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Heft 36: Mehr Demokratie durch Recht?

1990 | Inhalt | Editorial | Leseproben: 1 & 2

Titelseite Heft 36
  • Oktober 1990
  • 100 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-054-2

Timm Kunstreich

Interview mit Karl-Heinz Schöneburg
"Die Verfassungsfrage verankern in den Widersprüchen der Gesellschaft selbst" - Was bleibt von der Verfassungsfrage in der DDR

T.K.: Was mich interessieren würde, weil ich das in der Bundesrepublik kaum richtig verfolgen konnte, ist, wie die Verfassungsdiskussion am Runden Tisch eigentlich verlaufen ist, da waren Sie als Experte ja dabei? Könnten Sie diesen Diskussionsprozeß noch einmal darstellen?

Schöneburg: Ich hole vielleicht ein bißchen weiter aus. Weil es für das Verständnis dessen, was sich in diesem Lande ab Herbst 1989 hinsichtlich öffentlichen Denkens und Nachdenkens und Demonstrierens über Verfassungsfragen ereignet hat, wichtig ist. Wir hatten eine Verfassung, Rudimente davon sind heute noch in Kraft, die 1968 Walter Ulbricht ausgearbeitet hat, die 1974 unter Honecker nochmal zusätzlich verändert wurde, die aber im gesellschaftlichen Leben dieser Republik kaum eine Rolle spielte. Ich hatte persönlich immer ein enges Verhältnis zu dieser Verfassung, weil ich 1968 im Prozeß ihrer Ausarbeitung recht unterschiedliche Reaktionen über mich ergehen lassen mußte. Zum Beispiel habe ich einen Artikel geschrieben und darin begründet, daß in dieser Verfassung auf gar keinen Fall die "Diktatur" des Proletariats als verfassungsrechtliche Regelung aufgenommen werde dürfe und auch nicht die Führungsrolle der marxistischen Partei. Es gab daraufhin ein Disziplinarverfahren und den Versuch, mich innerhalb der SED mit einem Parteiverfahren zum Schweigen zu bringen. Ich habe dann nach 1968 das gesellschaftliche Wirken dieser Verfassung verfolgt. Da ich seit vielen Jahren auf dem Gebiet der Verfassungstheorie und der Verfassungsgeschichte arbeitete, habe ich gemerkt, wie gesellschaftliche und politische Grundentscheidungen in dieser Verfassung, so schlecht sie auch waren, im gesellschaftlichen Leben keine Rolle spielten. Die Verfassung war nur ein Legitimationspapier für eine sich unabhängig von ihr vollziehende politische Entscheidungstätigkeit. Diese Erkenntnis habe ich auch öffentlich gemacht. Dafür nur ein Beispiel:

Am 15. September '89 fand hier in Babelsberg die zentrale Konferenz der Rechtswisschenschaftler der DDR anläßlich des 40. Jahrestages der DDR statt. Thema: Die Verfassung. Ich leitete einen der Arbeitskreise dort und sprach im Plenum. Es gab viel Aufruhr und Wirbel, als ich im Plenum sagte, daß diese Verfassung von 1968 und 1974 den Stempel des Zeitgeistes ihrer Entstehung trägt, daß sie also die stalinistische Denkweise enthalten hat. Ich habe das auch begründet und darauf hingewiesen, daß zum Beispiel in dieser Verfassung das Wort "Volkssouveränität" nur einmal vorkommt und zwar im Artikel 47 Absatz 2. In den Eingangsregelungen der Verfassung spielt die Volkssouveränität überhaupt keine Rolle. Und im Artikel 47 heißt es, daß der Aufbau der staatlichen Organisation nach den Prinzipien der Volkssouveränität erfolgen solle, zugleich aber auf der Grundlage des demokratischen Zentralismus. Die Grundlage der Staatsorganisation ist nicht die Volkssouveränität, sondern der demokratische Zentralismus, und der ist in diesem Lande immer bürokatischer Zentralismus gewesen. Ich habe mich auch dagegen ausgesprochen, daß die Regelungen der Verfassung keine wirkliche Rechtsverbindlichkeit haben. Es war also ein Zustand in der DDR, daß man zum Beispiel Grundrechte, die in der Verfassung standen, nicht gerichtlich einklagen konnte. Oder - und das war nun meine Formulierung auf dieser Konferenz - man kann auch sagen, daß der Verfassungsbruch das häufigste Kavaliersdelikt in der DDR war. Und zwar der Verfassungsbruch durch Partei- und Staatsfunktionäre. Zwei Drittel der Juristen im Saal stimmten meinen Aussagen zu, nur für die Mitglieder des SED-Politbüros, des Ministerrates, war das natürlich entsetzlich.

