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Heft 54: Umbau des Sozialstaats: "Treffen der Generationen"

1995 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 54
  • März 1995
  • 128 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-101-8

Andreas Schaarschuch

Spaltung der Gesellschaft und soziale Bürgerrechte

Seit mehreren Jahren schon wird von Seiten der sog. "dynamischen Armutsforschung" (vgl. hierzu den Aufsatz von Wolfgang Völker in diesem Heft) und in der neueren journalistischen Aufbereitung ihrer Ergebnisse die These vertreten, daß Armut überwiegend nur eine kurzzeitige biographische Erfahrung darstelle, daß "die meisten Armen ... wieder den Weg nach oben (finden)" und damit, so werden die Bremer Armutsforscherinnnen Buhr und Ludwig zitiert, "für die Mehrheit der Sozialhilfeempfänger die Sozialhilfephase ein mehr oder weniger gedehnter Übergang ist, aber keine dauerhafte Deklassierung".

Neben der Postulierung von Armut als temporärer Erscheinung werden dann auch die Gründe für Armut auf das Verhalten der Armen zurückgeführt: "Das Auf und Ab auf der Achterbahn durch verschiedene Einkommenslagen richtet sich nach vielen biographischen Entscheidungen und Ereignissen, nicht nur nach Schicksalsschlägen wie Arbeitslosigkeit oder Krankheit." (1) Die Armen sind also selbst Schuld, sie haben sich falsch entschieden.

Entsprechend wird dann auch Entwarnung gegeben: "Neue Studien widerlegen die These von der Zweidrittelgesellschaft: Es wird kein armes Drittel dauerhaft vom Rest abgekoppelt" - so das Fazit. (Barbara Dribbusch, TAZ vom 22.10.1994, S. 3)

Das "Hauptanliegen" der "dynamischen Armutsforschung" besteht so denn auch darin, "die ja doch eher politisch-polemisch gemeinte Formulierung von der Zweidrittelgesellschaft zu widerlegen" (Busch-Geertsema/Ruhstrat 1992, S. 369). Die Arbeiten dieser Forschungsrichtung seien hinsichtlich der Konzeption ihrer Datenbasis nicht solide bzw. seriös, was zu dem Resultat führe, daß die "dynamische Armutsforschung" die langfristige Armut verharmlose. Heide Gerstenberger (1994, S. 8) hat in diesem Zusammenhang von der "Entdramatisierung des politischen Diskurses über soziale Verhältnisse" gesprochen. Eine solchermaßen verfahrende Wissenschaft schaffe der Politik erst die Grundlage für die sozialstatistische Erledigung des Problems langfristiger Armut. Schlimmer noch: Wissenschaft lasse sich ihre "Fragestellungen und Kriterien von politisch dominanten Diskursen und von Kriterien der Sozialverwaltung vorgeben" (ebd., S. 9).

I. Harte Spaltung - flexible Zonen

Die Rede von der "Zweidrittelgesellschaft", oder auch von der "gespaltenen Gesellschaft", die die dynamische Armutsforschung kritisiert, hat eine längere sozialwissenschaftliche Tradition.

Heinze hat angesichts der auf der Basis einer Segmentierung der betrieblichen Arbeitsmärkte sich verfestigenden Arbeitslosigkeit von über 2 Mio. Menschen bereits 1984 eine systematische "erweiterte Polarisierung" und eine "Bruchlinie" zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen, zwischen "relativ hochqualifizierten Arbeitsplatzinhabern mit größeren Dispositionsbefugnissen und minder qualifizierten Dauerarbeitslosen oder aber Beschäftigten mit hohem Arbeitsplatzrisiko" (Brandt 1981, S. 121)" konstatiert und nach den Folgen für die politisch-soziale Integration in einer solchermaßen gespaltenen Gesellschaft gefragt (Heinze 1984, S. 135).

Seither hat der Topos der "Spaltung der Gesellschaft" oder der der "Zweidrittelgesellschaft" eine wissenschaftliche Konjunktur und im sozialpolitischen Kontext eine gewisse Popularisierung erfahren und ist mittlerweile zum öffentlichen Allgemeingut geworden. Sogar im "Gemeinsamen Wort der Kirchen": "Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland" ist davon explizit die Rede (Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.) o.J. (1994), S. 20).

Dennoch ist er in der Diskussion nicht in dem Sinne verwandt worden, wie es seine Kritikerinnen und Kritiker behaupten: als Kennzeichnung der rigiden Trennung von zwei in sich relativ stabilen und homogenen Gruppen.

Entgegen einer solchen Auffassung ist vor einem politisch-ökonomischen Hintergrund argumentiert worden, daß für die sich herausbildende sog. "postfordistische Gesellschaftsformation" mit ihrem zentralen Strukturmerkmal der Flexibilität zwar die Spaltung der Gesellschaft entlang der Scheidelinie Lohnarbeit/NichtLohnarbeit grundlegend ist, diese aber nicht als eine harte Sektorierung in zwei 'Lager' oder gar 'Klassen' zu verstehen ist. Vielmehr ist im Rahmen dieser sich herausbildenden Formation die Etablierung einer breiten Übergangszone zwischen beiden Sektoren notwendig, die die notwendige Flexibilität der Gesellschaftsformation hinsichtlich des Arbeitskräftepotentials gewährleistet.

Dabei verhält es sich nicht so - wie man vielleicht annehmen könnte - daß eine durchgängige graduelle Abstufung zwischen Kern und Rand incl. ihrer Übergangszonen ausschließlich nach den Kriterien der Qualifikation ausgerichtet wäre. Vielmehr setzt sich die Flexibilisierung auf allen Qualifikationsebenen durch, z.B. auch auf der Ebene der akademischen Abschlüsse.

