen Rasen eines Freilufttheaters im Berliner Grunewald. Nicht zufällig brachten Studierende ihre Kleinkinder und/oder Speisen und Getränkte für ein anschließendes Picknick mit. Nicht zufällig organisierte Gunther Soukup manche seiner Seminare als erlebnispädagogische Abenteuer mit hohem Leistungsanspruch, der sich allerdings nicht nur auf das Lesen-Schreiben-und-Reden-Können bezog. Wir haben damals in der Tat ein Stück Jugendbewegungskultur an der Hochschule wiederbelebt - die Göttinger beispielsweise taten dies ja auch schon in den endzwanziger Jahren. Mit dem immergrünen Einwand, solche Arrangements seien artifiziell und entmutigten individuelle kognitive Leistungen, kann ich im Hinblick auf die damalige Zeit wenig anfangen. Wir haben von uns aus das Studium nicht als gruppendynamisches Rollenspiel inszeniert, sondern wir haben zusammen mit der Mehrzahl der Studierenden nach Formen gesucht, die uns damals als angemessen erschienen. Und die in Gestalt von Diplomarbeiten dokumentierten Leistungen unterscheiden sich von manchen der heute vorgelegten Qualifizierungsarbeiten höchstens durch ihre weiter ausholenden Ansätze und ihre große und engagierte Beharrlichkeit.

Eine neue Praxis in der Stadt wirkt auf die Ausbildung zurück

Dies alles wären vom Brennglas der Erinnerung überglänzte Studiengeschichten, anders geartet vielleicht als die Studiengeschichten unserer Großväter, die sich zu Zeiten des "Krassen Fuchs" in Marburg und Heidelberg auf dem Pauckboden die Gesichter blutig hieben. Anders vielleicht, aber vielleicht auch nicht so grundsätzlich unterschieden. Wenn es da nicht den einen großen Unterschied gegeben hätte.

Wir - und damit meine ich Studierende, Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer, wissenschaftliche MitarbeiterInnen und Hochschulverwaltung gleichermaßen - haben damals den Versuch gemacht, eine berufsqualifizierende Hochschulausbildung für SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen zu organisieren, die berufsbefähigend und identitätsstiftend sein sollte - und nicht als identitätsförderndes extracurriculares Schmankerl dem "eigentlichen" Studium schulterklopfend zur Seite gestellt.

Unser Konzept für ein solches tätigkeitsgeneriertes Studium stand und fiel mit zwei Voraussetzungen, die nicht von der Hochschule selber abhingen: Wir waren abhängig von Studierenden, die in ihrer Mehrheit ein solches Studium wollten, von ihm profitieren konnten und durch vorherlaufende eigene Tätigkeiten darauf vorbereitet waren. Und wir waren abhängig von der Infrastruktur einer Stadt, die von neuen sozialpädagogischen und sozialarbeiterisch relevanten Projekten - ich darf übertreiben? - wimmelte. Berlin war Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre voll von Projekten der Vorschulerziehung, der Kindergarten- und Hortarbeit, der offenen Jugendarbeit in Jugendclubs und Freizeitheimen, in Jugendgruppen und Jugendverbänden, der sozialpädagogischen Arbeit in Wohngemeinschaften und in Familien mit Lebens- und Erziehungskrisen, voll von vorsichtigen Versuchen, die Psychiatrie zu öffnen und auf eine neue Weise mit neuen Zielgruppen und mit neuen Partnern internationale Begegnungen jenseits der bisher geförderten Westorientierung zu erproben. Alle diese Versuche wurden von einem breiten Spektrum junger Leute, die "freiwillige Helfer" zu nennen ich mich sträube, aktiv vorangetrieben und weiterentwickelt und von einer Jugend- und Sozialverwaltung mit mehr oder weniger Bauchschmerzen getragen, unterstützt, geduldet oder laufen gelassen. Es ist heute noch leicht, über die Bedenklichkeiten der damaligen Stadtbürokratie zu spotten. Sie hatte personelle Schwächen und strukturelle Fehler, die wir teilweise erst heute erkennen, ohne es allerdings erkennbar besser zu machen. Doch es gab damals einen - manchmal halbherzigen, manchmal kleinkarierten, aber immer noch wirksamen - Goodwill, der sich wohltuend von der gegenwärtigen "Hau-ruck-Stimmung" zur Herstellung einer sauberen, ordentlichen und ruhigen Hauptstadt unterscheidet.