Das war in etwa meine Position vor den Oktoberereignissen. Als im Oktober dieses verkrustete politische System mit seiner Führung in die Schußlinie der öffentlichen Demonstrationen geriet, schrieb ich einen Artikel im Neuen Deutschland: Die DDR braucht eine neue Verfassung. Und zwar mit der Begründung, daß die alte Verfassung von 1968 erstens stalinistisch in den Denkweisen durchsetzt ist, zweitens nicht juristisch einklagbar ist, und drittens, die vor allen Dingen wichtigen Fragen der Volkssouveränität, der Mitgestaltung des Staates durch das Volk, durch die Bürgerbewegungen, völlig fehlten. Diese Position wurde zunächst nicht geteilt, weder von der SED noch von den sogenannten Blockparteien. Die wollten nur die bestehende Verfassung in einzelnen Artikeln verändern. Demgegenüber mußte m.E. auf einer gänzlich neuen Verfassung bestanden werden, die von neuen Inhalten getragen ist, die auch sensibel unsere eigene Geschichte aufarbeitet, sowohl ihre positiven Anfänge und Utopien als auch ihre negativen Repressionen.

Als der Runde Tisch beschloß, eine Kommission einzusetzen, die eine neue Verfassung für die DDR erarbeitet, kamen Leute von den linken Bürgerbewegungen zu mir und fragten, ob ich nicht meine Überlegungen, wie eine solche Verfassung aussehen sollte, als Experte einbringen wolle. Das habe ich natürlich getan, so daß die Verfassungsdiskussion am Runden Tisch mit einer Vorlage von mir begann. Meine Vorschläge sind heute nicht mehr alle in dem jetzt verabschiedeten Verfassungsentwurf enthalten. Das sage ich nicht mit Ärger, sondern einfach in Anerkennung der Tatsache, daß eine Verfassung immer einen Konsens und damit auch Kompromisse enthalten muß. So daß manches, was ich mir anders vorgestellt habe, in diesem Verfassungsentwurf nicht mehr aufgegriffen wurde. Das gilt auch für wichtige Fragen. So wurde das Menschenrecht auf Widerstand gegen verfassungswidrige staatliche Machtausübung leider nicht aufgenommen. Das gibt es im Bonner Grundgesetz nicht.

T.K.: Aber Artikel 20 legitimiert doch den Widerstand?

Schöneburg: Das wird von fortschrittlichen Kräften hineininterpretiert. Das Bundesverfassungsgericht ist da seit 1956 ganz anderer Meinung. Ganz zu schweigen vom Verfassungsschutz und der Polizei. Jedenfalls hat die Volksbewegung in der DDR in Wahrnehmung ihres Menschenrechts auf Widerstand die bis dahin herrschenden Strukturen in der DDR überwunden. Es wäre deshalb mehr als gerechtfertigt, das Recht auf Widerstand in eine neue deutsche Verfassung aufzunehmen. Übrigens, und das ist hochinteressant, die ganze Demonstration am 4.11.1989 stand ja unter einem verfassungsrechtlichen Aspekt. Man hat ja demonstriert für Pressefreiheit, für Meinungsfreiheit, das heißt für die Durchsetzung und Erweiterung der in der noch existierenden DDR-Verfassung geregelten Grundrechte auf diesem Gebiet. 1949, in der ersten DDR-Verfassung gab es natürlich auch die Presse- und Meinungsfreiheit, zusätzlich hieß es dort, daß jede Zensur verboten ist. Es ist bezeichnend, daß die Verfassung von 1968 nur noch allgemein die Pressefreiheit als Grundrecht nennt, das Verbot der Zensur aber ausläßt.

