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Heft 43: Hochschule heute: Warten auf Frau Humboldt

1992 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 43
  • Juli 1992
  • 100 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-089-5

Zu diesem Heft

Der Frage, was sich aus der "Interdependenz von Gesellschaftsverfassung und Bildungsinstitution" (Heydorn) an Konsequenzen für Verhältnisbestimmungen zwischen Bildungssystem und Gesellschaft, Bildungspolitik und die Reproduktion bzw. Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse sowie für die gesellschaftliche Formbestimmtheit von Bildungsprozessen und deren Realisierung in empirischen Individuen ergibt, haben sich auch Überlegungen zuzuwenden, die Zusammenhänge von Hochschule, Wissenschaft und gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen thematisieren.

Bezogen auf die gegenwärtige Situation kann dabei an ein schneidendes Verdikt von Lorenzer angeschlossen werden, das dieser in seinem Text "Der Zerfall der Universität und die Möglichkeiten kritischer Wissenschaft" formuliert hat: "Je direktiver die von Struktur- und Prüfungsplänen gegängelte 'Wissensvermittlung' wird, desto bedeutsamer wird das freie Angebot für die Weitergabe von Wissenschaft. Je unaufhaltsamer die Universitätslehre zur Ausbildung akademischer Azubis verkommt, desto mehr übernimmt solche Vermittlung jene Leistung, die in den öffentlichen 'Lehranstalten' sich so sehr zersetzt hat, daß nicht einmal mehr der Name dafür ohne ironischen Unterton genannt werden kann: Bildung."

Zu lesen ist dies zum einen vor dem Hintergrund Kritischer Theorie, deren bildungstheoretisch interessierte und engagierte Exponenten Adorno und Heydorn solches etwa in Überschriften und Analysen wie "Theorie der Halbbildung" oder "Überleben durch Bildung" zum Ausdruck brachten, zum anderen vor dem Hintergrund der klassischen deutschen Universitätsidee, wie sie exemplarisch bei W. von Humboldt auffindbar ist. Neben der Vorstellung einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortlichkeit - bei Humboldt durch den Bezug auf die "ganze Nation" zum Ausdruck gebracht - geht es hier um Fragen der Organisation und der Inhalte universitären Lebens und Arbeitens. In einer bis heute herausfordernden Weise formuliert Humboldt Prinzipien, die ihren Kern in einer Ablehnung aller Situationen haben, die "die zur Bildung bestimmte Zeit zur Abrichtung mißbrauchen und Köpfe verderben", und die daraufgerichtet sind, die Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden an der Hochschule in eine Mündigkeit herstellenden Weise zu bestimmen. So gelangt er zu der - nicht nur für Zeitgenossen, sondern auch für heutige Leserinnen - so frappierenden Feststellung, Universität bedeute "die Emanzipation vom eigentlichen Lehren". In ein Hochschulkonzept transformiert meint dies: "Der Universität ist vorbehalten, was nur der Mensch durch und in sich selbst finden kann, die Einsicht in die reine Wissenschaft. Zu diesem SelbstActus im eigentlichen Verstand ist notwendig Freiheit und hilfreich Einsamkeit, und aus diesen beiden Punkten fließt zugleich die ganze äußere Organisation der Universitäten. Das Kollegienhören ist Nebensache, das wesentliche, daß man in enger Gemeinschaft mit Gleichgesinnten und Gleichaltrigen und dem Bewußtsein, daß es am gleichen Ort eine Zahl schon vollendet Gebildeter gebe, die sich nur der Erhöhung und Verbreitung der Wissenschaft widmen, eine Reihe von Jahren sich und der Wissenschaft lebe." Dies ist zugleich die Grundlegung seiner Aufgabenzuschreibung: "Darum ist zugleich der Universitätslehrer nicht mehr Lehrer, der Studierende nicht mehr Lernender, sondern dieser forscht selbst, und der Professor leitet seine Forschung und unterstützt ihn darin" (Humboldt).

Auch wenn wir heute um die gesellschaftlich-historische Einbettung dieser Ideen von Humboldt und weiteren frühbürgerlichen Theoretikern (und Praktikern) wissen, so bleibt doch die mit dieser Position verbundene Herausforderung auf der Tagesordnung: für Selbstverständnis wie Organisation. Dies gilt insbesondere in der Folge wissenschaftsinterner wie -externer Entwicklungen, auf die Habermas in seinem Text: "Vom sozialen Wandel akademischer Bildung" aufmerksam gemacht hat.: "Die philosophische Überzeugung des Deutschen Idealismus, daß Wissenschaft bilde, trifft auf die empirisch-analytischen Verfahrensweisen nicht mehr zu. Einst konnte Theorie durch Bildung zur praktischen Gewalt werden: heute haben wir es mit Theorien zu tun, die sich unpraktisch, nämlich ohne auf das Handeln zusammenlebender Menschen untereinander ausdrücklich bezogen zu sein, zur technischen Gewalt entfalten können. Gewiß vermitteln die Wissenschaften jetzt ein spezifisches Können, aber das Verfügenkönnen, das sie lehren, ist nicht dasselbe Leben- und Handelnkönnen, das man vom wissenschaftlich Gebildeten damals erwartete".

