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Heft 33: Moralisierungsdiskurs

1989 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 33
  • Dezember 1989
  • 100 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-051-8

Zu diesem Heft

Moralisierung, Moral, Moralisierung des Politischen - im Augenblick scheint das Thema überholt vom Einbruch der deutschen Ereignisse in die Diskurslandschaft: Weggeschwemmt von den Flüchtlingsströmen letzten Sommers und von der deutschen Welle des Herbstes. Der Nationalismusdiskurs hat sich breitgemacht, wo die Moralisierung sich bemühte. Keine Moralisierung scheint mehr nötig, wo die "Massenflucht" unsere Freiheit so großartig bestätigt und das Zusammenrücken hier so natürlich und unvermeidlich ist. Eine nationale Anstrengung, die wir alle schaffen: Unser "Falkland 1989", dank der Inszenierung eines Dramas aus fast archetypischen Bildern: In der Dunkelheit durch den Fluß und über die Grenze, in Panik über den Zaun, zermürbendes Ausharren im Matsch (russische Erinnerungen), und dann der Sieg: die schwarz-rot-goldenen Fahnen aus überfüllten Heimkehrerzügen, Ankunft mit Tränen, Blasmusik und Bananen. Dazu eine Notstandsübung, eine paramilitärische Schlacht um Zelte, Notbetten, Gulaschkanonen, erfolgreich geschlagen von Freiwilligen in grauen Uniformen, mit walkie-talkies und Meldelisten und Wohlfahrtsorganisation...

Und nach dem deutsch-falkländischen Drama die Inszenierung des Höhepunktes: Die "Vereinigung", das "Reich": Die Mauern fallen, Menschen strömen, wieder Bananen, Kaufräusche, die alle Ladenschlüsse hinwegfegen; nur noch einige Marktwirtschaft, deutsche Bananen, keine Experimente. "Heim ins Reich", Vereinigung, das Deutsche, die Nation - so strahlend, glänzend, daß kein anderes Bindemittel mehr nötig scheint.

Eine Zeitlang wird die nationale Mobilisierung wohl halten, wird die deutsche Welle die Ausnahme- und Feststimmung wohl tragen, bevor das Schwarz-rot-gold wieder azurn Grau verblast, bevor die Konturen der Gesellschaft im Modernisierungsumbruch wieder auftauchen: Die Massen der Modernisierungsverlierer, verstärkt durch Neuankömmlinge, neu hierarchisierte Armen- und Flüchtlingssektoren, Metropolen und Peripherien, glitzernde Modernisierungsgewinnler und Deregulierte, Prekäre, Ausgesteuerte. Dann wird wieder Moral gefragt sein - nach dem Besäufnis bekommt man fast immer den Moralischen. Der Moralisierungsdiskurs wird weitergeführt werden - und dieser interessiert uns in diesem Heft der WIDERSPRÜCHE. (*)

Der Moralisierungsdiskurs

1. Eine neue Zeit der Moral ist angebrochen. Vernunft genügt nicht mehr. Sachzwang und Augenmaß sind überholt. Moral muß her in dieser Zeit der Katastrophen, in diesen Zeiten von AIDS: Verzicht ist gefordert, und notfalls muß Verzicht erzwungen werden, mit Test, Quarantäne und Knast. Moralisierung allerorten: Die Moralisten läuten Glocken gegen Abtreibung und reden von einem neuen Holocaust; eine neue Hexenverfolgung wird mit hochnotpeinlichen Verhören begonnen. "Moralische Mehrheiten" haben anderswo längst das Schulgebet erzwungen und Darwin exorziert. Diverse Fundamentalismen moralisieren Politik, Kultur und Beziehungen.

Der Moralisierungsdiskurs wird von der konservativen Politik geführt: Vorzugsweise und altbewährt auf den Feldern der Sozialpolitik und der Volksgesundheit: Hier der Arme, der erzogen werden muß (mit Sperrfrist und unteren Quartilspreisen), dort der Unmäßige, der zu bestrafen ist (mit "Selbstbeteiligung" und - demnächst - Risiko-Straf-Prämie). Und die Moralisierung greift aus.