Wir hatten in der DDR vor dem November 1989 keine offizielle Zensur, aber jeder wußte, es gab eine politisch-ideologische Zensur: von oben nach unten mit dem Politbüro, Honnecker und Hager an der Spitze. Und das funktionierte phantastisch. Also von dort wurde eine bestimmte Linie durchgestellt. Es wurde nicht alles zensiert im einzelnen, sondern es gab die Selbstzensur in jedem einzelnen, der schrieb. Denn jeder von uns, der schrieb, stellte sich die Frage: Wie weit kann ich gehen? Welche Begriffe benutze ich? Sich selbst gegenüber zu lügen, das war das Schlimmste.

T.K.: Sie erwähnten zuvor, daß manches auf dem Wege der Konsensbildung am Runden Tisch der Verfassungskommission auf der Strecke geblieben ist. Können Sie das noch etwas näher ausführen?

Schöneburg: Zum Beispiel ist in dem Menschenrechtsteil des Verfassungsentwurfes ein klares Bekenntnis zur Basisdemokratie abgelegt, das heißt, daß Bürgerkommitees, Bewegungen, Gruppierungen von unten, Interessengemeinschaften ein Recht haben, sich in die staatliche Willensbildung und auch in die Kontrolle staatlicher Tätigkeit einzubringen. Und das geht bis zum Volksentscheid, bis zur Volksgesetzgebung hin. Das hat das Grundgesetz nicht. Aber es gibt in dem Verfassungsentwurf auch einen Bruch. Es gibt den Teil, der sich mit der Staatsorganisation befaßt, also mit dem Parlament, mit der Verwaltung, mit der Rechtspflege, der Justiz und dort spielt die Basisdemokratie eben keine Rolle mehr. Ich hätte die Basisdemokratie, wenn man so will, die Volkssouveränität von unten, sowohl bei den Menschenrechten verankert als auch umgesetzt in den einzelnen, staatsorganisatorischen Lösungen. Vor allem die SPD war es, die am Runden Tisch dafür wenig übrig hatte. Sie wollte eine größere Akzeptanz des Bonner Grundgesetzes erreichen und da genügte es ihnen, daß bei den Menschenrechten basisdemokratische Aspekte aufgenommen wurden. Aber nicht in der Staatsorganisation. Das wäre doch die große Marxsche Losung von 1971 gewesen: Die Rücknahme des Staates in die Gesellschaft. Also Volkssouveränität nicht nur zu begreifen als repräsentative Demokratie - das stand nie zur Debatte - sondern auch als Basisdemokratie. Beides zusammen brauchen wir, sowohl die repräsentativen Organe als auch diese Kontrolle von unten, die sich im Volk ständig neu bildet und die man nicht gängeln darf. Auf jeden Fall aber bedarf es der verfassungsrechtlichen Vorsorge, so daß niemals die Leute, die das staatliche Mandat haben, sich gegen die wenden können, die ihnen das Mandat gegeben haben. Diesen Widerspruch zwischen repräsentativer und direkter Demokratie hätte ich gern verfassungsrechtlich ausgestaltet, damit er als Triebkraft gesellschaftlicher Entwicklung wirken kann.

T.K.: Zunächst noch einmal zur Situation in der DDR vor dem Beitritt: Wie stellte sie sich dar, nachdem klar war, daß der Verfassungsentwurf des Runden Tisches nicht im Parlament diskutiert wurde?

Schöneburg: Wir hatten diesen Entwurf gemacht - und das ist auch für die deutsche Verfassungsgeschichte das eigentlich Großartige: nämlich das, was sich bei uns im Oktober/November 1989 von unten an Umbrüchen vollzogen hat, in eine verfassungsrechtliche Form umzusetzen. Also eigentlich war unser Problem: Wie können wir die Demokratie von unten gestalten, die dieses verkrustete System gestürzt hat? Dieser Sturz geschah ja durchaus nicht voraussetzungslos. Diese Bürgerbewegungen hatten ja gesellschaftliche Utopien mit denen sie angetreten waren. Im Gegensatz zu den Leuten, die heute in der Volkskammer die Mehrheit haben. Zum Beispiel die DSU, die gab es ja vorher nicht, bzw. sie war als CDU verkoppelt mit dem bestehenden Regime. Solche Leute wie Ebeling haben im Herbst 89 zu Hause gesessen, ängstlich und verzagt, weil sie eben obrigkeitsstaatlich geprägt waren und sind. Und sie Leute wollen deshalb auch heute mit dieser Bewegung nichts mehr zu tun haben. Deshalb ist das Schicksal dieses Verfassungsentwurfes durch die Wahlentscheidung vom 18. März vorprogrammiert gewesen.

