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Heft 22: Angestellte und Bildungsarbeit

1987 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 22
  • März 1987
  • 96 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-040-2

Thomas Kuchinke

Die Zwiebel im Spiegelkabinett
Über die Legenden von Yuppies, Angestellten und Kleinbürgern

"Der Mensch, der in Angst lebt, liebt die Freiheit nicht." A.M. Meerloo, Die Atomfurcht, 1950

Wenn im folgenden von den Legenden über Yuppies, Angestellte und Kleinbürger die Rede sein soll, dann ist erst einmal ein Wort zu aktuellen Legenden notwendig. Was Yuppies, Angestellte und Kleinbürger überhaupt miteinander zu tun haben, ist keineswegs unmittelbar einsichtig, und wer sich für Yuppies und Yuppiekultur interessiert, kann genauso von allem anderem absehen. Die in Gang gekommene Kulturkritik, die dem modisch gestilten Avantgardisten "Yuppie" auf die Spur gekommen ist, ihm nachstellt und mit den Augen plündert, hat einen unerbittlichen Voyeurismus entwickelt. Mit kritischem Gestus, distanziert, aber genauso fasziniert vom Objekt, wird seine Lebensweise, seine Ideologien und Kleidung, mit denen sich der Yuppie behängt, "durchschaut" und auf symbolische Gehalte durchforstet. Solcherart "Dechiffrierung" ist mit allen Wassern gewaschen, von der klassischen Kritik der Warenästhetik bis hin zur neueren "Ökonomie von Genuß und kulturellem Kapital", mit der man Anleihen bei dem Ethnologen und Soziologen Bourdieu macht.

Gegen die Unverbindlichkeit und Konsequenzlosigkeit der Kulturkritik wendet sich der Einwand zu Legenden und Mythen. Auch ohne erhobenen Zeigefinger hat das biblische Wort, daß man die Splitter in den Augen anderer eher erkenne, als die Balken vor und in den eigenen, auch heute noch seine gute ideologiekritische Bedeutung. Es ist selbst auf Ideologiekritik anwendbar, - mit einem Unterschied vielleicht: heute interessieren die Splitter in den Augen anderer so wenig wie nur irgendwas. Kultiviert wird die eigene Wahrnehmung und kontemplatives Schauen - ganz gleich wohin und worauf. Kultiviert wird die feuilletonistische oder anderweitig systematische Mitteilung wie hier über den Yuppie, und damit auch der Balken in den eigenen Augen: er ist keineswegs, wie in der Vergangenheit, Ausdruck beschränkter Wahrnehmung, sondern verbürgt Sicherheit in einer trügerischen Welt. Der Balken wird zum Rettungsstrohhalm dafür, daß etwas nicht nur so aussieht, wie es aussieht, sondern auch "wirklich" so ist.

Genauso verhält es sich mit der gegenwärtigen Kulturkritik an Yuppies. Während die Ethnologie fremde Gesellschaften begreifbar machen will, lebt der "Ethnologe im eigenen Land" von der Verfremdung, die er selber schafft. Aber das Gelingen der Verfremdung hängt von derselben Voraussetzung ab: wenn die "Spurensuche" auf den ethnologischen "Habitus" verkürzt wird, weil sie sich über die eigenen Motive zur Spurensuche nicht klar geworden ist (also Gegenübetragungseffekte unaufgeklärt sind), dann bleibt der Yuppie bei noch so mikrologischer Betrachtung das "unbekannte Wesen". Die dechiffrierende Betrachtung müßte den Weg für ein Urteil freimachen, das darlegt, worin sich das "neue" Phänomen von alten bekannten Erfahrungen in dieser Gesellschaft unterscheidet.

Oft genug gefällt sich Kulturkritik darin, ihre "Phänomene" mit ätzender Kritik zu belegen, - oder, sanftmütig, alles und jedes "Problem" verstehend durchdringen zu wollen. Weder die selbstgerechte Kritik noch die übervorsichtige Vergewisserung über allgemeinverstehbare Erfahrung wollen darüber hinaus einen Zusammenhang zur Kritik der Gesellschaft herstellen. Sie verzichten auf zielgerichtete Erkenntnis, überlassen ihre Beschaulichkeit sich selbst und produzieren deshalb Mythen und Legenden, auch wenn deren Ausformulierung von anderen vorgenommen wird.

In der Legende, angefangen bei den Kleinbürgern über die Angestellten bis zu den Yuppies, liegt der rote Erzählfaden in der Auseinandersetzung mit der Klassentheorie, die bereits von Marx unvollendet zurückgelassen war. Der projektiv-bösartige Blick, der zu wirklicher Erkenntnis taugt, genauso wie er, - verleugnet -, die Legende schafft, will in der Geschichte wiederholt Personengruppen, -schichten, -klassen, oder nach anderen Klassifizierungen geordnete Individuen für verschiedenstes "verantwortlich" machen: Die Kleinbürger für die (hegemoniale) Sozialdemokratie, Kleinbürger und Angestellte als wesentliche soziale Träger des Faschismus und die Yuppies (natürlich weniger gefährlich) für die Phalanx von Neokonservativen und Neoliberalen in allen Parteien. Der Streit entbrennt weniger darüber, ob sie für das jeweilige wirklich verantwortlich sind, sondern darüber, woran man die "Abtrünnigen", die mit "falschem Bewußtsein", die heute etwa "(öko)libertären" erkennt. Es ist ein Streit um Identifizierungen, gerade weil die Grenzen viel "fließender" sind, als die Erklärungen zulassen.

