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Heft 25: Prävention und Soziale Kontrolle

1987 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 26
  • Dezember 1987
  • 96 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-043-7

Wolfgang Völker

Immer lustig und vergnügt
Einwände gegen den präventiven Blick

Prävention, übersetzt als Vorbeugung oder Vorsorge, klingt ja erstmal ganz vernünftig. In unserem Alltag gehört Prävention zum gesunden Menschenverstand: wenn ich draußen bei minus 15 Grad nicht frieren will, sollte ich vorbeugen und mich warm anziehen. Wenn ich meine Zähne gesundhalten will, ist es sicher sinnvoll, mit Hilfe richtiger Zahnpflege vorzubeugen. Wenn ich auf eine lange Wanderung gehe und weiß, daß es unterwegs keine Wirtschaft zum Einkehren gibt, sollte ich Essen und Trinken einpacken. Wenn ich mit meiner Freundin schlafe und wir eine Schwangerschaft ausschließen wollen, sollte ich mir vorher Gedanken über Empfängnisverhütung machen. Wenn ich mein Fahrrad abstelle und weiß, daß Fahrräder geklaut werden können, sollte ich es abschließen; eine Fahrradversicherung würde sich auch empfehlen, denn Schlösser können geknackt werden.

So betrachtet, gibt es an Prävention eigentlich nichts auszusetzen. Mein Verhalten ist vernünftig in dem Sinne, daß ich Risiken oder Gefahren vermeiden will, die ich nicht wünsche. Ich kann entscheiden zwischen einem gewünschten und nicht gewünschten Ergebnis meines Verhaltens und entsprechende Vorkehrungen treffen, daß das nicht gewünschte Ergebnis nicht eintritt. Frau/mann könnte meinen, in so alltäglichen Geschichten sind die Folgen des eigenen Verhaltens locker in den Griff zu kriegen, Prävention sei wirklich möglich.

Auch wenn das Beispiel mit dem Fahrrad zeigt, daß mein individuelles Vorbeugeverhalten seine Grenzen am möglichen Fahrraddieb hat und mir eventuell nur der finanzielle Schadensausgleich über die Versicherung bleibt, auch wenn die Gesundheit der Zähne nicht allein vom Putzen abhängig ist, auch wenn Empfängnisverhütungsmittel versagen können - alle Beispiele belegen, daß Prävention, Vorbeugen sinnvoll und vernünftig ist.

Daß dies so ist, liegt daran, daß in den genannten Beispielen die Ziele der Handlungen - innerhalb gewisser Grenzen - dem eigenen Willen, den eigenen Wünschen entsprechen.

Schwieriger wird die Geschichte mit der Prävention dann, wenn sie als Teil sozialpolitischer, gesundheitspolitischer Strategien bürokratischer Institutionen betrachtet wird. Präventionsansprüche sind innerhalb der sozialstaatlichen Institutionen keineswegs neu. Zum Teil wurden sie auch von emanzipatorischen Bewegungen erst gefordert. Als Beispiel sei hier nur auf die Sozial- und die Arbeitslosenversicherung verwiesen. Allen sozialstaatlichen Dienstleistungen, die nach dem Versicherungsprinzip organisiert sind, liegt der Präventionsgedanke zugrunde: die Versicherung gewährleistet die Minderung von Risiken im Fall des Falles, (was in der kapitalistischen Gesellschaft zuallererst Erwerbslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit ist). Die Bedingungen dieser vorsorgenden Sozialpolitik sind nun nicht mehr auf Basis des eigenen Willens zu beeinflussen. Die Zielvorgaben und Normen, die in diese Politik einfließen, sprechen eine deutliche Sprache: Lohnarbeit ist die Basis und das Ziel der sozialen Sicherung in der kapitalistischen Gesellschaft. Wer nicht den "freien Willen" hat, sich diesen Normen zu unterwerfen, für den ist schlecht vorgesorgt.