Die meisten unserer Studienprojekte waren nicht von Senat und Bezirksämtern angeordnet worden. Sie waren von der Studentenbewegung und den sich anbahnenden neuen sozialen Bewegungen (der Schüler, der jungen Arbeiter und Angestellten, der Frauen, der Bürgerinitiativen und der Selbsthilfegruppen) ertrotzt, angeschoben, am Leben erhalten und weiterentwickelt worden. Unsere Studierenden und die der anderen Universitäten und Fachhochschulen waren dabei. Ich denke, es hat Ende der sechziger Jahre und Anfang der siebziger Jahre bei uns keinen Studierenden gegeben, der nicht einen erheblichen Teil seiner Arbeitszeit in der Mitarbeit in einem solchen Projekt zugebracht hätte. Aber nicht als eine zusätzliche Leistung "nebenbei", sondern als integrierter Teil des Studiums. Denn wir hatten für die vier Semester der Hauptdiplomphase ein Konzept entwickelt, in dem ein zweijähriges, wöchentlich auf zwölf Stunden (mindestens) berechnetes Theorie-Praxis-Seminar (TPS) die Hauptrolle spielte. Um dieses Seminar herum sollten sich die anderen Lehrveranstaltungen in den Gesellschaftswissenschaften, in Soziologie und Psychologie, in Erziehungs-, Jugend- und Sozialrecht und in der Verwaltungskunde flankierend gruppieren. Wir wollten weder die alte Praktikumspraxis, die meist zur Einübung in traditionsreiche Routinen diente, noch ein folgenloses Literaturstudium, das an den realen Bedingungen in der Stadt vorübergeht. Wir wollten, und das meinten wir ernst, in der Stadt Berlin verankert sein und dieser Stadt und seinen Bewohnern einen erkennbaren Dienst leisten. Die sozialen Bedingungen und Bewegungen in der Stadt waren unser Curriculum im sozialpädagogischen Hauptstudium und in nicht etwa Illustrationen eines an traditionellen Disziplinen orientierten Lehrplans. Dabei wollten wir aber auch selber etwas Neues lernen und es unter Anleitung von Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern in einer vergleichsweise geschützten, weil vorbereiteten Atmosphäre erproben. Die Seminargruppen sollten nicht weniger als acht bis zehn und nicht mehr als zwölf bis fünfzehn TeilnehmerInnen umfassen, die sich in einem langen, teilweise schmerzhaften Themenfindungsprozeß um ein gemeinsames Problem versammelt hatten, das von sozialpädagogischer Relevanz wäre und auf das es bisher noch keine befriedigende institutionelle Antwort geben würde. Das TPS war verpflichtet, einen gemeinsamen Abschluß- und Einschätzungsbericht zu verfassen, der öffentlich vorgestellt wurde, der aber nicht mit der Diplomarbeit identisch sein durfte, die als Einzel- oder Gruppenarbeit zu einem mindestens erweiterten Thema geschrieben werden sollte.

Im Laufe der letzten dreißig Jahre haben wir mehr als hundert solcher Theorie-Praxis-Seminare mit insgesamt sechs Hochschullehrern und Hochschullehrerinnen, vier wissenschaftlichen MitarbeiterInnen und dreißig bis vierzig PraktikerInnen als Lehrbeauftragten durchgeführt. Sie waren und sind eine große Belastung für alle Beteiligten. Sie waren und sind unterschiedlich erfolgreich. Am meisten konnten wir aus Projekten lernen, die nicht im herkömmlichen Sinne "erfolgreich" waren, aus deren Schwierigkeiten wir aber eine Menge für die künftige Berufspraxis gelernt haben.