Es geht um eine politische Legende, baut auf die Verleugnung ungelöster theoretischer Defizite und halbierte Wahrnehmung. Stattdessen sucht sie Eindeutigkeiten durch einfach "andere Ansätze". Mit der unerledigten und immer wieder liegengelassenen Klassentheorie konnte diese Legende tradiert werden, weil einerseits die Klassentheorie von der Emanzipations- und Revolutionstheorie unablösbar ist, und umgekehrt, gerade in der deutschen Geschichte, eine Legende für das permanente Scheitern von Emanzipation immer aufs neue gestrickt werden mußte.

Als eine Legende in der Arbeiterbewegung, keineswegs bloß der deutschen, suchte sie unter anderem das einmal definierte "Subjekt der Geschichte" ohne "Verunreinigung" als "das" revolutionäre zu erhalten: zumindest der Tendenz nach wird die "proletarische Linie" oder "proletarische Revolution" von - kleinbürgerlichen oder anderen - Störungen freigehalten. Das gilt heute für den Yuppie gewiß nicht mehr, - aber bis in die dreißiger Jahre in Bezug auf die Angestellten; beim Yuppie als Pseudo-bewegung wiederholt sich nicht nur die Geschichte, sondern auch die Theoriegeschichte nur noch als Farce.

Im folgenden soll Geschichte und Theoriegeschichte grob rekapituliert werden. Ob Klassenkämpfe und Klassen überhaupt noch bestehen oder nur unsichtbar sind, wird nicht weiter verfolgt. Ebensowenig wird die klassische Alternative "Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft" erneut aufgerollt. Die Behauptung, daß es sowohl Klassen als auch deren Kämpfe noch gibt, erhalte ich einfach aufrecht. Nur die Bezugsgrößen wären neu auszumachen, nach denen sie bestimmbar sind. Bereits in der Geschichte erweisen sich die Zurechnungen von Angestellten und Kleinbürgern nachträglich als zu einfach. Der zuletzt wohl von Bourdieu erneuerte "Grundsatz", wonach der Klassenbegriff nur Sinn macht, wenn man Konstellationen zueinander ausmachen kann, kann gar nicht oft genug durchbuchstabiert werden. Sowohl die Ökonomie als auch die sozialstrukturellen Zurechnungen griffen und greifen zu kurz.

Varianten der Schmelztiegelsoziologie

Die Frage nach der Klassenstellung der Angestellten ist seit Beginn dieses Jahrhunderts wissenschaftlich relevant und beschäftigte vor allem Gesellschaftshistoriker im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit Marx. Eine eindeutige Zuordnung zwischen den beiden antagonistischen Lagern, Bourgeoisie und Proletariat, wurde nicht ermittelt. Max Weber und Werner Sombart formulierten sowohl ihre Hoffnungen als auch Befürchtungen im Zusammenhang der Entwicklung des Proletariats. Die Frage nach der sozialen, politischen und kulturellen Integration dieser Klasse in die bürgerliche Gesellschaft wurde nämlich schon von konservativen Sozialreformern im 19. Jahrhundert lebhaft diskutiert. Die sogenannten "Kathedersozialisten" der Jahrhundertwende hatten dahingehend ihre Hoffnungen bereits begraben: die "Lohnsklaven" in den Fabriken würden immer wieder sozialistische Gedanken hegen und sie entsprechend zu organisieren versuchen. Demgegenüber war die Entwicklung der Beschäftigten im Bereich industrieller Bürokratie, der Privatbeamten, wesentlich unsicherer; eine "Proletarisierung" war nicht absehbar und auch ihre gewerkschaftlichen Organisationsformen enthielten vielmehr ständische Momente.

Bereits in den zwanziger Jahren erschien die "Verbürgerlichung" des Proletariats wahrscheinlicher. Als "self-fullfilling prophecy" (MAHNKOPF 1985, S. 97) war das Postulat Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Intensiv nahmen darauf vor allem Hans Speier, Theodor Geiger und Hendrik de Man Bezug, alle drei in der sozialdemokratischen Bildungsarbeit verankerte Sozialwissenschaftler. Hendrik de Man postulierte die "Verbürgerlichung" als anzuerkennende Realität und suchte sie psychologisch zu untermauern. Unter dem Druck des "Minderwertigkeitskomplexes" der unteren Schichten, so lautete seine von Adler's Individualpsychologie herrührende Argumentation, bliebe den proletarischen Individuen keine andere Möglichkeit als zu verbürgerlichen. In den kontroversen Positionen von Speier und Geiger spielen eher sozialwissenschaftliche als psychologische Argumentationen eine Rolle, die auch heute noch wiederzufinden sind, wenn es um die "Pazifizierung" der Arbeiter geht oder um den relativ stillgelegten Klassenkampf sowie um die "Entpolitisierung" der Arbeitsverhältnisse der Angestellten als "Zwischenschicht". Klassische Gründe für die "Verbürgerlichung" sind steigender materieller Wohlstand, soziale Mobilitätschancen, zunehmende Staatsfixierung. Die notwendige kulturelle Anpassung dafür wurde vor allem der Sozialdemokratie unterstellt, die umfassend als kleinbürgerlicher Transmissionsriemen galt.