2. Aber den Moralisierungdiskurs haben wir angefangen: Die deutsche Bündnistreue bis an den Mekong haben wir Völkermord genannt. Die Sachzwänge der Ökonomie haben wir zu "Konsumterror" und "Verelendung" skandalisiert. Frauen haben das Schweigen der Privatheit gebrochen und die Gewalt im Geschlechterverhältnis öffentlich gemacht. Grenzwerte wurden als Verbrechen dechiffriert, der Fortschritt als tödlicher Machbarkeitswahn: Die Ökologen waren es vor allem, die Verzicht und Umkehr gefordert haben.

Wir haben angefangen, Schuldige zu benennen, gegen die nachfaschistische Komplizenschaft des Schweigens, gegen die lärmende Amnesie des Wirtschaftswunders. Wir wollten nicht die Väter wiederholen und sind rigoros und moralisch geworden. Und angesichts der jüngsten Früchte des Fortschritts, vor der Möglichkeit eines Gen-GAUs: Was sollen da noch Wahrheiten, was soll der Appell an die Vernunft (welche längst als instrumentelle erkannt ist)!

Es bleibt uns nur Moral: Der Ruf nach Moratoren, nach Begrenzung, nach Verzicht - und anzufangen haben wir bei uns selbst: Moralisierung des Alltags, Erbe der Parole: "'Politisierung des Alltags" - mitsamt jener Überforderung und Doppelmoral (und Doppelmoral hat seit jeher zu jeder Moral gehört).

3. Unsere Moralisierung, begonnen als Forderung nach einer solidarischen Gesellschaftsmoral wurde von den Konservativen transformiert in einen repressiven Diskurs der Naturmoral (und die ökologische Moralisierung baute die Brücke).

Der AIDS-Diskurs steht hier Modell: Die Natur, in Form einer heimtückischen Krankheit (die Naturalisierung à la Erreger-Kausal-Modell ist bereits vollzogen) erzwingt von der Gesellschaft Verzicht (auf Lust), erzwingt die Unterwerfung des Einzelnen unter eine repressive Normalität. Gesellschaftliche Zusammenhänge und Risiken werden auf Natur reduziert und projiziert. Der Mythos wird belebt: Die Natur schlägt zurück und rächt Dekadenz und Unmoral.

Die Natur gebiert eine objektive, unbezweifelbare, übermenschliche Moral.

Interessant ist der Funktionswandel der Natur-Kategorie im Moralisierungsdiskurs: Stand früher "Natur" für Möglichkeit, war in der Aufklärung die naturrechtliche Argumentation gleichbedeutend mit der Anerkennung von Verschiedenheiten, des Reichtums der Möglichkeiten, der Differenzen, denen gleiches Recht zukommen sollte, so steht heute "Natur" für Begrenzung. Die ökologische Erfahrung hat zu diesem "Paradigmenwechsel" in der Natur-Moral geführt und den älteren Sündenfall-Mythos auferstehen lassen.

Eine konservative Konstellation wird produziert: Ich, der Einzelne gegenüber der Gefahr, der Welt, der Natur. Und diese Konstellation, einmal akzeptiert, läßt nur konservative bis repressive Lösungen zu. Jede Idee der Veränderung, der Abschaffung der Ursachen von Bedrohungen ist verworfen. Veränderung, zumindest als gesellschaftliche, kollektive ist aus dem Horizont des Möglichen verbannt. Den Subjekten bleibt nur Unterwerfung, die Unterwerfung des Besonderen unter das Allgemeine, unter die Moral, die Natur, von Staat und Wissenschaft exekutiert. Es bleibt nur noch das Einfügen in verengte Normalitätsentwürfe und Gehorsam gegenüber den Rationalisierungen und Technologisierungen dieser Normalität: Geschlechterverhältnisse, durch die Ansprüche der Frauen in Bewegung geraten, werden re-normalisiert und wiederverherrschaftlicht (und das ist offensichtlich der Sinn des AIDS-Diskurses). Körper und Lüste werden gezählt und kontrolliert - die Kontrolle der Lust ist schließlich Ausgangspunkt und Grundakkord jeder Moral. Strategien der Prävention sollen eine kalkulatorische Rationalität am eigenen Leibe erzwingen. Lebens- und Glücksentwürfe werden normiert ("Behinderung ist Unglück") und ein technischer Umgang mit körperlich-sinnlichen Potenzen (z.B. in Form der pränatalen Diagnostik) wird mit sanfter Gewalt zur zweiten Natur gemacht. Längst ist damit begonnen worden, Lebendiges technologisch zu (re)produzieren, denn die Menschen sind ja so unvernünftig und der Natur muß die DIN-Norm erst beigebracht werden.