Dabei soll nicht der innovative Beitrag verschwiegen werden, den viele unserer Studienprojekte für die Entwicklung sozialer Arbeit in der Stadt gespielt haben. Die Entinstitutionalisierung der traditionellen Heimerziehung, die externe Beratung von Wohn- und Lebensgemeinschaften, die selbstorganisierte Erzieher-Fortbildung (QUABS) und die Heimerzieherzeitung (hez) waren Ergebnisse professioneller Initiativen und studentischer Anstrengungen, die über Jahre hinweg Bestand hatten. Das Märkische Viertel verdankt sicherlich einen Teil seiner gegenwärtigen Bewohner-Akzeptanz dem erbitterten Kampf um eine Infrastruktur, die von den Planern außer Acht gelassen oder falsch eingeschätzt worden war. Die eigenständige Mädchenarbeit und Frauenbildung hatte in unserem Institut mit Christina Thürmer-Rohr und ihren Mitarbeiterinnen immer solidarische Partnerinnen gefunden. Die kritische Begleitung wichtiger jugend- uns sozialpolitischer Initiativen und Gesetzesnovellen durch Johannes Münder und seine Mitarbeiter hat seine große Bedeutung beibehalten und ist bei den Studierenden auf zunehmende Akzeptanz gestoßen. Internationale Projekte, auch mit unseren östlichen Nachbarn, spielen eine immer größere Rolle (Waltraut Kerber-Ganse und Gertrud Hardtmann). Manfred Kappeler, Klaus Schorner und ein aus Ost und West gemischtes Team von Jugendforschern ist um die zunehmenden Probleme der jungen Generation mit dieser Gesellschaft besorgt. Dabei wird deutlich, daß sich im Laufe der Jahre die Reichweite der praktischen Themen von dem Bearbeiten alltäglicher Probleme vor der Haustür und dem Versuch, sie aus gesellschaftlichen Strukturgesetzen heraus zu erklären, in Richtung auf Probleme und deren Bearbeitung verschoben hat, die sich einfacher Frontenbildung und einfacher Bearbeitung entziehen. Die Postmoderne hat uns eingeholt.

Und die Fehler?

In meiner Erinnerung spielten die Anfänge der Studentenbewegung und der an sie anschließenden sozialen Bewegungen eine bestimmende Rolle. Das Bild, das ich gezeichnet habe, wird hin zur Gegenwart verwaschen. Das hat seinen Grund. Die gemeinsame dritte Sache zwischen Lehrenden und Lernenden, aber auch innerhalb dieser beiden Gruppen stand damals deutlich im Vordergrund. Wir waren uns schnell über die nächsten Schritte und über die nächsten Ziele einig. Je weiter die Diskussion ins Grundsätzliche vorstieß, um so schwieriger schien es, noch hinreichende Gemeinsamkeiten zu entdecken. Und als dann der neu institutionalisierte Kampf um die Definitionsmacht zur Formulierung der nächsten Schritte und der endlichen Ziele einsetzte, standen sich auch auf unserem Campus die Studierenden als plötzliche Gegner gegenüber.

Diese mehr und mehr erstarrende fundamentalistische Unbedingtheit im Rechthaben und Rechtbehalten hat eine alte deutsche Tradition. Wir müssen mit ihr rechnen und dürfen sie nicht einfach "belittlen". Aber eine Prise anglo-amerikanischer Pragmatismus würde mir manchmal leichter fallen.