Geiger weist ohne Leugnung solcher Momente die Untermauerung der "Verbürgerlichungs"-These in den dreißiger Jahren zurück. Für ihn war eine differenzierte kulturtheoretische Argumentation jenseits von Subjektivismus und Objektivismus kennzeichnend, mit der er präzise zwischen klassenspezifischen Aneignungsformen und Selbstpräsentationsformen unterschied. Aneignung und "Ausdrucksform" eines jeden "Deutungsmusters" (wie es gelegentlich heute heißt) müssen unterschieden werden, so daß entweder 'oberflächliche Adaption' oder wirkliche "Verinnerlichung" bürgerlicher Kulturmuster erkennbar werden. "Ungleichzeitigkeiten" sind auch für Geiger kein fremder Begriff.

Obwohl die Drohungen der faschistischen Organisation wahr - und ernstgenommen wurden, herrschte ein gewisser Optimismus auch bei Geiger vor. Trotz aller Affinitäten zum Faschismus und Unterschiede zum Proletariat gab er die Hoffnung nicht auf, daß sich die "letzten" Interessen auch bei den Angestellten durchsetzen würden. Aber ein direkter "Vergleich" von Arbeiter- und Angestelltenbewußtsein war unter den auch von ihm gewählten theoretischen Ansätzen (M. Weber) nicht intendiert und möglich.

So konnte von der scientific community eine andere Überlegung erst gar nicht wahrgenommen und diskutiert werden: wenn nicht schon die Ratlosigkeit, so hatte der Faschismus, der viele ins Exil zwang, die "scientific community" überhaupt aufgelöst. Und die erste empirische Studie zum Bewußtsein von "Arbeitern und Angestellten am Vorabend des Faschismus" (1929) des Instituts für Sozialforschung unter der Leitung von Erich Fromm blieb unbemerkt. Nach ihrer Fertigstellung wurde ihre Veröffentlichung von den Mitarbeitern aus politischen Gründen unterbunden. Die psychoanalytisch erhobenen Ergebnisse stellten einen Schock für sie dar, - dem sich andere, wie Geiger, entzogen haben, indem sie ihr Augenmerk nicht auf diesen Zusammenhang legten. Trotz unterschiedlicher politischer Einstellung von Arbeitern und Angestellten war der Unterschied zwischen autoritären und vorurteilsbehafteten Charakterdispositionen längst nicht so groß wie man erwartete: auch bei den Arbeitern waren "autoritäre Charaktere" weit verbreitet.

(Die Studie wurde vollständig erst Ende der siebziger Jahre veröffentlicht. Als wichtige Vorläuferstudie zu dem späteren "Autoritären Charakter" konnte sie lange gar nicht wahrgenommen werden. Der dann erhobene Einwand kann nicht behandelt werden: "autoritäre" Momente bei Arbeitern entsprächen, klassenspezifisch betrachtet, anderen "Deutungsmustern" als bei den "Mittelschichten". Dieser Einwand wiederholte aber nur erneut Ressentiments gegen die "bürgerliche" Psychoanalyse und entsprechend "bürgerliche" Methoden der kritischen Sozialwissenschaft.)

Erst mit der Enttäuschung über Faschismus und Stalinismus nach 1945 änderte sich die sozialwissenschaftliche Thesenbildung. Bereits gegen Klassentheorie und Antagonismus gerichtet, lautete der Titel des wichtigsten Nachkriegsbuches von Geiger: "Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel" (1949). Die "Verbürgerlichungs"-These geriet nicht mehr eigenständig in den Blick, sondern "Arbeiter" und "Angestellte" war eine erhebliche Unterscheidung für den theoretischen Begriff der Gesellschaft. Der Schmelztiegel war zwar schon früher, bei Weber, eine Vision, aber erst jetzt konnte er als relevantes Konstrukt nachgeholt werden. Schelsky erörterte das Ende des Klassenkampfes als "nivellierte Mittelstandsgesellschaft". Und Dahrendorf setzte seine liberale, heute noch begriffliche Alternative dagegen. Er prägte die Formel von der "Dienstleistungsgesellschaft", in der zwar kein Klassenkampf konstitutiv ist, selbstverständlich aber "soziale Konflikte" zum wesentlichen Motor gesellschaftlicher Dynamik und Entwicklung dazugehören.

Damit gelangte die Soziologie hierzulande weitgehend an das Ende ihrer - keineswegs großen - Entwürfe, weil sie einen Nachholbedarf gedeckt hatte. Die Abkehr von klassenanalytisch orientierten Theoremen und die Hinwendung zur amerikanischen Sozialforschung und ihren Schichtungsmodellen schloß eine historisch entstandene "Lücke". Am Ende der sogenannten "Nachkriegszeit" schienen die Angestellten-These und das Verbürgerlichungs-Theorem, die vorher immer unter gesellschaftlichen und ökonomischen Krisenerfahrungen zur theoretischen Reflexion herangezogen wurden, überholt.

Die Rückkehr klassentheoretischer Problematisierung Ende der sechziger währte nur kurze Zeit. Wie eine unredigierte Wiederauflage verhinderten intensive Traditionsbildung und Marx-Wiederbelebungsversuche sogar eher ihre sinnvolle Aktualisierung. Unter den Bedingungen arbeitsteiliger Sozialwissenschaften wurde die Klassenfrage beispielsweise auf industriesoziologische Folien gespannt und die Kontroverse "Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?", wie sie der Soziologentag 1968 zum Thema erhob, mußte nicht berücksichtigt werden und blieb merkwürdig kraftlos gegenüber den empirischen Detailauseinandersetzungen. Die "Entpolitisierung", die Konservative, Liberale und kritische Marxisten der spätkapitalistischen "Schmelztiegelgesellschaft" bescheinigten, zeigte sich zu allererst in den theoretisch-empirischen Reflexionen über sie selbst.