Daß die Mehrheit der DDR-Bevölkerung die D-Mark gewählt hat, ist im Grunde die Schuld von uns, die wir einen sogenannten "real existierenden Sozialismus" aufgebaut haben, der das Denken, das selbständige politische Denken der Leute verkümmern ließ. Die Mauer hat nicht nur die Leute abgeschlossen, sie hat auch das Denken vermauert und die Quittung hat die DDR nun bekommen. Insofern laste ich das nicht Helmut Kohl an, sondern das laste ich uns selbst an. Wir sind die Hauptverursacher dieser Entwicklung in den letzten 40 Jahren, da gibt's gar keine Frage. Ich kann es Kohl doch nicht übelnehmen, daß er sich in dieser Situation als konservativer Politiker in Szene setzte. (...)

So, und nun ist die am 18. März gewählte Volkskammer zusammengetreten, und sie hat es einfach mit einem Federstrich, mit einer konservativen Mehrheit abgelehnt, diesen Entwurf überhaupt zu diskutieren, geschweige denn, einer Volksdiskussion zuzuführen. Das Interessante waren die Begründungen, die die Leute dazu abgegeben haben. Zum Beispiel eine CDU-Abgeordnete, eine Rechtsanwältin aus Jena, die sagte: "Wir brauchen überhaupt keine Verfassung, denn wir kriegen ja das Bonner Grundgesetz." Das heißt, die gar nicht gemerkt haben, wie sie die Linie der Mißachtung der Verfassung, die seit 40 Jahren hier gang und gäbe war, in einer anderen Weise wieder fortgesetzt haben - wenn man so will - Kontinuität von obrigkeitsstaatlichem Denken. Zwar ist dieser Versuch des Runden Tisches erst einmal erledigt, aber ich persönlich bin der Meinung, daß dieser Verfassungsentwurf damit nicht nur eine Fußnote der Deutschen Geschichte geworden ist:

Erstens ist es so, daß nicht nur in Kraft gesetzte Verfassungen in der Weltgeschichte eine Fortschrittswirkung gehabt haben, sondern auch andere. So zum Beispiel die 93er Jakobiner-Verfassung von 1793 oder die Paulskirchen-Verfassung von 1849. Beide haben - die eine für die deutsche, die andere für die internationale Entwicklung - eine ungeheuere Rolle bis heute gespielt, um das Denken von Fortschrittskräften über Verfassungen und über Verfassungsgeschichte zu befruchten.

Zweitens gibt es nicht wenige, sowohl in der BRD wie in der DDR, die durchaus von diesem Verfassungsentwurf einiges halten. Drittens setze ich auf folgendes: Es traten im Kuratorium für eine deutsche Verfassung Leute von uns auf, von Demokratie Jetzt, vom Neuen Forum, die meinten, daß die Zeit für Verfassungsfragen eigentlich vorbei ist, weil man in der DDR nur noch darauf aus ist, die DM zu bekommen. Man kümmere sich nur um die unmittelbaren Alltagsprobleme, um die Versorgung, um die Arbeitsplätze. Ich bin nicht dieser Meinung. Ich sehe auch nach dem 1. Juli eine große Chance für eine Verfassungsdiskussion. Wenn zum Beispiel Frauen hier und drüben gegen den § 218 demonstrieren, also für ein Selbstbestimmungsrecht der Frauen kämpfen, so ist dies keine isolierte Einzelfrage, sondern eine Verfassungsfrage.

Oder wenn es darum geht, das Problem des Umweltschutzes in die Verfassung aufzunehmen. Denn Ökologie wird jetzt zu einer die Menschen unmittelbar betreffenden Frage. Ähnlich wird es mit Fragen des Rechts auf Arbeit, des Rechtes auf Bildung, des Rechtes auf Wohnung sein; das sind alles Verfassungsfragen.