In diesem Rahmen kommt staatlicher Sozialpolitik generell die Aufgabe des "Managements der Spaltung der Gesellschaft" zu, d.h. die Schaffung und Aufrechterhaltung flexibler Zonen und Abstufungen zwischen Kern und Rand der Gesellschaft.

Ziel der Sozialpolitik ist nun nicht mehr wie ehedem im Kontext der "fordistischen" Formation primär die Integration in ein Modell der Lohnarbeit, sondern die Heterogenisierung der Lohnarbeiterschaft vor dem Hintergrund der Flexibilitätsanforderungen macht eine Vielzahl von abgestuften Regelungen notwendig, die im weiten Übergangsspektrum zwischen festangestellter, vollzeitausgelasteter Kernarbeit und dauerhafter Ausgrenzung vermitteln (vgl. Schaarschuch 1990, S. 156f.).

Was aber bedeutet die Tatsache, daß nicht mehr nur eine mehr oder weniger kleine Anzahl von Mitgliedern als Ausnahme, sondern ein größerer Teil der Mitglieder einer Gesellschaft auf Dauer nicht mehr in der Lage ist, seine Arbeitskraft auf dem Arbeits"markt" zu verkaufen und so seine Subsistenz zu sichern für dessen gesellschaftliche Integration und die Integration der Gesellschaft?

II. Eine "andere" Klasse?

Im Hinblick auf die Beantwortung der hier aufgeworfenen Fragen nach der gesellschaftlichen Integration und damit verbunden nach dem Rechtsstatus der aus dem Vergesellschaftungszusammenhang durch Lohnarbeit dauerhaft Ausgegrenzten ist es aufschlußreich, einen Blick auf andere Nationen zu werfen, deren gesellschaftliche Struktur, verglichen mit der bundesdeutschen Situation, deutlich stärker polarisiert ist und die überdies im Bereich der Sozialpolitik seit über 15 Jahren von äußerst restriktiven Politiken neokonservativer und neoliberaler Regierungen gekennzeichnet sind - die Vereinigten Staaten und Großbritannien. (2)

Diese verfügen zwar über z.T. gänzlich andere sozialstaatliche Traditionen, dennoch können die Entwicklungen dort aber hilfreiche Hinweise auf Trends geben, bei denen davon ausgegangen werden kann, daß sie sich hierzulande aufgrund der Gemeinsamkeit in der Produktionsweise zwar graduell, nicht aber prinzipiell anders gestalten werden.

In den USA und Großbritannien wird seit Mitte der 80er Jahre ein soziales Phänomen diskutiert, das mit dem dort neuerdings sehr populären Begriff der "underclass" belegt wird.

Vor dem Hintergrund einer sich verschärfenden gesellschaftlichen Polarisierung durch fünfzehn Jahre Reaganomics und Thatcherism bezieht sich dieser Terminus auf die Prozesse der Zunahme und Verfestigung verarmter und marginalisierter, schwarzer Bevölkerungsteile, die in den Ghettos der Großstädte leben müssen.

Dieses zunächst von "liberalen" Sozialstaats- und Gesellschaftstheoretikern in den Vereinigten Staaten verwendete Konzept der "underclass" geht von einer fixierbaren, heterogenen sozialen Gruppierung aus, die klar von der übrigen Armutsbevölkerung unterschieden werden könne.

Diese neue Klasse wurde als das ghettoisierte Resultat sozialer Ausgrenzungsprozesse aus der Lohnarbeit und damit verbundenen hohen Raten von Armut und Wohlfahrtsabhängigkeit, aus erträglichen Wohnbedingungen, aus Bildung, aus Arbeitsschutz und aus den vollen Leistungen der sozialen Sicherungssysteme verstanden, das sich in hohen Raten von Arbeitslosigkeit, unvollständigen Familien, hoher Kriminalitätsbelastung, verbunden mit nur geringer Hoffnung auf Möglichkeiten zum Verlassen dieser Kontexte von Untätigkeit und Armut ausdrückt (vgl. Rodger 1992, S. 58f).

Diese grundsätzliche Annahme der Verfestigung einer marginalisierten Schicht unterhalb der "lower class", eben einer "underclass", als das Ergebnis ökonomischer und gesellschaftlicher Prozesse ist in der Folge von der Neuen Rechten in den USA aufgegriffen und im Kontext einer grundlegenden Kehrtwendung der Wohlfahrtspolitik vom "war on poverty to the war on welfare" (Katz 1989) mit einer speziellen Bedeutung belegt worden.

Das "hijacking" des Begriffs bzw. Konzepts durch die Neokonservative Rechte hat unter kritischen Sozialwissenschaftlern eine intensive Diskussion provoziert und dazu geführt, dieses Konzept zu überprüfen und/oder zu revidieren (Robinson/Gregson 1992, S. 39; S.43f.).

Die Debatte über das Phämomen der "underclass" ist deutlich polarisiert: Während politisch eher "liberal" und links orientierte Sozialwissenschaftler wie William J. Wilson (1987) mit dem Konzept der "underclass" im wesentlichen auf sozial- und gesellschaftsstrukturelle Bedingungsfaktoren der systematischen Ausschließung breiter Bevölkerungsteile von gesellschaftlicher Teilhabe auf der Grundlage einer diskontinuierlich verlaufenden, kapitalistischen Ökonomie hinweisen wollen, zielt die Neue Rechte - hier ist der Amerikaner Charles Murray (1984) einer der führenden Köpfe - zentral auf die Restaurierung sozialer Stigmatisierung ab, die ein essentieller Bestandteil der Gesellschaftsordnung sein müsse. Ein zentrales Merkmal der "underclass" sei - so Murray - das von Mittelschichtsnormen abweichende soziale und moralische Verhalten im Bereich von Sexualität, Arbeit und Kriminalität der in dieser Kategorie zusammengefaßten Bevölkerung im Zusammenhang mit einem gegen die allgemeinen Normen der Gesellschaft gerichteten System von Wertorientierungen (vgl. Robinson/Gregson 1992, S. 40; Gebhardt 1995).