In der Industriesoziologie kam Klassenspezifik nur in Bezug auf "den" typischen Industriearbeiter ins Bild. Industrielle Massenarbeit war "das" industriesoziologisch maßgeschneiderte "Bewußtseins"-paradigma, auf das empirisch hingearbeitet wurde. Unter Gesichtspunkten von konkreten Tätigkeitsprofilen, Rationalisierungs- und Lohnentwicklungen wurde das Bewußtsein von Lohnarbeitern auf kurzfristig artikulierte Reaktionen am Arbeitsplatz reduziert, - vergleichbar chemischen Beobachtungen im Reagenzglas. Andere Erfahrungen, wie etwa 'Arbeitslosigkeit', konnten beliebig vernachlässigt oder hinzugefügt werden. Was sich an "Herrschaft", "Kontrolle", "Qualifikation", "Bildung", "Leistung" oder "Interessen" überhaupt theoretisch-empirisch zu Begriffen fassen ließ, verdoppelte einfach die Realität - Abziehbilder, die im nächsten Moment schon an Gültigkeit verlieren konnten. Bezuglos zu anderen Bindestrich-Soziologien verschwand das konkrete politische Interesse an lebendigen Individuen, die im Produktions- und Reproduktionsprozeß vergesellschaftet sind.

Kein Wunder, daß letztendlich der "wohlhabende" Industriearbeiter und der "geduldige" Arbeiter, wie der Angestellte auch bezeichnet wurde (KADRITZKE 1975), ein mehr oder weniger "instrumentelles" Verhältnis zur Lohnarbeit entwickelt haben, "offensiver" oder eben "defensiv" den Rationalisierungsprozeßen gegenüberstehen. Und somit eine grundsätzliche "Individualisierung" postuliert wird, die klassenübergreifend ist oder auf den Klassenbegriff gänzlich verzichten kann (vgl. BECK 1986). Biographische, kulturelle oder sozialpsychologische Aspekte über Lohnarbeit, deren Geschichte und über konkrete Tätigkeiten in den Arbeitsprozessen waren über Jahrzehnte kein relevantes Thema (ausführliche Kritik bei MAHNKOPF 1985).

Auch als Mitte der siebziger Jahre die Angestellten wieder stärker unter die Lupe genommen wurden, als die Rationalisierungsprozesse durch die mikroelektronische EDV in den Büros Einzug hielten, zeigten die an Marx orientierten Ansätze sich nicht weniger hilflos. Die "Sonderstellung" der angestellten Lohnarbeiter schien endlich eingeebnet, und die theoretischen Schlußfolgerungen wurden recht beliebig:

"Die vielbeschworene Brauchbarkeit der Kragenlinie als Schnittmuster, das sich schlicht über die Gesellschaftsstruktur legen und eine verfeinerte soziale Topographie hervortreten ließe, ist im Rahmen einer theoretisch anspruchs- und empirisch belangvollen Forschung nicht mehr aufzuweisen. 'In diesem Sinne', zieht Jürgen Kocka die Konsequenz, ist 'der Angestellte' dabei, ein Thema zu werden, das nur noch den Historiker, nicht aber den Gegenwartsanalytiker interessiert." (KADRITZKE 1982, S. 244)

Sieht man einmal von der herbeizitierten Historikerautorität und ihren Argumentationskontext ab, wird eine solche - eher positivistische - Aussage nur im Rahmen eines engen (industriesoziologischen) Rahmens wahr. Weiterhin einmal abgesehen davon, daß Marx zur "Gegenwartsanalyse" niemals auf geschichtliche Prozesse verzichten konnte, ist in dem Zitat nur der Wunsch erfüllt, der Angestellte wäre zu Unrecht eigen-"ständisch" in die Geschichte eingetreten und verzichtete erst in der jüngsten Gegenwart auf sein "falsches" Bewußtsein als "besonderer" Lohnarbeiter.

Bis in die achtziger Jahre hinein sind Tätigkeitsprofile, Berufsarbeit, die für Lohn ausgeübt wurden, im Verhältnis zu den individuellen Reproduktionsbedingungen weitgehend kein Thema. Ausnahmen bilden explizite Ansätze zu Subjekttheorien (Hack 1976, Vogel 1983). Zwischen "Lohnarbeit" und "Bewußtsein von Lohnarbeit" schien der Weg denkbar kurz, und wo die Verelendung zum Mythos nicht mehr taugte, fand sie Ersatz in subtileren Varianten.

Schräger Vergleich: der Kleinbürger

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Klassenanalyse nach 1945 nicht wirklich aktualisiert wurde. Die Klassenzurechnungen, die statistisch und sozialstrukturell vorgenommen wurden, hinkten und hatten den Kontext sowohl zum Bewußtsein als auch zur wirklichen Geschichte verloren. Die von Marx geleistete Abstraktion von Produktions- und Verwertungszusammenhang des Kapitals wurde größtenteils zu den vergesellschafteten Individuen nur schlecht vermittelt, weil auch die Klassenbewegungen nicht in dem gewünschten Ausmaß sichtbar wurden, geschweige denn sich "verschärften".