Risikovorsorge

An dieser Form der Risikovorsorge wurde von linker Seite schon immer Kritik geübt. Sie ist nämlich darauf bezogen, daß es diese Risiken immer wieder gibt und sie erst wirksam wird, wenn der Schadensfall schon eingetreten ist. Die Sozialpolitik ist nicht aktivgestaltend sondern re-aktiv auf gesellschaftliche, scheinbar naturwüchsige Prozesse. Sie kommt zu spät, ändert nichts an den Ursachen - sie hat einen kompensatorischen Charakter. Dies Kritik bezieht sich nicht nur auf die materielle Seite der sozialen Sicherheit sondern auch auf die "Verhaltensseite": die Institutionen der Sozialarbeit und des Gesundheitswesens werden erst dann aktiv, wenn "Auffälligkeit", "Abweichung" und "Krankheit" vorliegt. Sie unternehmen nichts oder zu wenig, um die Bedingungen zu beeinflussen, die zu Abweichung und Krankeit führen. Hier muß der linken Kritik aber zugute gehalten werden, daß sie die gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen, die hinter dem Begriff von Abweichung stehen, kritisierte und abweichendes Verhalten nicht nach dem Maßstab bürgerlicher Angepaßtheit diskriminierte.

Dennoch führt die Kritik am kompensatorischen Charakter von Sozialpolitik leicht zu einer Faszination von präventiven Formen der Sozialarbeit, der Psychiatrie und Medizin. Prävention im Rahmen einer emanzipatorisch verstandenen Arbeit scheint vernünftig: es ist besser, die Ursachen von sozialer Not und Krankheit anzugehen, als die Betroffenen immer wieder mit sozialen Pflästerchen zu trösten, zu befrieden und zu verwalten.

Die Faszination von präventiven Konzepten auf Seiten der Linken war aber alles andere als ungebrochen positiv. Frau/mann war sich ja theoretisch des Doppelcharakters der helfenden Berufe bewußt: Hilfe war immer auch Kontrolle. Präventionskonzepte nährten auch immer die Angst vor staatlicher Kontrolle, vor totaler Überwachung, vor Verpolizeilichung sozialer und medizinischer Arbeit.

Tatsache bleibt jedoch, daß eine Kritik, die sich hauptsächlich auf die Ineffektivität staatlicher Sozialpolitik bezog, in eine sozialdemokratische Reformpolitik mit technokratischem Charakter eingebaut werden konnte. Denn in dieser Politik wird auf präventive Staatseingriffe gesetzt, um Konflikte nicht erst durch nachträgliche Maßnahmen sondern durch vorbeugende Versorgung zu regulieren.

Diese Angst vor politisch negativen Folgen des präventiven Blicks hat ihre Berechtigung, denn Prävention wird auch von den Rechten, den Konservativen, den Sozialtechnokraten im Munde geführt. Für die Rechte ist Prävention so faszinierend, weil sie der volkswirtschaftlichen, ökonomischen Vernunft entgegenkommt: sozialpolitische und gesundheitspolitische Maßnahmen kosten der Gesellschaft, den Staat Geld. Um solche Unkosten zu sparen, wäre es doch vernünftiger, den Risiken, die zu Sozial- und Gesundheitsausgaben führen, vorzubeugen. Zu diesem Zweck appelliert die volkswirtschaftliche Vernunft ganz offen und zynisch an die Vernunft des Einzelnen:

"Frau Süßmuth machte weiterhin deutlich, daß die persönliche Lebensführung große volkswirtschaftliche Konsequenzen habe. Durch Ernährung mitverursachte Krankheiten kosteten jährlich 40 Mrd. DM, Krankheiten wegen Bewegungsmangel jährlich bis zu 20 Mrd. DM." (Weser-Kurier, 1.4.86)

Beim konservativen Präventionskonzept geht es nicht nur darum, Kosten einzusparen und den einzelnen Staatsbürger zu einem anständigen Leben zu bewegen. Im konservativen Denken haben die Konflikte den Charakter von gefährlichen Infektionen eines eigentlich gesunden Gesellschaftskörpers. Und folgerichtig heißt Prävention dann die Bekämpfung der Infektionsherde mit den Heilmitteln des starken Vater Staat. In jüngster Zeit zeigt sich diese extreme Variante an dem bayrischen Maßnahmekatalog gegen Aids.

Auf Prävention können, so scheint es bisher, Linke und Rechte setzen. Kommt es wieder einmal nur darauf an, die Sache für den richtigen Zweck einzusetzen? Ist Prävention "an sich" unschuldig oder neutral? Oder gibt es so etwas wie eine eigene Logik der Prävention, die statt Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen immer wieder nur neue Formen von Herrschaft durchsetzt?