Diese abweichenden Verhaltensweisen seien ein Resultat des Ausbaus der wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme in den 70er Jahren, die eine "Kultur der Abhängigkeit" geschaffen hätten, in der sich die Armen einrichteten und in der sie gefangen seien. Die Programme des nun als "nanny-welfare-state" denunzierten, in den Vereinigten Staaten gleichwohl marginalen Wohlfahrtsstaates seien somit schädlich, indem sie die Armen in eine Falle laufen ließen, weil die Selbsthilfekräfte der einzelnen blokkiert würden und verkümmerten.

In einem politischen Klima, in dem die Ideen des Sozialdarwinismus sich einer erneuten Popularisierung erfreuen, nahmen nun die Neokonservativen die trotz des "welfare state" unzweifelbar sich verschärfenden Lebensverhältnisse in den euphemistisch als "inner cities" bezeichneten slums zum Anlaß, dies damit zu erklären, daß es halt eine "underclass" gebe, der man aufgrund ihres destruktiven Verhaltens und ihrer antisozialen Pathologien nicht mehr helfen könne und auch nicht mehr helfen solle (vgl. Robinson/Gregson 1992, S. 40), weil "auf längere Sicht... liberale Sozialhilfepraktiken und großzügigere Transferzahlungen in letzter Konsequenz die Desintegration von Familienstrukturen und die Abhängigkeit vom Wohlfahrtsstaat fördern und damit die Mittelklassenkultur unterminieren" (Gebhardt 1995, S. 51).

Weil die Ursachen dieser Entwicklung im Verhalten "dieser Leute" lägen, seien alle öffentlichen sozialpolitischen Interventionen - z.B. weitere wohlfahrtsstaaliche Programme und Reformen - von vornherein zum Scheitern verurteilt und deshalb abzuschaffen. Als Konsequenz bleibt dann nur die weitere Distanzierung von und eine noch stärkere und repressivere Kontrolle dieser "gefährlichen Klassen" (vgl. Morris 1994).

Diese Argumentation reaktiviert von ihrer Struktur her die armutspolitische Unterscheidung von "deserving" und "undeserving poor" also von "würdigen" und "unwürdigen Armen" des 19. Jahrhunderts - also von Armen, die arbeiten wollen, aber nicht können und Armen, die arbeiten könnten, aber nicht wollen - ohne die Frage zu stellen, ob es überhaupt Arbeit gibt und zu welchen Bedingungen gearbeitet wird (vgl. Katz 1989).

Während im US-amerikanischen Kontext das Konzept der "underclass" sich in erster Linie auf eine Subgruppe von arbeitslosen schwarzen Armen bezieht, die in der Fassung von Murray primär aus, von Kriminalität und Drogenkonsum belasteten, jungen Männern und alleinerziehenden unverheirateten Müttern mit illegitimen Kindern in großstädtischen, ghettoisierten Lebensbereichen gebildet wird (vgl. Gebhardt 1995, S. 62), wird in der britischen Debatte ein eher weiter Begriff von "underclass" als Synonym für "die Armen" verwandt und primär in Beziehung mit sozialen Bedingungen wie Arbeitslosigkeit und Armut gesetzt (Robinson/Gregson 1992, S. 43). Gleichwohl wird von neokonservativer Seite versucht, durch eine Übertragung der zentralen Argumentationsfiguren - Verhalten, Kultur der Abhängigkeit etc. - in den britischen Kontext - Murray wurde eigens nach Großbritannien geholt, um auch dort die "underclass" zu "entdecken" - in ähnlicher Weise restriktive wohlfahrtsstaatliche Politiken zu begründen (vgl. Rodger 1992, S. 46).

In der kritischen sozialwissenschaftlichen Literatur findet derzeit eine kontroverse Diskussion darüber statt, ob das Konzept der "underclass" weiterhin benutzt werden solle.

Einig ist man sich weitgehend darin, daß der Begriff der "underclass" im wissenschaftlichen Kontext nicht als ein tragfähiges analytisches Konzept gelten kann, das die Realität angemessen zu erfassen vermag (Robinson/Gregson 1992, S. 44). Die Heterogenität der Ausgeschlossenen und Marginalisierten und die damit verbundenen Interessen sei so stark, daß ein gemeinsamer Klassencharakter nicht identifiziert werden könne - gar nicht erst zu reden von Ansätzen eines gemeinsamen Klassenbewußtseins (ebd., S. 47). Deshalb sei es nicht möglich, auf der Basis dieses plakativen Konzepts und primär politischen Kampfbegriffs langfristig tragfähige politische Strategien zu entwickeln.

Dennoch schlagen einige Autoren vor, diesen in den Medien häufig verwendeten, popularisierten Begriff inhaltlich anders zu füllen. Unter vorsichtiger Verwendung sei es möglich, ihn als einen kritischen, politischen Terminus zu benutzen, der die gesellschaftliche Ausschließung eines Teils der Bevölkerung sehr plastisch zum Ausdruck bringe und die damit verbundenen Schlüsselprobleme - wie die weitere gesellschaftliche Polarisierung, das Fehlen vom Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs, der räumlichen Segregation der Ärmsten in Ghettos - ins öffentliche Bewußtsein heben könne (ebd., S. 49).