Die Analysen kritischer Theoretiker in den dreißiger Jahren über Angestellte gewannen ihre konkrete Bedeutung erst unter zwei Gesichtspunkten. Im Kontext des sich organisierenden und formierenden Faschismus lag die Notwendigkeit, einmal Bewußtsein nicht manichäisch als "falsches" oder "richtiges" zu rubrizieren, sondern als die Reflexion auf unterschiedliche "Strömungen" oder "Bewegungen" von Klassen zu begreifen. Und zum zweiten durften diese bewußten und unbewußten Reflexionen selber nicht bloß als Wiederspiegelungen von statischen Verhältnissen aufgefaßt werden. Jede statische Klassenzurechnung wäre einer weiteren Verdinglichung des historischen Prozesses gleichgekommen, die als Schwäche und Hilflosigkeit des orthodoxen Marxismus bereits erkannt war und aufgehoben werden sollte.

Die Rezeption der intellektuellen Analysen der dreißiger Jahre hat den Doppelcharakter wieder aufgelöst: Bloch oder Kracauer und andere wurden zu genialen Zeitzeugen des Faschismus degradiert, oder man hob ihre mikrologische Betrachtung der Angestellten heraus - in beiden Fällen wird der Aussagewert für die gegenwärtige Gesellschaft beschränkt. Der Faschismus erscheint als "deutscher Sonderweg" in die Moderne. Und die Identifizierung der Angestellten mit Kleinbürgern, zumindest der kleinbürgerlichen Lebens- und Denkweise, gilt erst recht als historisches Relikt. Die umgekehrte Einschätzung, daß am Faschismus auch allgemeine Seiten "der" Moderne sichtbar werden, und am Angestellten vor 50 Jahren exemplarisch Zusammenhänge von Lohnarbeitsbewußtsein deutlich werden, die heute das Bewußtsein von Lohnarbeit "empirisch" sichtbar bestimmen, kommt gar nicht erst in Frage.

Die Identifizierung von Angestellten und Kleinbürgern, wie sie für alle kritischen Analytiker der dreißiger Jahre typisch ist, hat - nicht nur im Nachhinein - etwas scheinbar anrüchiges, weil denunziatorisches. Noch der Liberale Dahrendorf kommt, ohne den "Kleinbürgervorwurf" direkt zu erheben, 1972 zu dem abschätzigen Urteil über Angestellte, sie seien eine "wesenlose Nicht-Klasse". Und auch marxistische Analysen können sich von der Kampfbegrifflichkeit nicht lösen. Nach ihnen ist der Faschismus Ergebnis einer "kleinbürgerlichen Bewegung" und der Anteil der (teilweise arbeitslosen) Angestelltenmassen daran ganz erheblich. Wie die "Menschen ohne Eigenschaften" mit schwankender Gemütsverfassung und hohen Verdrängungsleistungen, geraten die Angestellten in die Nähe des "alten Mittelstands", auf den sich die faschistische Organisation ebenfalls stützen konnte. Solcherart vereinfachende Vorurteile liefern nicht nur Stoff über Geschichte, sondern gehören immer noch zum linksradikalen Repertoire bei manchem Gewerkschaftsmitglied, das sich die Aufhebung von Klassenspaltungen in hegemonial-proletarischen Erziehungsprozessen vorgaukelt.

Solche Vorurteile können aber nicht ihre Bestätigung in den Positionen kritischer Beobachter der dreißiger Jahre finden. Natürlich war das Selbstwertgefühl und Selbstverständnis von Angestellten einhellig durch ein unmißverständliches Abgrenzungsbedürfnis gekennzeichnet. Bloch spricht ausdrücklich von der "Lust, nicht proletarisch zu sein" (Bloch 1977, S. 109), die sich Ausdruck verleiht. Identität durch Abgrenzung verbürgte dem Angestellten aber nur zum Teil der Proletarier, der er nicht war. Im wesentlichen bestimmte das Bewußtsein nicht nur die Verdrängung von Lohnarbeitszwang, sondern die Leugnung von Abhängigkeit überhaupt. Im höchsten Fall waren Handlungsgehilfe und Privatbeamter bereit, anzuerkennen, daß sie zwar nicht die Freiheit der Oberen verkörperten, aber allemal eine "Zwischenstellung" einnehmen. Auch in dieser Position war "ihre" individuelle Unersetzbarkeit erkennbar; "absolute" Freiheit bestimmte ja auch nicht die Realität der Herrschenden. Wo also individuelle Unersetzbarkeit weder im blanken Widerspruch zum "Kollektivismus des Proletariats" stand noch umgekehrt "Unersetzbarkeit im Arbeitsprozeß" meinte, ist dieses Selbstgefühl mit dem Urteil über Gesellschaft allgemein verbunden: "organische" Vorstellungen über Teil und Ganzes, Körper und Gliedmaßen, Maschine und Rädchen mit funktional-hierarchischem Aufbau sind gängige Analogien über Gesellschaft und Betrieb (BLOCH, Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz, S. 172ff).

Allemal "richtig" an solch "falschem" Gesellschaftsbewußtsein ist der unbewußte Verweis auf die feudalen Grundlagen noch jeden Betriebs und auch der Gesellschaft. Gerade in Großbetrieben ist auch heute noch der "Neopatriarchalismus" (KRACAUER, Die Angestellten, S. 268) überhaupt nichts neuartiges oder verwunderliches.