Alte Mittel versagen

Dies sind keine akademischen Fragen, sondern Fragen von aktueller gesellschaftspolitischer Bedeutung. Präventive Strategien werden wichtiger, weil die "alten" Mittel nicht mehr so greifen:

1. Seit längerem ist offensichtlich und auch in der Fachdiskussion unumstritten, daß eine staatliche Pädagogik der Abschreckung (Gefängnisse, geschlossene Einrichtungen) nicht die gewünschten Erfolge bringt und die hohen Kosten derartiger ausgrenzender Institutionen für den Staat in keinem "vernünftigen" Verhältnis zum Nutzen stehen.

2. Staatliche Kompensationsleistungen erwiesen sich gerade in Krisenzeiten als Sysiphosarbeit.

3. Seit Jahren gibt es eine lautstarke Kritik an den alltäglichen Zumutungen, Gesundheitsgefährdungen und Katastrophen dieser kapitalistischen Gesellschaft, die nicht so leicht in die "irrationale" oder "terroristische" Ecke gedrängt werden kann. Das Bewußtsein der Risiken dieser Gesellschaft ist ein Allgemeinplatz geworden. Auf den Titelseiten der Zeitungen löst ein Skandal den anderen ab. Hier bieten sich präventive Strategien für den Staat als politische Antwort an. Suggeriert wird, daß "man" die Risiken in den Griff kriegen will. Diese Politik hat vor allem symbolische Funktion: Präventionsgehabe zur Beruhigung von Ängsten.

4. Sicherheit vor Risiken ist nicht allein eine Floskel aus dem offiziellen politischen Wortschatz oder ein Markenzeichen zur Vermarktung moderner industrieller Produkte und Prozesse. Sicherheitsbedürfnisse gibt es auch massenhaft bei den potentiell bedrohten Gesellschaftsmitgliedern. Das verbreitete Wissen um die Gefahren der industriellen Produktion (z.B. von Lebensmitteln) führt bei vielen zum Wunsch, sich individuell gegen diese Risiken zu schützen. Gesunde Ernährung erscheint als vernünftige individuelle Prävention. Staatliche und institutionelle Präventionskonzepte können solche Sicherheitsbedürfnisse als Material nutzen. Die Verantwortung für die alltägliche Katastrophe und ihre Folgen kann so den Einzelnen zugeschustert werden. Ein jeder könnte seinen Beitrag leisten, den Preis des Fortschritts möglichst gering zu halten. Wer ihm dennoch zum Opfer fällt, muß in irgendeiner Weise zu riskant gelebt haben.

Um die Fragen zu beantworten, sollten wir uns vielleicht mal anschauen, was Sozialwissenschaften zu diesem Problem zu sagen haben:

"Prävention bedeutet ihrem allgemeinsten Sinn nach, die Entstehung sozialpolitischer Probleme zu verhindern. Den beiden Anknüpfungspunkten System und Subjekt entsprechend, lassen sich zwei Typen von Prävention - idealtypisch - unterscheiden. Diese beiden Typen werden in der Regel als primäre und sekundäre bzw. als institutionelle und personelle Prävention bezeichnet." (Vobruba, Der Mensch als Risiko, S. 29)

Oder: in negativer Abgrenzung zum Begriff der Intervention gelangt der Bielefelder Sonderforschungsbereich 227 zu folgender Definition:

"Prävention bezeichnet Maßnahmen zur Verhinderung oder Minderung von zukünftigen Störungen, Beeinträchtigungen oder Schädigungen von Kindern und Jugendlichen." (SFB 227 Info Nr. 2, Nov. 86, S. 2)

An beiden Definitionen wird deutlich, daß sich der wissenschaftliche Sachverstand hier nicht weit vom gesunden Menschenverstand befindet: Prävention zielt darauf, bestimmte, als problematisch angesehene Situationen oder Verhaltensweisen in Zukunft nicht auftreten zu lassen.

Wer den Anspruch erhebt, zukünftiges Verhalten zu gestalten, muß das Wissen darüber besitzen, wie zukünftiges Verhalten aus der Gegenwart, aus gegenwärtigem Verhalten entsteht. Da wir es hier mit Wissenschaft und nicht mit Zauberei zu tun haben, ist Wissen die Grundlage allen Erfolges. Wer zu wenig weiß, hat Pech gehabt.