Dagegen wird das Argument angeführt, daß dieser Begriff nicht zur Skandalisierung gesellschaftlicher Spaltung tauge, weil er aufgrund seiner Koppelung an die Dimension des 'abweichenden Verhaltens' durch die neokonservative Popularisierung im öffentlichen Bewußtsein eine schwammige, emotionsgeladene, stigmatisierende Bedeutung erhalten habe. Der Versuch, ein stigmatisierendes label im Rahmen entstigmatisierender politischer Strategien einzusetzen, gleiche deshalb einem Spiel mit dem Feuer (Lister 1990, S. 26; ähnlich: Katz 1989, S. 233f.).

Die Debatte um das Konzept der "underclass" ist für unsere Situation insofern aufschlußreich, als sich hier die tiefgreifende Spaltung der Gesellschaft in Kategorien widerspiegelt, die vor dem Hintergrund öffentlicher Diskurse die Legitimationsbasis für Politiken der Ausgrenzung der Marginalisierten und Strategien der Integration der "Restgesellschaft" zugleich abgeben.

Sie ist auch aufschlußreich im Hinblick auf die Begrifflichkeiten, mit denen wir hierzulande zur Analyse wie auch zur politischen Skandalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse operieren und auf die wir unsere strategischen sozialpolitischen und gesellschaftspolitischen Optionen aufbauen: Der Begriff der "gespaltenen Gesellschaft" wie auch der der "Zweidrittelgesellschaft" ist zur Beschreibung und Analyse der wesentlich komplizierter sich gestaltenden Realität gesellschaftlicher Spaltungs- und Heterogenisierungsprozesse nicht hinreichend präzise.

Andererseits aber werden mit diesen Begrifflichkeiten - vergleichbar mit der englischen Debatte um den Terminus der "underclass" - die Möglichkeiten der Verwendung als kritische, skandalisierungsfähige Kategorie in der politischen Arena nicht zugleich stillgelegt, wie die Einwanderung in den Wortschatz der Kirchen als erfolgreiches Beispiel belegt - zumal damit im bundesrepublikanischen Kontext (noch) im wesentlichen strukturelle Faktoren angesprochen sind und stigmatisierende Konnotationen weitgehend entfallen.

Gleichwohl ist die Verwendung des Begriffes der "underclass" wie des der "Zweidrittelgesellschaft" auch auf der politischen Ebene nicht unproblematisch: beide suggerieren eine Homogenität der Marginalisierten, die es nicht gibt.

In dem seinerzeit für traditionelle Linke provozierenden Buch "Abschied vom Proletariat" hat Andre Gorz (1980) auf das Problem hingewiesen, in die Masse der aus dem Lohnarbeitszusammenhang der Arbeitsgesellschaft Ausgegrenzten die Potenz eines historischen Subjekts hineinzuinterpretieren. Diese seien aufgrund ihrer Heterogenität lediglich noch als Sammelkategorie und ex negative als "Nicht-Klasse der Nicht-Arbeiter" zu begreifen.

Ulrich Beck (1983) hat im Rahmen seines Theorems von der "Individualisierung" deutlich gemacht, daß sich in der Entwicklung der Bundesrepublik als ein durchgängiger Trend einerseits eine Verallgemeinerung des Lohnverhältnisses, resp. des "abstrakten Klassenverhältnisses" (Kreckel 1992), vollzogen hat. Andererseits sind aber auch die mit diesen verbundenen traditionalen, "ständischen" Konnotationen - die kulturellen und in konkreten sozialen Milieus zum Ausdruck kommenden Handlungspraxen, Deutungsmuster und sozialen Formen - aufgrund einer allgemeinen Erhöhung des Lebensniveaus sowie der sozialen und geographischen Mobilität mehr und mehr "weggeschmolzen".

Zurück bleibt ein zunehmend auf sich selbst zurückgeworfenes Individuum, daß in seiner Lebenspraxis kaum noch auf selbstverständliche soziale Solidarzusammenhänge und Lebensmilieus zurückgreifen kann, sondern diese selber aktiv herstellen muß.

Die soziale Vereinzelung wird umso stärker, wenn der oder die Einzelne von der Vergesellschaftung von Lohnarbeit ausgeschlossen bzw. in diese immer nur prekär einbezogen ist, oder weitergehend noch, durch Armut auch aus dem konsumtiven Zusammenhang, mit dem sozialer Status ebenfalls verbunden ist. Der Verlust der Erfahrung "klassenkultureller" Solidarität und das weitgehende, ausschließliche Verwiesensein des oder der Einzelnen auf sich selbst, verbunden mit der Notwendigkeit der Verfolgung primär eigener Interessen in der individuellen Konkurrenz um Arbeitsplätze und Lebenschancen lassen kollektive Strategien der in die Marginalität Abgedrängten als wenig wahrscheinlich erscheinen.

Vor diesem Hintergrund bleibt es unerfindlich, wie neuerdings aus der empirischen Heterogenität der Marginalisierten und entsprechend unterschiedlichsten Interessen gegen alle Evidenz eine "neue Proletarität" konstruiert werden kann und aus der nur ex negative zu bestimmenden Gruppe der Ausgrenzten, Armen, prekär Beschäftigten, 'neuen Selbständigen', Jobbern, Studenten etc. ein einheitliches "Klassensubjekt" mit 'Willen und Bewußtsein' herbeikomponiert wird - oder um die Marxschen Termini zu verwenden: eine "Klasse für sich". Und dies auch noch im Weltmaßstab (Roth 1994). (3)

Weiter vorn wurde die Frage aufgeworfen, welche Konsequenzen es für den gesellschaftlichen Status mit sich bringt, daß das Arbeitsvermögen dauerhaft nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt verkauft werden kann. Im Zusammenhang mit der Entstehung und Verfestigung einer zunehmenden Zahl von Ausgegrenzten am unteren Ende des sozialen Spektrums wurden am Beispiel amerikanischer und britischer Erfahrungen die neokonservativen Politiken der Schuldzuweisung an die Opfer durch die Pathologisierung ihrer Verhaltensweisen und der repressiven Kontrolle aufgezeigt.