Wo die "Kleinbürgerlichkeit" der Angestellten aus bestehenden letzten Verbindungen zum Mittelstand abgeleitet wird, liegen ebenfalls historische Irrtümer vor. Die Reproduktion von Sozialstrukturen und Milieus in den Verwaltungen und Büros war ebenfalls in den dreißiger Jahren sichtbar geworden. Bereits in den Untersuchungen von Kracauer gehörte es zu den Einsichten, daß beispielsweise die Schreibkräfte im Büro die verschiedenste Herkunft aufwiesen. Die beschäftigten Frauen kamen vom Land und aus der Stadt, von "oben" wie von "unten". Gerade die Inhomogenität der sozialen Rekrutierung müßte als besonderes Moment von Verhalten und Selbstverständnis bei Angestellten aufgefaßt werden. Die Auswahl für bestimmte Tätigkeiten und Funktionen wurde und wird von den Unternehmen spezifisch nach Habitus, Klassenherkunft und anderen "Insignien" getroffen. Natürlich war es kein Geheimnis, daß die "bessere" Herkunft Voraussetzung für Vorgesetztenfunktionen war (und ist). Ebensowenig blieb verborgen, daß bestimmte "neopatriarchalische" Strukturen aufrechterhalten wurden, indem nach dem ersten Weltkrieg z.B. gescheiterte Offiziere, "soldatische Naturen" oder deren Sprößlinge in "leitenden" Positionen eingesetzt werden, die zusätzlich militärische Disziplin zur Betriebstugend erhoben.

Das Verschwinden des Kleinbürgers

Die Identifizierung von Angestellten und ihrer kleinbürgerlichen Lebensweise wurde in den 30iger Jahren nicht vorgenommen, wenn von der sozialstrukturellen Reproduktion innerhalb der Büros und Verwaltungen die Rede war. Gerade das Bewußtsein von Angestellten über Arbeit, Abhängigkeit und Konkurrenz im Betrieb läßt sich als durchaus "rational" und "richtig" verstehen; bis heute ist an den Rationalisierungsprozeßen erkennbar, wie "die" Konkurrenz ganz wesentlich die konkreten Tätigkeitsprofile von Angestellten notwendig bestimmt. Keine noch so gut begründete Aufklärungsarbeit könnte sie als "Illusion" erscheinen und damit verschwinden lassen. Sie gehört zur Bestimmung der Arbeit schlechthin (vgl. dazu die anderen Beiträge in diesem Heft).

Die Konkurrenz als bewußtseinsbestimmendes Moment ist zunächst auch das erste Kennzeichen, das Marx für den Kleinbürger beschreibt. Er spricht von ihm als dem "sozialen Widerspruch in Aktion". Im Unterschied zum späteren Angestellten ist der "soziale Widerspruch" des Kleinbürgers in seiner historisch geronnenen Form sofort aus seiner ökonomischen "Lage" überschaubar. Das ideologische und politische, das praktische und gemütsmäßige "Schwanken" des Kleinbürgers gründet in seiner objektiven Zerrissenheit der ökonomischen und politischen Position bzw. Funktion. Den städtischen Kleinhändler und Kleinproduzenten traf im Feudalismus und Kapitalismus ein - vergleichbar - erlebtes Schicksal. Aus der direkten "Zuliefer-" oder Produzententätigkeit für die fürstlichen Höfe und Hofstaaten wurde er im Kapitalismus nur entlassen in die schwankende Konjunktur seiner vornehmlich bürgerlichen, aber auch proletarischen Kunden. Diese unmittelbare Konjunkturabhängigkeit ließ ihn seinesgleichen ausschließlich als gefährlichen Konkurrenten erleben. Niemals kann der Kleinbürger "das gewaltförmige Chaos der ursprünglichen Akkumulation in sich gänzlich überwinden", so daß er "demzufolge weder über identifikationsfähige Erfahrungen verfügt noch autonome Interessen zu artikulieren imstande ist" (KROVOZA/OESTMANN 1976, S. 35). Eine historisch so beschriebene autonom "verhinderte Klasse" (ebd.) ist aber politisch nicht wenig wichtig und auch nicht untätig. Wie Marx an Proudhon zeigt (und kritisiert), sind die Kleinbürger teilweise unverzichtbare Wortführer im Klassenkampf auf Seiten des Proletariats, - bei aller ideologischen Beschränktheit, die selten über sozialdemokratische Organisationsformen und bescheidene Reformvorstellungen hinauskommt.

"Der politische Kern von Marx' und Engels Kritik am kleinbürgerlichen Handeln liegt in der Enthüllung des Widerspruchs, der zwischen realer gesellschaftlicher Funktion und Macht des Kleinbürgertums und seiner Fähigkeit besteht, diese mit Willen und Bewußtsein zu ergreifen. Es ist wirksame und gewalthabende Ohnmacht." (ebd., S. 36)

Der "soziale Widerspruch in Aktion" ist also zu jedem historischen Zeitpunkt je nach Konstellation der Klassenkräfte durchsetzungsfähig mit dem einen oder anderen "Lager". Nicht das Schwanken unmittelbar als psychologische Qualität ist gemeint, sondern die "gewalthabende Ohnmacht": er tut zwar, was er kann, - aber kann nicht, was er will.

Zu dem Zeitpunkt, als die Angestellten ein massenhaftes Dasein zu führen begannen, war der klassische Kleinbürger und sog. Mittelstand ökonomisch keine relevante Kraft mehr. Wenn dem Angestellten eine kleinbürgerliche Lebenspraxis nahegelegt wird, dann eher, um den objektiven Druck der "gewalthabenden Ohnmacht" als pathogene psychologische Disposition genauer zu beschreiben. Die veränderten historischen Bedingungen, die als Ferment faschistischer Herrschaft begriffen werden müssen, liegen im Postulat eines dem Kleinbürger vergleichbaren psychologischen- und Sozial-Charakters, der in den gemeinsamen städtischen Bedingungen individueller Reproduktion und des Alltags seinen Ausdruck findet.