"ln den hochentwickelten Industriegesellschaften sind Störungen, Beeinträchtigungen und Schädigungen der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu einem gravierenden sozialen Problem geworden. Die Bemühungen öffentlicher Instanzen nehmen zu, durch gezielte Maßnahmen bestehende Störungen (. . . ) zu beheben ("soziale Intervention") oder potentielle Störungen zu vermeiden ("soziale Prävention"). Die mangelnde Effektivität dieser Maßnahmen ist ein Zeichen dafür, daß Ursachen und Bedingungen von Störungen sowie die Wirkung der Maßnahmen nur unvollständig erkannt sind." (a.a.O. S. l)

Die Ansprüche theoretischer und praktischer Konzepte von Prävention lassen sich auf dieser allgemeinen Ebene auf den Nenner bringen: "Problem erkannt - Gefahr gebannt". Spätestens hier werden die "geheimen" Voraussetzungen aller Präventionsstrategien offenbar, die sich auf das Verhalten von Menschen beziehen. Sie gelten auch für den medizinischen Bereich, wenn statt "Verhalten" "Gesundheit" bzw. "Krankheit" gelesen wird.

Die erste Voraussetzung:

Jede Prävention geht von gewünschten Zielen aus. Sie setzt Normen und definiert so, was als Problem zu sehen ist. Diese Definition schließt andere Interpretationen aus. Indem ein Verhalten, ein Ereignis als Problem gesehen wird, wird eine Wertentscheidung über die Gegenwart genauso wie über die Zukunft gefällt. Eine bestimmte Zukunft, die als gewünscht betrachtet wird und herbeigeführt werden soll, schließt andere, widerstreitende Zukunftsentwürfe aus. Insofern ist jede Prävention repressiv.

Die zweite Voraussetzung:

Jede Prävention setzt Macht voraus. Nämlich die Macht, Verhalten zu steuern. Ohne diese Macht wird Prävention unsinnig, da sie die gewünschte Zukunft nicht herstellen kann. Die Steuerbarkeit von Verhalten setzt voraus, daß das menschliche Subjekt keinen eigenen Willen, keine freie Entscheidungsmöglichkeit hat. Insofern ist jede Prävention autoritär.

Die dritte Voraussetzung:

Jede Prävention setzt Information voraus. Information darüber, was gegenwärtiges Verhalten beeinflußt und was zukünftiges Verhalten beeinflußt. Zukunft ist aber nur dann scheinbar einfach vorauszusagen, wenn es eindeutige Beziehungen zwischen Ist-Zustand und Dann-Zustand gibt. Bezieht sich Prävention auf komplizierte Tatbestände wie menschliches Verhalten, soziale Lebenslagen, Krankheiten, so sind keine eindeutigen Schlüsse mehr möglich. Insofern hat Prävention den Drang, möglichst viele Informationen zu sammeln und Beziehungen zwischen allen möglichen Faktoren herzustellen. In der Praxis kann sich Prävention aber immer nur auf einzelne Faktoren beziehen. Hier besteht die Gefahr, daß der Einfluß auf einzelne Faktoren nicht gewollte, nicht kalkulierbare Folgen für den Gesamtzusammenhang hat. Auch um solche Nebenwirkungen zu vermeiden, muß Prävention im sozialen Bereich nach totaler Kontrolle streben.

Diese Voraussetzungen gehören zum Wesen der Prävention und der Glaube, sie ließe sich auch für emanzipatorische Zwecke einsetzen, ist naiv. Diese Tendenzen zu Repression, Autorität, Kontrolle und Ausgrenzung sind logische Möglichkeiten, die nicht in jedem Fall, nicht in jedem Bereich voll wirksam werden müssen. Die ihnen zugrundeliegenden Allmachtsphantasien bleiben oft Phantasien. Geprägt von diesen Tendenzen ist aber jedes präventive Denken und es ist nötig, alle präventiven Konzepte zu prüfen, inwieweit in ihren Zielen und Methoden diese Möglichkeit offen oder heimlich zu Wirklichkeiten werden. Das erfordert eine genaue Betrachtung präventiver Konzepte im Sozial- oder Gesundheitsbereich.

Risiko: Logik der Prävention

Was bisher sehr allgemein über die Logik der Prävention gesagt wurde, läßt sich an praktischen Präventionskonzepten verdeutlichen.