Die "underclass" wird zu einer "dangerous class" (Morris), die nur noch mit verstärkter Observation und Kontrolle sowie 'Erziehung' im Zaum gehalten werden kann und die darüber hinaus alltäglich als pittoreskes Anschauungsobjekt bürgerlicher Medien den gesellschaftlichen Kernen wohlige Schauer des Abscheus und des Entsetzens über den Rücken jagt.

Durch die Forcierung der Politik der Ausgrenzung anstelle der notwendigen Politiken gesellschaftlicher Integration wird zunehmend der Status der Ausgegrenzten als Vollbürger infrage gestellt (vgl. Robinson/Gregson 1992, S. 39; Morris 1994). Denn: "Nur wer über die Hauptrolle der beruflichen Arbeit verfügt, kann seine anderen sozialen Rollen ausüben, kann letzten Endes politischer Bürger sein" (Koch 1993, S. 450).

Noch sind die formalen bürgerlichen Rechte nicht aberkannt, aber die Marginalisierten sind faktisch von allen anderen Formen und Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen.

III. Recht auf Einkommen - Pflicht zur Arbeit?

Nun ist Deutschland nicht Amerika. Dennoch sind Tendenzen einer ähnlichen Entwicklung in abgeschwächter Form auch hierzulande nicht zu übersehen: Die manifeste Armutsbevölkerung beträgt über zehn Prozent, die Dauer von Arbeitslosigkeits- und Armutsphasen steigt, die negativen Belastungen kumulieren (Döring/Hanesch/Huster (Hg.) 1990; Hanesch et al. 1994).

Insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung in den ostdeutschen Regionen werden sich voraussichtlich weiträumige Armutszonen herausbilden. Neueste Schätzungen gehen von einem arbeitslosen Erwerbspersonenpotential von 25 bis 27% im Jahre 2010 in Ostdeutschland aus.

Und gleichzeitig werden von den politischen Eliten Kampagnen über einen Mißbrauch von Sozialleistungen initiiert, wird das sog. "Abstandsgebot" der Sozialhilfe zum größten sozialpolitischen Thema gemacht.

Und schon finden sich auch hierzulande dynamische Armutsforscher, die die Ursachen für Armut - wie vorhin am amerikanischen Beispiel diskutiert - im Verhalten, in den "riskanten Entscheidungen" der Armen zu finden meinen.

Angesichts der Ausgrenzungsprozesse durch sozialstaatliche Nichtbeachtung und Vernachlässigung der Marginalisierten, der zunehmenden Repression und des damit einhergehenden Verlustes an Zivilität im Mutterland der "civil society" stellt sich für unseren gesellschaftlichen Kontext in der Bundesrepublik die Frage, wie und mit welchen Mitteln gesellschaftliche Teilhabe und Integration derjenigen, die dauerhaft aus dem Vergesellschaftungszusammenhang durch Lohnarbeit ausgeschlossen sind, gesichert werden kann.

In der Diskussion des linksalternativen Spektrums über Gegenstrategien zur Spaltung der Gesellschaft ist das "Mindesteinkommen" - oder "Bürgergehalt", "Existenzgeld", "Garantiertes Mindesteinkommen", "Sozialdividende" wie es auch noch genannt wird - als die zentrale Option ins Spiel gebracht worden.

Historisch geschah dies zu einem Zeitpunkt, als sich abzeichnete, daß die Arbeitslosigkeit von über 2 Mio. Menschen zur dauerhaften gesellschaftlichen Normalität werden würde - also etwa Mitte der 80er Jahre. Wie unterschiedlich auch immer die Modelle im einzelnen waren und sein mögen, sie stimmten in der Absicht überein, die Verelendung breiter Bevölkerungsgruppen zu verhindern.

Wenn neuerdings auch von Seiten des politischen Establishments in der Bundesrepublik ein "Bürgergeld" oder eine "Negativsteuer" zum politischen Programm erhoben werden, so sind damit grundsätzlich andere Intentionen verbunden: Es geht primär um die Erhöhung des Anreizes zur Aufnahme auch schlecht bezahlter Arbeit, d.h. eine Subvention von unrentablen Jobs, zum zweiten um die Effizienzsteigerung sozialstaatlicher Bürokratien durch Zentralisierung und Vereinheitlichung der Leistungen, dadurch - drittens - um die Verhinderung des "Mißbrauchs", und schließlich - dies will vor allem die FDP - um einen "Umbau" sozialstaatlicher Sicherungssysteme in eine (Mindest-)Grundsicherung und eine "private Höherversicherung". (4)

Was diese Vorschläge nicht intendieren, ist ein Mindesteinkommen, das einen qualitativen Schritt hin zu weniger Verelendung und sozialer Ungleichheit und zu mehr gesellschaftlicher Solidarität bedeuten würde.

Es ist interessant festzustellen, wie im Verlauf der vergangenen 5-6 Jahre die Thematisierung des Mindesteinkommens - der Hit der Grün-Links-Alternativen Sozialpolitik der 80er Jahre - zunächst immer schwächer wurde und nun von der politischen Rechten wiederaufgegriffen und propagiert wird. Es scheint so, als habe das linksalternative Spektrum seine Hegemonie in der Thematisierung des Sozialen verloren.

Im folgenden sollen hier die verschiedenen Modelle und Vorstellungen zum Mindesteinkommen nicht weiter diskutiert, sondern der Frage nachgegangen werden, welche Chancen und Gefahren sich im Zusammenhang mit der politischen Option für die Einführung eines Mindesteinkommens in diesem konkreten gesellschaftspolitischen Kontext einer gespaltenen und heterogenisierten Gesellschaft erkennen lassen.