Veränderung ist auf technische Veränderung reduziert. Die Konservativen haben es geschafft, den "Fortschritt" zu besetzen und alle Politik und Moralisierung zielt auf die Akzeptanz technischer Lösungen für moralische Probleme. Den Einzelnen bleibt Unterwerfung - oder ein neuer Existenzialismus, ein Überlebenskampf in Stahl-, nein, Viren-Gewittern, ein Amoklauf: Jeder gegen jeden, die Rambos schlagen zu, die Wölfe sind freigelassen...

4. Erzwungene Unterwerfung (samt Verdrängung) und existenzialistische Kampfmentalitäten sind ein gesellschaftlicher Boden für die moralischen Paniken, die produziert und symbolisch simuliert werden, um Normalitäten zu verengen: Neue, innergesellschaftliche Feinde werden freigegeben (wo es mit den äußeren nicht mehr so klappt): Die AIDS-Desparados, demnächst vielleicht die Desperadas, die "wilden Mütter", die Schwangerschafts-Terroristinnen (über 35, unvernünftiger Kinderwunsch, Diagnostik verweigernd). Die moralische Panik um AIDS ist aber auch ein Ablenkungs-Diskurs: Die Leute sollen ihre Furcht (Tschernobyl), ihre Wahrnehmungen des alltäglichen gesellschaftlichen Wahnsinns (hier Arbeitslosigkeit, dort Herzinfakt), ihre sozialen Deklassierungs- und Entropieerfahrungen auf AIDS projizieren, sollen regredieren auf kindliche Wünsche nach dem starken, weißen Ritter, der kommen wird und den schwarzen Virus töten wird und es wird kein Zweifel mehr sein an Fortschritt und Vernunft. . . Moralisierung und moralische Panik ist eines der Klaviere, auf dem die konservative Politik der Angst so trefflich zu spielen weiß.

5. Wie umgehen mit den Moralisierungs-Diskursen? Sie offensiv und streitbar mitführen, gegen die falsche Moralisierung ("Abtreibung ist Mord") eine stärkere Moral und legitime Interessen (Ansprüche von Frauen, Männern, Kindern) setzen? Auf Ursachen, auf gesellschaftlich produzierte Risiken und Interessen verweisen, also aufklärerisch anrennen gegen Moralisierung, gegen die so wundervoll wirksame, angstentlastende Moralisierung? Den Moralisierungsdiskurs verweigern (weil er strukturell konservativ ausgehen muß) und die Amoralität aller Gefühle und Lüste gegen die technische Rationalität behaupten, die Spontanität alles Lebendigen gegen jegliche Vernünftigkeit und den Machbarkeitswahn?

6. Nein, es ist wirklich Zeit für Moral, für Ethik (als Selbstreflexion von Moralen). Denn zusammengebrochen sind die moralstiftenden "großen Erzählungen" (Lyotard), die geschichtsphilosophischen Verheißungen von Freiheit, Fortschritt und Vernunft. Der Traum der Vernunft, einer Vernunft auf der Basis abstrakter Naturbeherrschung, ist gründlich ausgeträumt - und es war auch ein linker Traum, einer von der "Übernahme" der Industrie, von Automatisierung der Arbeit und rationaler Planung des Glücks. Die Frage nach Moral, die Frage von Moralen ist unüberhörbar gestellt - jenseits der konservativen Konstellationen, Paniken oder Naturalisierungen.

Aus dem ökologischen Diskurs stammt die Ethik der Begrenzung (z.B. bei Hans Jonas), der Begrenzung des technisch Machbaren, um die Grundlagen der Natur für die Menschen, aber auch, um die Vielgestaltigkeit des Lebendigen zu erhalten. So evident diese Ethik ist und so richtig eine Politik der Moratorien (für Genforscher und -technik beispielsweise) ist, so konservativ ist doch die Logik, weil sie die Idee eines anderen Naturverhältnisses einer anderen, weniger gewalttätigen Menschheit nicht mehr denken kann.