Oder, was die Bildung betrifft: Es gehörte - und dieses Wort mag ich kaum mehr aussprechen - zu unseren Errungenschaften, es gehörte also zu dem Positiven in der DDR-Geschichte, daß wir 1945 und nicht erst 1949 sofort Schluß gemacht haben mit dem ökonomischen Bildungsprivileg, das heißt, es konnte jeder studieren und jeder jede Form des Bildungswesens durchlaufen, unabhängig vom Geldbeutel der Eltern. Ob das in jeder Hinsicht zulänglich war, das laß' ich jetzt weg, aber dieses Problem wurde in dieser Gesellschaft gelöst. Es wurden andere Probleme dafür nicht gelöst. So trat an die Stelle des ökonomischen Bildungsprivilegs ein ideologisches Bildungsprivileg, was ich genauso ablehne. Deshalb plädiere ich für das Recht des Menschen auf Bildung, das jede Art von Bildungsprivileg ausschließt - das politische, das ökonomische und das ideologische. Die Beseitigung jedes Privilegs ist ein unmittelbares Interesse, ist aber zugleich auch eine Verfassungsfrage. Heute will man hier wieder die Eltern zur Finanzierung des Studiums heranziehen.

Andere Beispiele sind die Rechte der Alten, die Rechte der Behinderten. Auch das sind Verfassungsfragen. Und in diesen Zusammenhängen werden die Argumentationen des Verfassungsentwurfes des Runden Tisches eine große Rolle spielen.

Oder nehmen sie überhaupt die Frage der Menschenrechte. Das Bonner Grundgesetz bezieht diese Rechte auf den "Deutschen". Wir beziehen sie auf den "Menschen", das heißt jedem, ob Deutsche/r oder Nichtdeutsche/r, der/die in diesem Lande lebt, arbeitet oder auch nur Urlaub macht, stehen diese Menschenrechte zur Verfügung. Das ist für mich ein ganz wichtiger Punkt gegen den Nationalismus. Man kann nicht einfach sagen: Das Bonner Grundgesetz ist das Nonplusultra deutschen Verfassungsrechts. Es ist zum Beispiel nie durch's Volk angenommen worden. Das unterscheidet sogar das Bonner Grundgesetz von der DDR-Verfassung von 1949, die ja wenige Monate nach dem Bonner Grundgesetz als Ergebnis einer Volksdiskussion in Kraft trat.

Man muß sich natürlich auch klarmachen, daß man von einer Verfassung keine Wunder erwarten darf. Mein Freund und Lehrer, Wolf Abendroth, hat das immer wieder gesagt. Aber er hat auch immer hinzugefügt, daß die Verfassung und ihre rechtlichen Regelungen für Unterprevilegierte, für Arbeitnehmer, für Fortschrittskräfte eben ein ungeheurer zusätzlicher Machtfaktor sei, und so dazu beitragen könne, daß die Gesellschaft menschlicher wird.

T.K.: Dieses Verfassungsverständnis scheint mir viel breiter angelegt zu sein als das des Grundgesetzes, das zumindest in der Wahrnehmung der Bevölkerung in der Bundesrepublik kaum eine Rolle spielt. Verfassung ist gleich Staat = Organisation des Staates = Macht. Erst in letzter Zeit sind Diskussionen aufgekommen, die so etwas thematisieren wie die "Rücknahme des Staates in die Gesellschaft", z.B. unter dem Begriff "Zivile Gesellschaft". Hier sehen viele eine Möglichkeit, die Identifikation von Staat und Demokratie zu durchbrechen. Wobei "zivil" ganz wörtlich gemeint ist, nämlich als Abrüstung des staatlichen Gewaltmonopols.

Schöneburg: Ich bin fest davon überzeugt, daß wir - und wenn ich "wir" sage, meine ich alle am Fortschritt interessierten Menschen (ich sage bewußt nicht "Sozialisten", ich sage "Menschen") - die Probleme einer zivilen Gesellschaft, die immer globaler und immer komplexer werden, nicht mehr rein klassenmäßig zuordnen können. Das darf man auch nicht, weil man sich sonst zu arm macht. Deshalb benutze ich auch nicht gerne das Wort "links", weil die Begriffe "links" und "rechts" mit einer bestimmten Vergangenheit behaftet sind.