Der zentrale Punkt, bei dem es im Rahmen einer Forderung nach einem Garantierten Mindesteinkommen gehen muß, ist, daß es nicht nur vor Armut und Verelendung schützen - das wäre die defensive Variante -, sondern perspektivisch auf die gesellschaftliche Teilhabe derjenigen ausgelegt sein muß, die es in Anspruch nehmen (Redaktion Widersprüche 1985).

Ein solches Garantiertes Mindesteinkommen würde bedeuten, daß jeder Mensch unabhängig von eingezahlten Beiträgen und ohne Bedürftigkeitsprüfungen einen grundsätzlichen Rechtsanspruch auf eine zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigende menschenwürdige Existenzgrundlage hat.

Das heißt konkret: Ein Mindesteinkommen muß auf materieller Ebene gesellschaftliche Teilhabe auf einem Niveau garantieren, das deutlich über der jeweilig definierten Armutsschwelle liegt. Das heißt, die Höhe des materiellen Transfers ist entscheidend für gesellschaftliche Teilhabe auf materieller Ebene.

Ein Garantiertes Mindesteinkommen würde zudem verschiedene, außerhalb der Lohnarbeit stehende, Reproduktionsweisen - zumeist die klassischen Reproduktionsarbeiten von Frauen - gesellschaftlich anerkennen.

Ein Mindesteinkommen wäre nicht nur im Sinne derjenigen, die ihre Existenz nicht auf ein Lohneinkommen stützen, sondern auch derjenigen, die sich im System der Lohnarbeit befinden. Für diese würde eine Teilhabegarantie die Relativierung der Bedrohung durch Ausgrenzung aus der Lohnarbeit bedeuten. Damit könnten die herrschaftstechnischen Vorteile einer gespaltenen Gesellschaft teilweise kompensiert und unterlaufen werden.

Die These, die hier vertreten werden soll, geht davon aus, daß eine isolierte Strategie des Garantierten Mindesteinkommens in der Gefahr steht, die bereits existierende Spaltung der Gesellschaft sozial zu untermauern. Ein Mindesteinkommen ohne die Garantie gesellschaftlicher Teilhabe auf der Ebene allgemeiner und sozialer Bürgerrechte kann problemlos zur Pazifierung und Ghettoisierung der abgespaltenen Teile der Mitglieder einer Gesellschaft dienen.

Historisch wurden die Lohnarbeiter in den auf den Besitz von Waren und ihrer Zirkulation gegründeten und durch "unsichtbare Hand" gestifteten gesellschaftlichen Zusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft durch den Verkauf der einzigen Ware, die sie besitzen, ihres - wie Marx es formuliert- "lebendigen Arbeitsvermögens" integriert - wenngleich auch auf hochgradig widersprüchliche Art und Weise. Auf den Besitz von Waren und die Möglichkeit, diese auch zu "verkehren", wie Kant sagte (1975, S. 151), d.h. zu veräußern, gründete sich die Rechtsfigur des (Besitz-)Bürgers und später auch die des Staatsbürgers, die in der Folge der Kämpfe der Arbeiterbewegung auch auf Lohnarbeiter ausgedehnt wurde.

Auf gesellschaftlich-politischer Ebene wurde damit ratifiziert, was im realen ökonomischen Prozeß sich bereits durchgesetzt hatte: Indem an der Oberfläche der Austausch von lebendigem Arbeitsvermögen und Kapital als ein scheinbar äquivalenter Prozeß des Warentausches, realiter aber als die einseitige Aneignung von Mehrwert sich vollzieht, wird der Lohnarbeiter als Eigentümer und Verkäufer der einzigen Ware, die er besitzt, als Bürger und somit als Rechtssubjekt anerkannt.

Das Problem der Anerkennung des rechtlichen Status' dieses widersprüchlich verfaßten Rechtssubjektes stellt sich immer dann, wenn der Lohnarbeiter nicht in der Lage ist, seine Ware - das Arbeitsvermögen - auf dem Markt zu verkaufen, weil es keinen Käufer dafür gibt, was in einer prinzipiell krisenhaften kapitalistischen Ökonomie stets der Fall ist. Dies kann daran illustriert werden, daß die bürgerlichen Rechte für diejenigen, die die Einrichtungen und Leistungen des sozialen Sicherungssystems zur Überbrückung der temporären oder dauerhaften Nicht-Verkaufbarkeit der Ware Arbeitskraft in Anspruch nehmen wollen, stets nur eingeschränkt gültig sind. So wird das Recht auf Schutz der Privatsphäre durch die Bedürftigkeitsprüfung und den Zwang zur Offenlegung der persönlichen Verhältnisse in der Sozial- und Arbeitslosenhilfe - und darüber hinaus auch im Rahmen der Interventionen Sozialer Arbeit (vgl. Blanke/Sachße 1987) - verletzt. D.h., bereits im Sozialstaat, wie wir ihn kennen, wird die notwendige Hilfeleistung mit der Unterwerfung unter Kontrollmechanismen erkauft, die die zivilen Persönlichkeitsrechte einschränken.

Auf gesellschaftlicher Ebene wird dies zu einem Problem der Integration, wenn für größere Teile der Mitglieder einer Gesellschaft der Verkauf der einzigen Ware, über die sie verfügen, strukturell dauerhaft unmöglich ist. Die bürgerliche Form der Vergesellschaftung gerät dann in die Gefahr, ihre integrative Kraft einzubüßen, weil real immer mehr Menschen von materieller Teilhabe ausgeschlossen sind.