Und dann haben wir in dem verständlichen und notwendigen Bestreben, den Lauf der Welt und die gesellschaftliche Entwicklung richtig - das heißt: realistisch, und nicht idealistisch oder voluntaristisch - zu verstehen, den groben Fehler gemacht, die analytischen Kategorien zum Zwecke der Formulierung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten auf Einzelfälle zu übertragen. Wir haben dabei die Subjekthaftigkeit von Menschen als Gestalter ihres eigenen Lebens aus den Augen verloren und sind einem Determinismus verfallen, der gerade für Sozialpädagogen bedenklich ist. Gewiß: Wir arbeiten an den vielfältigen Folgen gesellschaftlicher Strukturprobleme. Aber die einzelnen Menschen, mit denen wir arbeiten und deren Leben wir erleichtern und verbessern sollen, sind mehr als eine "intervenierende Variable" in unserem beruflichen Interventionsprozeß. Und schließlich denke ich, daß wir in der Hoch-Zeit der Bewegung manchmal gutwillige und klarsichtige Kolleginnen und Kollegen, die zumindest Bündnispartner auf dem Weg zur gemeinsamen dritten Sache hätten sein oder werden können, unnötig durch Gesten schulmeisterlicher Rechthaberei vor den Kopf gestoßen haben. Ich denke an viele konkrete Beispiele und bin mit mir um ihretwillen noch heute unzufrieden. Aber vielleicht war ich damals noch nicht so recht in der Postmoderne angekommen.

PS.: Ach so. Ich hätte beinahe vergessen nachzutragen, daß der Akademische Senat der Technischen Universität Berlin auf einer Sitzung vor Beginn des Sommersemesters 1998 beschlossen hat, den Diplomstudiengang in Erziehungswissenschaft mit dem Studienschwerpunkt Sozialpädagogik einzustellen und die gesparten Haushaltsmittel langfristig zur Sanierung der "eigentlichen Kernbereiche" einer Technischen Universität zu verwenden. So ist das eben.

Anmerkung

1. Ich will und kann Leser von meinem gegenwärtigen Arbeitsplatz aus nicht mit einer auch nur annähernd vollständigen Liste der - zum großen Teil auch "grauen" - Literatur langweilen, die der Unterfütterung dieses Teils meiner Erinnerungen dienen könnte. Ich verweise deshalb nur auf einige Titel, die auch heute noch über den Buchhandel bzw. über das Institut für Sozialpädagogik an der TU Berlin (FAX: 030 31422770) vorrätig sind: Soukup/Koch 1988: Es kamen härtere Tage. Soziale Arbeit zwischen Aufbruch und Stagnation. Weinheim. Müller/Ripp 1992: Tropfen auf heißem Stein. Weinheim. Studienschwerpunkt Frauenforschung (Hg.) 1989: Mittäterschaft und Entdeckungslust. Berlin. Thürmer-Rohr 1994: Verlorene Narrenfreiheit. Berlin. Thürmer-Rohr 1998: Die unheilsame Pluralität der Welt - Von der Patriarchatskritik zur Totalitarismusforschung. In: beiträge zur feministischen theorie und praxis 47/48, S. 193ff. Im übrigen sind zahlreiche Diplomarbeiten, Dissertationen und Habilitationsschriften, die in unserem und um unser Institut für Sozialpädagogik entstanden sind, in verschiedenen Verlagen erschienen.

Literatur

Autorenkollektiv 1971: Gefesselte Jugend. Fürsorgeerziehung im Kapitalismus. Frankfurt/Main

Autorenkollektiv 1969: Erziehung und Klassenkampf oder: deren Geschichte nebst einer relativ vollständigen Bibliographie unterschlagener, verbotener, verbrannter Schriften zur revolutionären sozialistischen Erziehung. Zentralrat der sozialistischen Kinderläden, Berlin

Bernfeld, Siegfried 1967 [1925]: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt/Main

Dewey, John 1964 [1916]: Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. Braunschweig

Dewey, John; Kilpatrick, H.W. 1935: Der Projekt-Plan. Grundlegung und Praxis. Weimar

Liebel, Manfred; Schonig, Bruno (Hg.) 1987: Ist die Zukunft schon verbraucht? NachDenken über Jugend und Jugendarbeit. Zur Erinnerung an Hellmut Lessing. TU Weiterbildung, Berlin

Lippitt, Ronald; White, Ralph K. 1958: An Experimental Study of Leadership and Group Life. In: Maccoby; Newcomb; Hartley (eds.): Readings in Social Psychology. Holt, New York, pp. 496-510

Sherif, Muzafer; Sherif, Carolyn et al. 1961: Groups in Harmony and Tension. The Robber's Cave Experiment. Norman, Oklahoma

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