Was wurde in der bisherigen Geschichte nicht alles unternommen, um "abweichendem" Verhalten vorzubeugen! Die Art und Weise der Eingriffe war abhängig von der jeweiligen herrschenden wissenschaftlichen Meinung.

Wer davon ausgeht oder ausging, daß Verhalten erbbiologisch, genetisch bestimmt ist, hatte es einfach. Aber die Lösungen waren entsprechend brutal: wird Kriminalität als erblich angesehen, so ist es nur logisch, die Fortpflanzung von "Kriminellen" zu verhindern. Solcherart Wissenschaft führte dazu, "daß eugenische Maßnahmen im ersten Drittel unseres Jahrhunderts weit verbreitet waren und daß selbst in einem Land mit so 'liberalem' Ruf wie den Vereinigten Staaten Sondergesetze (erlassen wurden, d. Verf.), die in großem Maßstab die Sterilisation von mit Behinderungen behafteten Menschen vorschrieben" (Castel, Der Mensch als Risiko). Der deutsche Nationalsozialismus konnte sich in seiner Vernichtungspolitik gegen die, die nicht seinen rassistischen und politischen Idealen entsprachen, auf solche biologistischen Theorien berufen. Aber auch das wohlfahrtsstaatliche Musterland Schweden griff noch bis 1975 auf eugenische Präventionskonzepte zurück. Um die Ausbreitung von Geistesbehinderung zu verhindern, wurden 1945 bis 1975 9.000 schwedische Frauen und 4.000 schwedische Männer zwangssterilisiert (vgl. Der Spiegel Nr. 3 1987, S. 126/127).

Soll auf der Basis solcher Theorien die Zukunft einer Gesellschaft wirklich präventiv beherrscht werden, so landet man zwangsläufig bei den Horror-Utopien von Menschenzüchtung, wie sie etwa A. Huxley in seiner "Schönen Neuen Welt" beschreibt (wer mehr über solche Menschenzüchtungsutopien erfahren möchte, sollte den Aufsatz von Harald Kranz in SOWI 14/Heft 4 1985, S. 278 ff. lesen).

Als herrschende Meinung der Wissenschaft ist der "eugenische Weg der Prävention" (Castel) in Verruf geraten. Die modernen Sozialwissenschaften gehen davon aus, daß Verhalten ein soziales, gesellschaftliches Produkt ist. Auf diesem Hintergrund werden für den präventiven Blick die Sozialisations- und Erziehungsbedingungen interessant:

"Zu den anlage-, lern- und milieutheoretischen Paradigmen, die weiterhin ihre Berechtigung behalten, sind neue interaktionstheoretische, sozialisationstheoretische und bewältigungstheoretische Paradigmen gekommen, deren Erklärungskraft kritische Prüfung verdient. Danach können Beeinträchtigungen und Schädigungen als Ausdruck der Tatsache gelten, daß die eigentätige Auseinandersetzung von Kindern und Jugendlichen mit der Umwelt in einer Weise erfolgt, die von dieser Umwelt nicht akzeptiert wird. Ausgangspunkt hierfür kann wiederum eine unzureichende 'Umweltvermittlung' von Familie, Kindergarten und Schule sein, die zu unangemessenen Kompetenzen im Leistungs- und Verhaltensbereich der Kinder führt." (SFB 227 Info Nr. 2 Nov. 86, S. 5)

Hier läßt sich wieder fragen, nach welchen Maßstäben wird Angemessenheit/Unangemessenheit der Kompetenzen der Kinder definiert? Wer besitzt die Definitionsmacht? Deutlich ist auch, daß dieser Forschungsansatz versucht, monokausale Begründungen zu vermeiden. Zur Erklärung des Verhaltens wird auf verschiedene Faktoren zurückgegriffen. Ansatzpunkt für die Prävention bleibt auch nicht nur das Subjekt Kind, sondern die Umwelt und die Beziehung Kind-Umwelt wird als Information miteinbezogen.