Mit der Erosion der materialen Grundlage von Teilhabe wird aber auch die rechtliche und politische Gleichheit dieser Besitzer von "wertlosen" Waren prekär - ohne daß sich eine tragfähige Alternative zum bürgerlichen Modus der Vergesellschaftung abzeichnen würde.

Daß - wie es vor allem aus links-alternativer Perspektive oft gesehen wird - vor dem Hintergrund einer solchen Aufweichung des bürgerlichen Vergesellschaftungsmodells, verbunden mit einer Alimentierung über ein Garantiertes Mindesteinkommen, eine neue Form von Gesellschaftlichkeit im Rahmen einer Alternativ- oder Gegengesellschaft erwachsen könnte, ist unter den gegebenen gesellschaftlichen Umständen eher unwahrscheinlich. Vielmehr besteht die Gefahr, daß auf der Basis einer gespaltenen und heterogenisierten Gesellschaft diejenigen, die ihre Arbeitskraft nicht verkaufen können, aus dem bürgerlichen Vergesellschaftungszusammenhang der Warenbesitzer herausfallen können und zu "Bürgern zweiter Klasse" mit geminderten Rechten werden können.

Erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, daß gleiche zivile und politische Rechte, von denen wir als selbstverständlich für alle Gesellschaftsmitglieder ausgehen, selbst ein historisches Produkt sind und erst vor 70 Jahren einer Arbeiterbewegung auf dem Höhepunkt ihrer Machtentfaltung zugestanden wurden.

Warum sollte es nicht möglich sein, diesen Prozeß zu revidieren und denjenigen, die dauerhaft nicht arbeiten können, oder unter unzumutbaren Bedingungen arbeiten wollen, einen geminderten Rechtsstatus zukommen zu lassen? Bereits heute wird ein "schleichender Verlust demokratischer Standards" aufgrund der gesellschaftlichen Spaltung diagnostiziert (Nell-Breuning-Institut (Hg.) 1994, S. 10)

Die weiter vorn dargestellte politische und wissenschaftliche Konstruktion einer "underclass" insbesondere in den Vereinigten Staaten mit, im Hinblick auf die "Erstgesellschaft" unterstellten, fundamental "anderen" Werten und Verhaltensweisen ist ein erster deutlicher Schritt in diese Richtung einer neuen sanfteren Form von Apartheit.

Ein Garantiertes Mindesteinkommen hätte im Rahmen einer solchen, auch für die Bundesrepublik nicht ausschließbaren Entwicklung die Funktion, die Abspaltung der Marginalisierten in eine "Zweitgesellschaft" "sozialverträglich" abzufedern - mit Brot und Spielen - oder mehr zeitgemäß: mit Schnaps und Video.

Ein zentraler Einwand gegen ein Mindesteinkommen betrifft so seine Funktion als Mittel gegen die Symptome gesellschaftlicher Ungleichheit. Es läßt sich dazu benutzen, den Diskurs über die gesellschaftlichen Ursachen, die es notwendig erscheinen lassen, zu dethematisieren und die Frage nach der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums nicht mehr zu stellen.

Wenn die Frage über den politischen Sinn der Einführung eines Mindesteinkommen systematisch mit der von (sozialen) Bürgerechten verknüpft wird, so geschieht dies aus dem Grund, weil die isolierte Forderung nach einem materielle Teilhabe absichernden Transfer zur Verfestigung der gespaltenen Gesellschaft beiträgt.

Angesichts einer sich polarisierenden und in eine "Erst-" und "Zweitgesellschaft" auseinanderlallenden bürgerlichen Gesellschaft wird bei gleichzeitiger Erosion ihrer auf die Zirkulation von Waren gegründeten Vergesellschaftungsform die Frage nach der Vergesellschaftung und Integration durch Recht immer wichtiger.

In den im Vergleich zur Bundesrepublik wesentlich stärker polarisierten Gesellschaften der USA und Großbritanniens wird deshalb seit einiger Zeit - nicht ohne Grund - die Bedeutung individueller und kollektiver Bürgerrechte auf Wohlfahrt in Form von "social citizenship" und "sozial rights" für den Einzelnen wie für den Bestand der Gesellschaft intensiv diskutiert.

Andre Gorz hat in seiner Diskussion des Mindesteinkommens daraufhingewiesen, daß dessen Gewährung kein Ergebnis solidarischer Prozesse, sondern ein "institutionelles Almosen" des Staates sei, (5) das zur "Südafrikanisierung" der Gesellschaft führe und als Lohn für die Ausgrenzung aus der Gesellschaft füngiere: "Sofern es sich nicht ausdrücklich als Übergangsmaßnahme versteht - und dann gilt es genauer zu bestimmen, wohin der Übergang gehen soll -, ist das garantierte Mindesteinkommen eine Idee von rechts" (1994, S. 291).

Im Zentrum einer linken Alternative, die sich weigert, die gesellschaftliche Spaltung in "vollberechtigte Dauerbeschäftigte und Ausgeschlossene" anzuerkennen und "Arbeitslosigkeit und die mit ihr verbundenen Formen sozialer Marginalisierung erträglich zu machen", steht für ihn "nicht die von jeder Arbeit abgekoppelte Einkommensgarantie", sondern "die unauflösliche Verbindung zwischen dem Recht auf Einkommen und dem Recht auf Arbeit" (ebd.), die die Grundlage des individuellen Bürgerrechts darstellt.

Er verweist in diesem Zusammenhang auf den generell emanzipatorischen Gehalt gesellschaftlicher Arbeit aufgrund ihres allgemeinen gesellschaftlichen Nutzens und betont, daß das Recht auf Einkommen nicht vom Recht auf Arbeit im makro-sozialen ökonomischen Bereich abgetrennt werden darf: "Oder, was aus dasselbe hinausläuft: das Recht auf Einkommen muß an eine Pflicht gekoppelt werden, zur Erbringung dieses Einkommens zu arbeiten - und sei es noch so wenig" (ebd., S. 294 f.).