Auch die Essays Kracauers über die Situation in Großbetrieben sind im Untertitel mit "Aus dem neuesten Deutschland" versehen, und im Vorwort verweist Kracauer auf den Ort seiner Erfahrungen: Berlin. Wenn es dort weiter heißt: "Nur von ihren Extremen her kann die Wirklichkeit erschlossen werden", dann ist auf eine "extreme" räumliche Konstellation unterschiedlicher Klassenbewegungen angespielt: die Großstadt Berlin gegenüber den vielen (zurückgebliebenen) mittleren Städten.

Im 19. Jahrhundert hatte dieser Gegensatz für die deutsche Entwicklung einen besonderen Grund in den "zurückgebliebenen" Klassenkämpfen. Von einer kulturellen Hegemonie des Kleinbürgertums konnte deshalb gesprochen werden, weil sie in den vielen mittleren Städten stark waren, eine großstädtische Bourgeoisie sich nur teilweise entwickelt (aber nicht durchgesetzt) hatte, und auch das Proletariat sich vielfach nur in geringem Ausmaß aus den feudalen Arbeitsverhältnissen von Handwerksmeistern usw. emanzipiert hatte. Diese historische "Konstellation" muß vorausgeschickt werden, wenn auch in den zwanziger Jahren Städte und Land zum Ausgangspunkt der Beobachtung gewählt werden.

Das "Extrem" Berlin ist auch für Bloch der springende Punkt in seiner Beschreibung räumlicher und zeitlicher "Ungleichzeitigkeit", die zum Zeitpunkt der beginnenden dreißiger Jahre nicht nur das der Moderne zugehörige "kulturelle Unbehagen" erzeugte, sondern ein reaktionär-explosives Gemisch. Das folgende Zitat beschreibt, trotz seiner Länge, verkürzt die ganze Konstellation in den deutschen Verhältnissen:

"Jetzt dagegen ist der Boden gereizt, seine Menschen und er selbst. Die wirtschaftlichen Ursachen sind nicht unklar, ihre Folgen desto erstaunlicher. Die mittlere Stadt ist heute, zum Teil nur verödet, doch das Land wirft Schlamm auf. Die mittlere Stadt ist zum Teil von Gebildeten bevölkert, denen im Umbruch des Gewohnten nicht geheuer ist und die deshalb innere Werte pflegen. Aber das Land setzt sich qualitativ gegen die Zeit ab, gräbt unter Buchen (keine Judenbuche ist darunter) nach verrotteten Schätzen. Die mittlere Stadt oder Plüschstadt ist auf dem Weg Berlin nur etwas außerhalb geblieben, hinterläßt jedoch, mit vielsagender Ausnahme Münchens, noch keine pathetische Leiche (...) Kurz: war die mittlere Stadt nur Etappe, so ist das Land Front gegen Berlin geworden; und die Lage dieser Front ist am merkwürdigsten. (...) So scheint die Landreaktion nicht nur ökonomisch, sondern auch ,chtonisch' buchstäblich gut unterbaut. Und dieses eingesunkene Mutterhaus liegt heute wieder zutage, mit allen Instinkten, allen Restbeständen seinen Banns. Das geheime Deutschland solcher Observanz (oder Anti-Berlin) hat zwar keine Kraft mehr zu Bauernmöbeln oder Votivbildern, doch auf dem Giebel seines Hauses kreuzen sich Pferdeköpfe, Mythos bewacht die gute Stube. Dies geheime Deutschland ist ein riesiger, kochender Behälter von Vergangenheit; er ergießt sich vom Land gegen die Stadt, (...). Das Land hatte sich gegen einen mechanisierten Zustand gewehrt, das es doch noch gar nicht kennt, und den es nicht wegen seiner Öde, sondern vor allem wegen der erwarteten kommunistischen Folgen abgelehnt hatte. Die Angestellten der Stadt fliehen der Mechanei, die ihnen der Kapitalismus bereits vollkommen beschert hat, und in der sie sich seit wachsender Verödung der Arbeit, seit wachsender Krise so wenig mehr wohlfühlen, daß sie den Hochmutsgraben zwischen Stadt und Land erstmalig überspringen, daß sie Erdmythos in ihre Welt einlassen: nämlich als 'organischen' Maschinensturm, der ihnen den Kapitalismus ersetzt." (BLOCH, Erbschaft dieser Zeit, S. 53-57)

Während die ländliche Bevölkerung für Bloch aus einsichtigen Gründen "dickes Unbewußtes von früher, sogar vorgeschichtlicher Art" (S. 61) transportiert, findet in den mittleren Städten die Auflösung "des Plüschs" und seine Verwandlung in "falsches Moos" (S. 56) langsam, aber unaufhörlich statt. Beschrieben ist die kleinbürgerliche Hegemonie, der Ort, wo einst Apotheker, Pfarrer und Bürgermeister traut vereint in der Schenke saßen. Dort entstand die "dionysische Gewalt des Muff" (S. 66) und im höchsten Fall wendeten sich distanzierte Gebildete aus Skepsis vor den "braunen Horden" von der neudeutschen Bewegung ab und traten den Rückzug in die "inneren Werte" an. Diese Form des Überwinterns kennzeichnet unter den "gehobenen Kreisen" des Bildungsbürgertums ein weitverbreitetes Verhalten.