Was die Voraussagbarkeit von Zukunft angeht, hat die moderne Sozialwissenschaft auch dazugelernt. Sie weiß, daß gleiche Sozialisationsbedingungen nicht notwendig zu gleichem Verhalten führen. Allgemeine Voraussagen erweisen sich als problematisch, weil sie "selbst in Fällen schwerer Entwicklungsstörungen (...) angesichts oft plötzlicher und unerwartet (wie furchtbar! W.V.) einsetzender Besserungen (spontaner Remissionen) wenig zuverlässig sind." (a.a.O. S. 6)

Das muß eine Enttäuschung für den präventiven Blick sein, wenn sich jemand "unerwartet" und "spontan" anders verhält. In ihrem Drang nach totaler Erklärung muß die vom präventiven Erkenntnisinteresse geleitete Wissenschaft natürlich weiter forschen. Wie kommt es, daß Menschen, die unter "risikohaften Lebensbedingungen aufwachsen, (sich) nicht selten positiv bzw. störungsfrei" (ebd.) entwickeln? Wenn "jene differentiellen Verarbeitungs-, Auseinandersetzungs- und Bewältigungsprozesse näher aufgeklärt" (ebd.), dann stellt sich die Frage nach der Gestaltung einer Zukunft, die Kinder trotz Risiken "entwicklungsstabil" werden läßt:

"Welche Gestaltungshinweise für ein Präventionsprogramm bei risikobehafteten aber unauffälligen bzw. bereits auffällig gewordenen Kindern und Jugendlichen lassen sich finden?" (ebd.)

Somit sind auch die bisher Unauffälligen zum Gegenstand sozialpädagogischer Eingriffe geworden. Wer die vollständige Prävention will, muß halt alles im Griff haben.

Mit dem Begriff des Risikos sind wir auf der neuesten Stufe von Präventionskonzepten angelangt. Moderne Präventionskonzepte beziehen sich nicht mehr auf einzelne Individuen, die als abweichend definiert werden, beziehen sich nicht mehr auf konkret wahrnehmbare "Gefährlichkeiten", sondern sie beziehen sich auf sogenannte "Risikopopulationen", womit Menschen gemeint sind, die mit Risiken behaftet sind.

"Ein Risiko resultiert nicht aus dem Vorhandensein einer bestimmten Gefahr, die von einem Individuum oder einer konkreten Gruppe ausgeht. Es ergibt sich daraus, daß abstrakte Daten oder Faktoren, die das Auftreten unerwünschter Verhaltensweisen mehr oder weniger wahrscheinlich machen, zueinander in Beziehung gesetzt werden." (Castel, Der Mensch als Risiko, S. 59)

Die praktische Konsequenz solcher Risikotheorien sieht so aus:

"Zum Beispiel wird in Frankreich seit 1976 ein landesweites System der Früherkennung kindlicher Anomalien eingerichtet (...). Das bedeutet, daß alle Kinder, die das Licht der Welt erblicken, systematischen Tests unterzogen werden (und zwar dreimal: im Alter von ein paar Tagen, von ein paar Monaten und von zwei Jahren). Die Untersuchungen machen alle erdenklichen Anomalien der Mutter und des Kindes, die psychischer, physischer oder sozialer Natur sein können, ausfindig. Zum Beispiel werden bestimmte Erkrankungen der Mutter, psychische Störungen, aber auch soziale Merkmale wie der Umstand, unverheiratet oder minderjährig oder Ausländerin zu sein, registriert. Mehrere dieser Daten können gleichzeitig auftreten, d.h. Faktoren, die untereinander in keinerlei Verbindung stehen, können zusammengefaßt werden. So kann es vorkommen, daß die Mutter eines Kindes ledig, jünger als 17 oder älter als 40 ist, eine bestimmte Art von Krankheit oder vorhergehende komplizierte Schwangerschaften durchgemacht hat, Landarbeiterin oder Studentin ist etc. . . Das Vorhandensein bestimmter oder einer bestimmten Anzahl dieser Risikofaktoren löst automatisch eine Meldung aus. Mit anderen Worten: ein Spezialist, z.B. ein Sozialarbeiter, wird in die Familie entsandt, um, ausgehend von vermuteten und abstrakten Risiken, das tatsächliche Bestehen einer Gefahr zu bestätigen oder zu dementieren. Eine in der Realität beobachtbare Situation ist nicht der Ausgangspunkt, sie wird gewissermaßen aufgrund einer allgemeinen Definition der Gefahren, denen man vorbeugen möchte, abgeleitet." (Castel a.a.O. S. 59/60)