Ihm geht es darum, die "dialektische Einheit von Rechten und Pflichten" deutlich zu machen:

"Es kann kein Recht ohne Gegenleistung geben. Meine Pflicht ist die Grundlage meines Rechts, und mich jeder Pflichten zu entkleiden heißt, mir die Eigenschaft als Person von Rechten zu bestreiten. Recht und Pflicht sind immer die Kehrseite voneinander: Mein Recht ist die Pflicht anderer mir gegenüber; es schließt meine Pflichten anderen gegenüber ein. (...) Über die Pflicht, die sie (die Gesellschaft, A.S.) mir setzt, erkennt sie mich als ihr Mitglied an. Recht auf Arbeit, Pflicht zu arbeiten und Bürgerrecht sind untrennbar miteinander verknüpft" (ebd., S. 295).

Als Konsequenz ergibt sich für Gorz hieraus die Position, daß für linke Politik ein Garantiertes Mindesteinkommen "weder Endziel noch Ausgangspunkt eines politischen Konzepts" sein kann; vielmehr muß das Ziel die Beseitigung der Bedingungen sein, die zum Ausschluß aus der Gesellschaft führen. Seine zentrale Schlußfolgerung: "Dieses Ziel erfordert eine Politik der Umverteilung der ökonomisch notwendigen Arbeit" (ebd., S. 297).

Sicherlich wird diese Koppelung des Rechtes auf Einkommen an die Pflicht zu arbeiten zu Widerspruch und Kritik reizen. Denn tatsächlich werden im Kontext der Debatte um "social citizenship" von der Neuen Rechten in den USA, anders als von der Linken, die die rechtliche Seite betont, die "duties" und "obligations" im Zusammenhang mit wohlfahrtsstaatlichen Leistungen betont und forciert. Der Bezug von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen wird mit dem Zwang zur Arbeit zu Niedrigstlohnbedingungen verbunden. Das soziale Bürgerrecht auf Wohlfahrt wird in dieser Argumentation zur Aushebelung des zivilen Bürgerrechts auf Freiheit von Zwang instrumentalisiert. Aus "welfare" wird "workfare" gemacht. Und auch hierzulande hat die Arbeitspflicht im Rahmen des BSHG keineswegs das Ziel, soziale Rechte zu konstituieren, sondern deren Inanspruchnahme diskriminierend zu gestalten.

Während aber die Politik der amerikanischen Neuen Rechten sich auf die Verbindung von traditioneller Arbeitsethik und den Zwang zur Arbeit zum Zwecke der "Erziehung" derjenigen, die ein Recht in Anspruch nehmen wollen, konzentriert, geht es Gorz in der Herausstellung der Dialektik von Rechten und Pflichten auf der Basis der Gegenseitigkeit und Reziprozität der Gesellschaftsmitglieder um die Perspektive eines neuen Vergesellschaftungsmodus.

Wenn es nun aufgrund der zunehmenden Fragwürdigkeit des klassischen Vergesellschaftungsmusters auf der Basis der Zirkulation von Waren notwendig wird, (soziale) Bürgerrechte auf Teilhabe als Modus gesellschaftlicher Integration argumentativ stark zu machen, so ist an diesen grundlegenden Zusammenhang von gegenseitigen Rechten und Pflichten zu erinnern, der den zivilen, den politischen und den sozialen Bürgerstatus konstituiert. Dies ist insbesondere dann notwendig, wenn statt einer gesellschaftlichen Umverteilung des Arbeitsvolumens wie auch immer vorläufige Formen des Mindesteinkommens etabliert werden sollen. Ohne die dialektische Verschränkung des "Rechtes auf Einkommen" mit der Pflicht zu gesellschaftlich sinnvoller Arbeit bleibt das Garantierte Mindesteinkommen ein Instrument zu Abfederung der Spaltung der Gesellschaft und zur weiteren nicht nur materiellen, sondern auch politischen und rechtlichen Desintegration der Ausgeschlossenen.

Anmerkungen

1. Bezeichnenderweise wird hier auf das Sinnbild des Jahrmarkts zur Illustrierung von Armutsprozessen zurückgegriffen.

2. Wenngleich auch zwischen diesen beiden Nationen durchaus beachtliche Unterschiede in der Tradition und im System gesellschaftlicher Wohlfahrt bestehen.

3. Außer der Bildung von "Proletarischen Zirkeln", die sich durch "Information" und "Erfahrungen" des Klassenkampfs verbreiten sollen, kann Roth keine Bedingung formulieren, die nötig ist, um aus der abstrakten 'Klasse an sich' - den heterogenen und isolierten Gruppierungen von Marginalisierten, die nichts weiter gemeinsam haben, als daß sie aus dem Vergesellschaftungszusammenhang durch Lohnarbeit ausgegrenzt sind - ein handlungsfähiges kollektives Subjekt der Unterdrückten aller Länder ('Klasse für sich') entstehen zu lassen, das sich zum endgültigen show-down mit dem weltumgreifenden "Toyotismus" rüstet.

4. Vgl. hierzu die lesenswerten Aufsätze von Horst Kahrs und te (Thomas Eden) im Rahmen der Serie "Aus Suppenküchen von Parteistrategen und 'Sachverständigen'" in der Zeitschrift 'quer' von September und Oktober 1994.

5. Bereits 1985 hat die Redaktion Widersprüche in einer ersten Bestandsaufnahme der Diskussion über das Garantierte Mindesteinkommen den inhärenten Etatismus der meisten Ansätze kritisiert.

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