Eine andere Moral, die Moral der Verständigung (z.B. bei Jürgen Habermas) kann zwar die Idee einer neuen Gesellschaftsvernunft denken, aber die Frage der Naturbeherrschung ist dem Diskurs von vornherein exterritotial (denn Arbeit sei "zweckrationales Handeln"). Das Naturverhältnis ist außerhalb der Debatte der vernünftige Sprecher (selbst wenn einer als Anwalt der Natur mit am Diskurs-Tisch säße), deren Vernünftigkeit nach der Art rationaler Naturbeherrschung am eigenen Leibe, an ihrer inneren Natur ist, und die Verständigung im Diskurs gerät allzuleicht zum Einigungszwang - so beispielsweise die Kritik von Lyotard.

7. So bleibt unsere Moral vorerst notwendig mehrdeutig und widersprüchlich: Notwendig moralisierend gegenüber den tagtäglichen tödlichen Geschäften und gegenüber den verdrängten Toten, oder, moralisch überbietend ("antihegemonial") gegenüber menschenfeindlichen und Doppel-Moralen. Oder, wir verweigern uns dem moralischen Diskurs und arbeiten mühsam gegen Paniken und Naturalisierungen, indem wir geduldig Motive und Ängste reflektieren, Sicherheitsbedürfnisse ernstnehmen, unsere Wünsche nach Beherrschung nicht tabuisieren.

Und zuletzt gibt es keine Alternative dazu, politisch für die Begrenzung des technisch machbaren einzutreten, wohl wissend, daß wir damit Tabus installieren, Zonen des Verbotenen, konservative Konstellationen, Mythen und neue Naturalisierungen.

8. Verlust der Utopie? Zerstoben die Utopie humaner Produktion, der Versöhnung von befreiter Menschheit und "erlöster" Natur (qua "Allianztechnik" à la Ernst Bloch) - zerstoben die Utopie, weil alle historischen Modelle und Realisierungsversuche unwiderruflich gescheitert sind? Ende der Aufklärung, neue Unmündigkeit?

Sicher ist es nicht die Zeit für einfache Lösungen. Die alten Objektivismen sind obsolet; Gott ist mausetot (auch der säkularisierteste, namens "Geschichte" oder "Vernunft"). Die neuen Objektivismen à la new age, diese Identitätsproduktionen aus eklektizistischen, bemüht "großen Erzählungen" sind hoffnunglos regressiv.

Was nottut: Eine Moral, nein, Moralen der Subjekte - jenseits objektiv-ganzheitlicher Versicherungen, jenseits auch eines 5-vor-12-Katastrophismus, einer Opfermoral im Angesicht der Apokalypse. Was nottut: Moralen der Subjekte, plurale Moralen - jenseits von Universalismusillusion und Einigungszwang.

Aber es handelt sich notwendig um Moralen: Jede Rede, jedes Argument drängt auf Anerkennung durch Viele und nach (zu begrenzender) Verallgemeinerung und ist damit moralisch.

Jede Kritik fragt nach Ziel-Mittel-Relationen und ist somit moralisch. Jede Kritik der Moral gerät unweigerlich in einen Zirkel, wenn sie Aufklärung über Interessen und Gründe einfordert, ist notwendig moralisch, weil sie eine Moral der Wahrhaftigkeit und Selbstreflexion voraussetzen muß (wie z.B. die psychoanalytische Aufklärung). Der Moralisierungsdiskurs bleibt ohne einfache Auflösung: Ein endloser und selbstreflexiver Diskurs in Moralen und über Moralen - auf dem Seil, ohne Netze objektivistischer Sicherheiten darunter.

Die Beiträge

Die Artikel in diesem Heft greifen in den Moralisierungsdiskurs auf durchaus verschiedene Weise ein:

Gerhard Amendt analysiert in seinen "Betrachtungen zur Abtreibungsdebatte" die Moralisierung der Abtreibung zum Diskurs über Tötung als Symptombildung, als - von Lebensschützern und Liberalisiererlnnen gleichermaßen - hervorgebrachte Produktion: der Produktion eines "Opfermythos", eines Bildes abtreibender Frauen als Opfer.