Ein solches Konzept benötigt die weitgehende Erfassung aller möglichen Faktoren, die zu einem Risiko führen können. Es scheint geeignet, immer weitere Bevölkerungsgruppen und Lebensbereiche zu Risikogruppen bzw. Risikobereichen zu machen. Wenn sich der ganze Aufwand von systematischer Erfassung und statistischer Zuordnung verschiedener Merkmale lohnen soll, dann muß auch was problematisches, abweichendes gefunden werden, was therapiert werden kann. Die sozialen Eingriffe werden auf diese Weise anonymer gemacht und gleichzeitig wird ihnen der Schein wissenschaftlicher Objektivität zugeschrieben. Solche Praktiken arbeiten sozusagen mit einem Generalverdacht: die Gefahr wächst überall - auch wenn sie noch nicht konkret zu sehen ist. Weist jemand Besonderheiten auf, die allein oder in Kombination mit anderen vom präventiven Blick als "Risiko" erklärt worden sind, ist sie/er verdächtig.

Im Rückgriff auf den Risikobegriff zeigen sich wieder alle "geheimen" Voraussetzungen der Prävention, wie sie oben schon angeführt wurden: Repression, Informationserfassung und Überwachung, Definitionsmacht über Normalität und die Macht, in einzelne Lebenszusammenhänge sozialpolitisch einzugreifen.

Würde die Praxis der Berufe im Sozial- und Gesundheitsbereich nach diesem Muster von Prävention gestaltet, wäre es an der Zeit neue Namen für diese Tätigkeiten zu finden: wie wäre es mit Risikodetektiv, Sozialingenieur, Lebensstilkontrolletti?

Technokratischer Machbarkeitswahn

Mit der Durchsetzung des Risikokonzepts im humanwissenschaftlichen Bereich werden sich die Theorien und entsprechenden Praktiken immer noch weiter in die Richtung kontrollierender herrschaftsstabilisierender Sozial-Techniken entwickeln.

Interessant ist hierbei, daß staatlicherseits versucht wird, Risiken, die auf der menschlichen Verhaltensebene angesiedelt werden, immer mehr in den Griff zu bekommen, während die Risiken für unser Verhalten, für unsere Gesundheit, die mit dem "technischen Fortschritt" einhergehen, systematisch heruntergespielt oder als unbeherrschbares "Restrisiko" (das wahrscheinlich sowieso nicht eintritt) bezeichnet werden. Menschliches Verhalten gilt in diesem Denken als prinzipiell gefährlich für den Bestand der Gesellschaft - technische Prozesse gelten als prinzipiell nützlich für Bestand und Entwicklung der Gesellschaft und als prinzipiell beherrschbar.

Aber beide Male wird mit Definitionen Gesellschaftspolitik gemacht. Am Beispiel der Grenzwertdiskussion bei radioaktiver Verseuchung durch Normalbetrieb und Unfälle von "kerntechnischen Anlagen" zeigt sich, daß ganz eindeutig Normen und politische Ziele einfließen: das Gesundheitsrisiko wird mit einem Grenzwert meßbar gemacht. Die Höhe des Grenzwerts wird politisch festgelegt, neuerdings sogar zentral von einem Minister. Wann das Risiko anfängt, bestimmt der Staat mit seinen Sachverständigen. Und sollte es doch mal knallen - ganz friedlich oder militärisch - hat der Staat auch da vorgebeut: Bunkerbauten, Katastrophenmedizin. Alles Mittel, um die Katastrophe gleich wieder technisch in den Griff zu kriegen.

Der Präventionsgedanke steht in der Tradition eines wissenschaftlichen Machbarkeitswahns, wie er bisher hauptsächlich im Verhältnis der gesellschaftlichen Arbeit zur Natur zum Ausdruck gekommen ist. Dies gilt für kapitalistische Gesellschaften genauso wie für den real existierenden Sozialismus. Der technische Fortschritt in seiner jetzigen Form ist die heilige Kuh beider Systeme. Zukunft wird als planbar und kontrollierbar angesehen bzw. erstrebt. Die Utopie einer völlig "vernünftigen" Gesellschaft wird genausowenig in Frage gestellt wie der normative Inhalt der Vernunft, an die geglaubt wird. Denn daß diese Vernunft auch Herrschaft, Vernichtung, Gewalt, Terror und Ängste hervorbringt, ist offensichtlich. Je nach Geschmack kann frau/man sich die Belege dafür aus der Realität, den Zeitungen, den Geschichtsbüchern oder Horror- und Science-Fiction-Filmen holen.