Auch dazu ein Beispiel: Bei den ersten Diskussionen am Runden Tisch, als ich mein Positionspapier vorlegte, da ging es um die Frage: Darf in dieser Verfassung der Begriff "Sozialismus" als Ziel oder Inhalt auftauchen? Daraufhin hob ein großer Streit an. Ich habe darum gebeten, daß jeder von uns dieses Wort einmal beiseite läßt und jeder definiert, was für ihn eigentlich der zentrale Ansatzpunkt für die Gestaltung einer Verfassung ist, die rechtsstaatlich ist und die eine menschliche, zivile Gesellschaft gestalten will. Ich sagte dann, man könne das Fazit vielleicht damit umschreiben, was Karl Marx 1848 im Manifest geschrieben hat, daß eine neue menschliche Gesellschaft dadurch charakterisiert ist, daß die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die Freiheit aller sein muß, und daß die Gesellschaft, ob politisch, ökonomisch, kulturell, ständig als Gemeinwesen Bedingungen schaffen muß, damit diese Freiheit des Einzelnen als die Bedingung zur Freiheit aller individuell und gesellschaftlich erfüllt werden kann.

Darauf haben wir uns verständigt, daß dies der Zielpunkt unserer Verfassung sein müsse. Was können wir heute und jetzt tun auf dem Wege dorthin? Von da an waren die Worte "Sozialismus" oder "Kapitalismus" überflüssig, und man diskutierte darüber, wie eine solche menschenwürdige Gesellschaft verfassungsrechtlich gestaltet werden muß. Der Runde Tisch, diese Verfassungsdiskussion war ein gelungener Versuch, einen Gesellschaftsvertrag, wie ihn sich etwa Rousseau vorgestellt hat, zwischen ganz unterschiedlichen Menschen, zwischen ganz unterschiedlichen politischen Gruppierungen zu schließen. Es war dies ein Beispiel dafür, politisch-rechtliche Strategiebildung nicht mehr obrigkeitsstaatlich vorzunehmen und das Gewaltmonopol, das Machtmonopol beim Volk zu sehen. Das Volk ist keine abstrakte Größe, sondern im Zentrum des Volkes steht das sich befreiende Individuum, das allerdings nur mit anderen in Solidarität diese Befreiung bewerkstelligen kann. Das ist auch gegen den Volksbegriff gerichtet, den wir im Marxismus/Leninismus immer vertreten haben, wo wir das Volk mit den Klassen identifizierten, die am gesellschaftlichen Fortschritt interessiert und befähigt sind, ihn durchzusetzen.

T.K.: Aber wie paßt diese Vorstellung zusammen mit dem real existierenden mächtigen Monosubjekt eines Staates und seiner Verdoppelung im real existierenden Kapitalismus - wenn man z.B. an Konzentrations- und Monopolisierungsprozesse denkt? Diese lassen sich verfassungsrechtlich doch nur dann regeln, wenn sich auch die Ökonomie demokratisieren läßt?

Schöneburg: Darauf kann ich auch keine schlüssige Antwort geben. Wenn man solch eine menschliche Gesellschaft will, kommt man nicht daran vorbei, daß dann das Recht auf Eigentum eine wichtige Rolle spielt. Interessanterweise spricht ja heute niemand mehr vom Sozialisierungsparagraphen des Bonner Grundgesetzes, sondern nur noch von der Sozialbindung des Eigentums.

Es muß zunächst einmal nach meiner Vorstellung eine Vielfalt von Eigentum geben in der jetzigen Zeit, und man muß diese Vielfalt wirklich anerkennen. Vielfalt und damit auch Widersprüchlichkeit in den Eigentumsverhältnissen ist m.E. eine Bedingung für eine menschliche Gesellschaft. Allerdings gehört zu dieser Vielfalt, daß bestimmte Objekte nicht dem Zugriff privatkapitalistischer Eigentumsform überlassen werden. Das fängt beim Festlandsockel an und geht bis zu Fragen des Grundeigentums der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. So etwas, meine ich, müßte in eine Verfassung, die diese Vielfalt und ihre Widersprüchlichkeit anerkennt, festgeschrieben werden. Insgesamt müssen soziale und ökologische Rahmenbedingungen durch die Parlamente und durch die unterschiedlichen Beteiligungsmöglichkeiten der Bürgerbewegungen geschaffen werden, die diese Vielfalt sichern.