Die Angst vor der "tätlichen Frau" ist es, die darin abgewehrt werden muß; Die kollektiv-lebensgeschichtlichen Traumatisierungen sind es, die mittels Spaltung (des Frauenbildes), Idealisierung (der Mutter) und (lebensschützerischem, aber auch anderem) moralischen Engagement verleugnet werden müssen.

Heinz Sünker argumentiert in seinem Beitrag "Wider die Moralisierung des Politischen", gegen eine funktionale Moral als "sozialem Kitt" einer "totalisierten" Gesellschaft (Lefebvre) und theoretisch gegen eine Substitution von Gesellschaftstheorie durch Ethik und Moral. Mit Bourdieu analysiert er die Tendenzen zur Moralisierung als Phänomen an spezifischem sozialen Ort und zu spezifischer gesellschaftlicher Zeit. Sünker hält einzig eine Moral-Debatte für legitim, die sich um eine "relationale Vernunft" im Rahmen einer subjekttheoretisch reflektierten Gesellschaftstheorie bemüht.

Anders Micha Brumlik: Er schreibt in seinem Aufsatz "Bildung zur Gerechtigkeit" zunächst die Geschichte der (bundesdeutschen) Linken als Geschichte schiefer und unbegriffener Moralisierungen und empfiehlt einer nunmehr "postkonventionellen Linken" eine entwicklungspsychologisch reflektierte (an L. Kohlberg orientierte ) Moralpädagogik. "Boden für Vernunft zurückzugewinnen", sei die Aufgabe einer moralischen Erziehung zur Gerechtigkeit.

Im darauf folgenden Streitgespräch zwischen Rosa von Praunheim und Martin Dannecker geht es um die Moralisierung von/mit AIDS und die Folgen. Läßt AIDS "keine Zeit zum Nachdenken" (Rosa von Praunheim) und zwingt zur aktivistischen Propaganda von "safer sex" um den Preis der Leugnung von Ohnmacht, Trauer, von tabuisierten und deformierten Wünschen und Lüsten? Daß eine neue, versachlichte Sexualmoral Hand in Hand mit einem Katastrophismus wenig zu individueller und kollektiver Verantwortung beiträgt, darauf weist Johannes Strohmeier in seiner Einführung zum Streitgespräch hin.

Benno Hafeneger skizziert in seinem Beitrag "Alltagsmoral(en) in der Sozialarbeit" einige professionelle Moralkonstrukte, die in den Widersprüchen sozialarbeiterischer Praxis den "Kitt' abgeben und Handlungsfähigkeit und "Identität" produzieren helfen - nachdem eine konsistente Helferlegitimation längst abhanden gekommen ist. Moralen seien "widersprüchliche Selbstinszenierungen" in diesen Zeiten der Individualisierung (auch) in der Sozialarbeit.

Zu beklagen sind große Fehlstellen in der Reihe der hier versammelten Einmischungen in den Moralisierungsdiskurs: Einmal die feministisch-wissenschaftskritische Auseinandersetzung mit Reproduktions- und Gentechnologien und die hier zugespitzte Frage nach Ethik und Begrenzung der Machbarkeit. Zum zweiten die "Vergewaltiger-Bestrafungs-Debatte" als dramatische Kollision zweier Moralisierungen mit fast unauflösbaren Verknotungen. Die Redaktion hofft, den Diskurs an diesen Stellen, sowie mit anderen Einmischungen fortsetzen zu können.

Bremen/Norderney im Dezember 1989

* Mit dieser Skizze der deutschen Inszenierungen und des Nationalismus-Diskurs soll nicht gesagt sein, daß die Fragen nach "Vereinigung", nach dem Deutschen und Nationalen keiner linken Mühe wert seien. Weder die linke Unart, die Flüchtlinge stellvertretend für deren nationale und soziale Instrumentalisierung zu Reaktionären zu erklären, noch unsere Angst vor einem Deutschland nach Auschwitz ersparen uns linke Antworten auf die nationalen Gefühle und die politischen Stimmungen nach dem Scheitern des realen Sozialismus. Nur stehen diese Fragen und mögliche Antworten auf einem anderen Blatt, vielleicht in einem anderem Heft der WIDERSPRÜCHE.

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