"Die modernen Ideologien der Prävention stehen im Banne einer großen technokratischen Träumerei von der absoluten Kontrolle über den Zufall, begriffen als Hereinbrechen des Unvorhergesehenen. Im Namen des Mythos einer vollkommenen Ausschaltung des Risikos konstruieren sie selber eine Fülle von neuen Risiken, die alle als Zielscheibe der präventiven Intervention dienen. Nicht allein die im Innern des Individuums lauernden Gefahren, die allesamt Folgen der Unzulänglichkeit seiner Willenskraft, der Irrationalität seiner Wünsche oder der Unwägbarkeiten seiner persönlichen Freiheit sind, sondern auch die äußeren Bedrohungen, die von draußen kommenden Verlockungen, denen es nicht widerstehen konnte, Alkohol, Tabak, falsche Eßgewohnheiten. Verkehrsunfälle, alle möglichen Fahrlässigkeiten und Umweltverschmutzungen, überraschende Wetterveränderungen etc. etc. So werden im Rahmen einer großen Hygienikerutopie abwechselnd die Register der Furcht und der Sicherheit gezogen, um ein Delirium fehlgeleiteter Rationalisierungen herbeizuführen, die absolute Macht ihrer Agenten, Planer und Technokraten, Verwalter des Glücks in einem Leben, dem nichts widerfährt. Ein Hyperrationalismus, der gleichzeitig ein Pragmatismus ersten Grades ist, insofern er vorgibt, das Risiko zu eliminieren, wie man ein Unkraut ausreißt." (Castel, Der Mensch als Risiko, S. 62)

Es bleibt eigentlich nur noch eines für eine Politik im Sozial- und Gesundheitsbereich, die Emanzipation auf ihre Fahnen geschrieben hat: wir müssen der Prävention vorbeugen! Ansonsten wären die Gedanken der Widersprüche-Redaktion wie "selbstbestimmte Vergesellschaftung von unten", "Produzentensozialpolitik", "Definitionsmacht der Betroffenen" nur leere Worte. Die Utopie von "sozialer Sicherheit" muß deswegen nicht aufgegeben werden, begreift man sie so, daß sieeine Garantie sein soll für Menschenwürde, freie Entfaltungsmöglichkeiten, Diskussion, Gleichheit und Unterschied.

Bei den Gegenstrategien von unten, z.B. bei Selbsthilfegruppen ist die Frage durchaus angebracht, inwieweit auch dort die Logik der Prävention wirksam wird: inwieweit beziehen sich Selbsthilfegruppen in ihren Erklärungen auf angeblich eindeutige Ursache-Wirkungszusammenhänge? Inwieweit überschätzen sie die individuellen Verhaltensmöglichkeiten? Inwieweit setzen sie in ihren Zielen und Methoden herrschaftliche Normen durch? Inwieweit lassen sie nur bestimmte Selbsthilfemöglichkeiten zu und grenzen andere Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten aus? Das sind keine Fragen zur Diskriminierung "der" Selbsthilfe. Solche Fragen müssen an alle Vorschläge gestellt werden, die eine Alternative zu einer kontrollierenden, privatisierenden und diskriminierenden Sozial- und Gesundheitspolitik sein wollen.

Wolfgang Völker, Jg. 1952, Diplompädagoge, Thedinghäuser Str. 69, 28 Bremen 1

Literatur

  • M.W. WAMBACH (Hrsg.), Der Mensch als Risiko, Zur Logik von Prävention und Früherkennung, Frankfurt 1983
  • Sonderforschungsbereich "Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter" an der Universität Bielefeld, Info 227 Nr. 2, November 1986
  • Psychologie und Gesellschaftskritik, Heft 31, Oldenburg 1984
  • Psychologie und Gesellschaftskritik, Heft 39/40, Oldenburg 1986
  • Technischer Fortschritt und Risikobewältigung, Dokumentation einer gemeinsamen Veranstaltung des BDI und IdW, Köln 1984
  • HARALD KRANZ, Eugenische Utopien der Menschenzüchtung, SOWI 14, Heft 4, 1985

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