In dieser Analyse eingeschlossen ist zweierlei: zum einen ein grundsätzlicher Wandel im Bildungsverständnis, der dazu führt, daß aus Bildung als einem wissenschaftlich erschlossenen Verständnis der Welt im Ganzen, die in das Handeln der Menschen umschlagen sollte, so etwas wie anständiges Verhalten, ein andressiertes Persönlichkeitsmerkmal wird. "Aus Bildung wird das objektive Moment der wissenschaftlichen Erkenntnis zugunsten des bloß subjektiven einer wohlerzogenen Haltung getilgt" (Habermas). Zum anderen führt dies zu der Aufgabe für Wissenschaft, die aus der Differenz von Orientierungswissen und Verfügungswissen resultiert, "die wissenschaftlich vergegenständlichten, d.h. in der Art von Dingen verfügbar gemachten Beziehungen in das Netz der gelebten Bezüge zurückzuübersetzen" (Habermas) - und das meint eben mehr als ,Technikfolgeabschätzung'.

Zudem wissen wir heute mehr über die "gesellschaftliche Instrumentalisierung öffentlicher Bildung" (Friedeberg) und deren Widerspruch, über Demokratisierungspotentiale und deren umkämpfte 'Grenzen' in universitären Kontexten - auch oder besser: besonders in der Folge interner wie externer Interessen.

Mit diesem Heft nehmen wir die öffentliche Auseinandersetzung um die skizzierten Fragen wieder auf, die lange, allzu lange ein Schattendasein in Nischen - wenn es hochkam - der Hochschulöffentlichkeit fristete.

Wir beginnen die Artikelreihe mit dem exemplarischen 'Fall' einer westdeutschen Hochschule. Die Universität Bremen fokussierte einst die Hoffnungen Vieler auf einen neuen Start. Zwanzig Jahre nach ihrer Gründung, so schätzt Gert Klatt ein, ist aus einer Stätte kritischer Bewußtseinsbildung ein Hoffnungsträger für die Wirtschaftsregion geworden.

Eva-Maria Willkomm berichtet über selbsterlebte unterschwellig wirksame Mechanismen im Studien- und Prüfungsalltag an der Hochschule, die menschenzerstörende Auswirkungen haben können.

"Die Überlagerung der Machtverhältnisse und der Wissensbeziehung erreicht in der Prüfung ihren sichtbarsten Ausdruck" (M. Foucault); unter diesem Motto stellt Margret Bülow-Schramm Prüfungen auf den Prüfstand.

Wolfgang Braun und Mitarbeiterlnnen dokumentieren eine ungewöhnliche Aktion zur Einführung in das Studium der Sozialarbeit/Diakonie, mit der sie das Grundverhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden neu thematisieren und gestalten.

Mit Hilfe einer Befragung untersucht Gesine Küsert die Situation studierender Frauen an der Universität Tübingen. Sie geht der Frage nach, welche institutionellen und emotionalen Hemmnisse Frauen den Einstieg in akademische Laufbahnen erschweren.

Margret Bülow-Schramm und Dietlinde Gipser haben versucht, den hochschulpolitischen Diskurs innerhalb des Kolleginnenkreises zu reaktivieren und fragen, welche Möglichkeiten es für Hochschullehrer und insbesondere für Hochschullehrerinnen gebe, den Hochschulalltag so zu verändern, daß die Problemlagen der Studentinnen bessere Berücksichtigung finden, ohne jedoch Forschungs- und Wissenschaftsinteressen vorfindlichen Berufsfeldanforderungen opfern zu müssen. Mit der Kategorie "brüchiger Habitus" (Bourdieu) analysieren sie die aktuelle Lage von Hochschullehrerinnen auf der empirischen Basis von biografischen Interviews.

Die 'großen' Themen der Hochschulpolitik benennt und untersucht Maria-Eleonora Karsten im Vergleich der strukturellen Entwicklungsnotwendigkeiten von Hochschulen in Ost- und Westdeutschland. Die strukturellen Probleme wie Stärkung der Autonomie, Reorganisation der Lehre, Verhältnisbestimmung zwischen Fachhochschulen und Universitäten, Förderung von Frauen und des wissenschaftlichen Nachwuchses konkretisieren sich in den 'kleinen' Thesen wie beispielsweise Studienordnungen, Berufsqualifikation und Förderpraxis.

Die Absenz der Universität in Diskussionen zu zentralen Fragen der Zeit hat Michael Daxner u.a. dazu veranlaßt, in dem wegweisenden Gutachten "Entstaatlichung und Veröffentlichung: die Hochschule als republikanischer Ort" Perspektiven und praktisch umsetzbare Pläne zur Neugestaltung der Hochschulen aufzuzeigen. Im vorliegenden Artikel zeichnet er die wichtigsten Linien nach, die Hochschule wieder zu einem Ort der ,res publica', zur intellektuellen Teilrepublik machen können. "Wenn Wissenschaft ihren Ort in der Hochschule hat, ... wenn die Wissenschaft so öffentlich wird, daß auch für die meisten unverständliche Bereiche als solche erkennbar werden, - warum soll dann eine Selbsterneuerung nicht gegen den Widerstand der jetztigen Bewahrer und Nutznießer möglich sein, ohne im Mindesten an Kompetenz, Standard oder Erfolg" (Daxner) einzubüßen.

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