Das Schlimme an dem "alten" Sozialismus in der DDR, der ja kein wirklicher Sozialismus war, das Schlimme war, daß die Kategorie "Widerspruch" auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens für hochverräterisch angesehen wurde. In der Eigentumsfrage herrschte ausschließlich das Primat des Volkseigentums. Wenn man wirklich marxistisch gehandelt hätte, wäre der Widerspruch zwischen den verschiedenen Eigentumsformen so gestaltet worden, daß er sich zugunsten des Volkes, der Gesellschaft auswirken könnte. Das wurde aber nie begriffen, daß Widerspruch auch in die Verfassung hineingehört. Die Verfassung muß den Widerspruch bewußt gestalten - zum Beispiel zwischen Parlament und unmittelbaren Aktivitäten des Volkes, zwischen Parlament und Verwaltung, zwischen Verwaltung und Volk, zwischen Verwaltung und Justiz, zwischen Presse und Staat etc. Ich muß also den Widerspruch in der Verfassung so regeln, daß er für den gesellschaftlichen Fortschritt produktiv wird. In der alten SED-Führung hat zum Beispiel auch Hager, der Philosophieprofessor war, die Kategorie Widerspruch nie begriffen. Wenn man bei ihm den Begriff Widerspruch in den Mund nahm, unterstellte er entweder Mängel oder daß man Protest anmelden melden.

Deshalb war der Konflikt bei uns ja auch so negativ angesehen. Dabei ist der Konflikt eine große Produktivkraft. Diesen Gedanken aber in die Köpfe von Juristen reinzubringen, ist besonders schwer und bei Verfassungsrechtlern noch schwieriger.

T.K.: Nun ist die Entwicklung in den beiden Deutschlands ja eingebettet in eine Wende in der Weltpolitik. Selbst wenn man davon ausgeht, daß die DDR so etwas wie der Süden Italiens oder Wales oder Schottland wird, würde es den Menschen in der DDR immer noch besser gehen als denen in den anderen Staaten Osteuropas. Besonders wichtig scheint mir die Rolle der Sowjetunion zu sein, die nach dem Bonmot aus dem Westen auf "die Stufe eines Entwicklungslandes mit Atomwaffen" herabzusinken droht. Das ergibt natürlich auch Veränderungen in der gesamten Weltkonstellation. Wird es in dieser "neuen großen ganzen Welt" nicht ganz andere Machtfaktoren geben - etwa von transnationaler Kapitalbildung, von - zum Beispiel - zwei, drei Automobilkonzernen, die den Weltmarkt unter sich aufteilen, mit all den sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Folgen? Und wäre es nicht in einer derartigen Entwicklung möglich, daß ein wieder erstarktes Deutschland in Europa dominiert und in voraussehbaren Krisensituationen wieder zu autoritären Lösungen vielleicht sogar militärischen greifen wird?

Schöneburg: Ich halte eine derartige Vision nicht für abwegig, glaube aber doch, daß darin etwas Wesentliches vergessen wird. Das ist die Entwicklung von Widerspruchsverhältnissen, die nun einmal vorhanden sind. Das, was sich in der DDR, in der CSR, in Ungarn, in Polen und in der UdSSR, ja selbst in Bulgarien und mit einigen Abstrichen auch in Rumänien jetzt vollzogen hat, das ist von einer Seite aus nicht zu unterschätzen, nämlich, daß die Menschen sich ihrer Kraft bewußt geworden sind. Sie haben ganz harte und verfestigte Machtstrukturen - von der Staatssicherheit bis zur Armee und zur Polizei - in die Knie gezwungen. Es soll keiner glauben, daß diese Erinnerung nichts wert ist. Im Augenblick scheint dieses Bewußtsein in der Tat verschüttet zu sein, wenn sich die Leute hier in der DDR anstellen, damit sie ihre paar Mark auf das richtige Konto buchen. Das verstehe ich, aber man sollte das andere nicht unterschätzen. Ich glaube, da ist sich Herr Kohl über die Einverleibung der DDR und deren Konsequenzen nicht im Klaren, was er mit uns an selbstbewußten Bürgern bekommt. Man kann eben nicht mehr wie früher mit den alten, obrigkeitsstaatlichen Machtmitteln die Sache in die Hand nehmen. Das funktioniert nicht mehr, davon bin ich fest überzeugt.

Ich bin sicher, daß diese vorhandenen Widersprüche etwas gesellschaftlich Neues hervorbringen werden, ob das nun demokratischer Sozialismus oder zivile Gesellschaft heißen wird, ist dabei zweitrangig.

Dieses Interview wurde am 20. Juni 1990 in Potsdam, DDR, geführt.

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