In der Großstadt - wesentlich Berlin - führte die Wut auf "Mechanei, Seelenlosigkeit, Öde und Entmenschung" vielmehr zur individuellen und kollektiven Flucht auf das Land. Der vielfältige "romantische Antikapitalismus", der später eher als nebensächliche Begleiterscheinung der nationalsozialistischen Weltanschauung angesehen wird, ist nur eine grobe und außerdem zu schwache Bezeichnung für den ideologischen Konstitutionsprozeß im einzelnen. Gerade am Antisemitismus, dem Kern nationalsozialistischer Weltanschauung und seiner Konsequenz, dem Massenmord der Juden, zeigt die psychoanalytische Aufklärung am ehesten, wie individuelle Regression und deren kollektive Organisation des Hasses auf's "Abstrakt-Mechanische" ineinandergreifen (vgl. CLAUSSEN 1987).

Gerade wenn die individuellen und kollektiven Fluchtbewegungen der städtischen Bevölkerung aus der tödlichen Langeweile und der Sucht nach Zerstreuung nicht schicksalshaft und unabänderlich in die mörderische kollektivierte Wutentladung und blinden "orgiastischen Haß" interpretiert werden, sind nichtreduktionistische, d.h. nichtpsychologische Annäherungen möglich.

Auch Bloch, der von Deutschland als "klassischem Land der Ungleichzeitigkeit" sprach, will auf keine "Zurückgebliebenheit" etwa "der" Nation, einiger Klassen, "der" Angestellten hinaus. Im Gegenteil, der städtische Alltag als Bedingungsgefüge individueller Reproduktion von Lohnarbeit geschieht gleichzeitig zur kapitalistischen Gesamtreproduktion unter Krisenbedingungen, angesichts ökonomischer Konzentrations- und technologischer Rationalisierungsprozesse und massenhafter Arbeitslosigkeit. Die von den Faschisten gelenkte Eruption und permanente Katastrophe setzte an diesem "Alltag" an. Erst sie organisierten die verschiedensten Fluchtbewegungen, praktisch und ideologisch, wirklich zu einer wahnhaften Massenbewegung. Auf die diffuse Wut auf das Abstrakt-Mechanische antworteten sie mit der Organisierung des Konkret-Naturhaften. Die zentralen Inhalte ihrer Weltanschauung waren "gesundes" Leben von Individuum und Rasse, Blut und Seele, und eben der praktische Kampf gegen alles Abstrakte: gegen die 'zersetzende' Vernunft (Antiintellektualismus), die 'zersetzende' internationale Arbeiterbewegung und - besonders - gegen das internationale Judentum, das zusammen die Projektion auf sich zog.

"Ungleichzeitig" war die massenhaft vorhandene Form des Unbewußten: die psychische Konstellation von erlebter Angst, Ohnmacht und uneingelöster Wuschbilder, die zur "Entladung" und wirklichen Aufhebung drängten. In diesem Sinne verschafften die faschistische (reale und nicht psychische) Organisation "den" Massen einen Ausdruck, und nicht ihr Recht (Benjamin). Ohne daß im einzelnen gezeigt werden kann, wie die individuelle Regression und "gewalthabende Ohnmacht" in den Dienst grauenvoller Gewalttätigkeit genommen wurde, wird von hieraus verständlich, worin für Bloch und andere die "Kontinuität" zwischen Kleinbürger und Angestelltem liegt.

Zwiebelnaturspiel statt Schmelztiegel

Unter dem Begriff "städtischem Alltag", der spezifischen Bedingungen individueller Reproduktion, werden vergleichbare Züge der Lebens- und Bewußtseinsstile sichtbar, deren "Kleinbürgerlichkeit" in der psychischen Konstellation der Ohnmachtserfahrung genauer zu begreifen wären. Sie gehen weder in der Vergleichbarkeit der "Konkurrenzsituation" auf, die der historische Kleinbürger auf dem Markt vorfindet oder der Angestellte in "seinem" Unternehmen. Genausowenig stimmig sind eindimensionale Ableitungen der biographischen Herkunft, die den "alten" Mittelstand noch nicht vollständig aufgelöst sehen. Jede unmittelbare Identifizierung, wie sie der hämische Kleinbürger-Vorwurf an jedem mit "falschem" Bewußtsein am umfassendsten vornahm, ist eine Reduktion der unaufgeklärten Momente.

Auch die zum Ausdruck kommenden psychischen Dispositionen, so sehr sie nicht subjektiv sind, sondern in den objektiven Zwängen kapitalistischer Vergesellschaftung zu begreifen, vergessen ihre Erklärungsreichweite und Grenze: nämlich die von Geschichte, vermittelt durch Individuen.

Stattdessen herrscht weiter die Legende, von der am Anfang die Rede war. Auch die gegenwärtigen sog. "politischen und kulturellen Hegemonien" der Spielarten des Neokonservatismus, die jenseits und quer zu Klassen, Parteien und Organisationen in ihrer "organischen" Dynamik untersucht werden, bedürfen eines anderen Zugangs. Die herrschende Praxis als die durch Geschichte und biographisch vermittelte Prozesse individueller Emanzipation und Scheiterns, Brüche und Kontinuitäten, Desillusionierung und (erneuter) Illusion hindurch zu begreifen, verlangt ein völlig anderes Verständnis. Es liegt quer zu den fortgesetzen Legenden über traditionelle Klassen- und Schichtenanalyse, über Angestellte und Arbeiter, über Lohnarbeit und "richtigem" Bewußtsein davon: im Gegenteil haben diese ein solches Verständnis immer ausgeblendet.

An der kulturellen und politischen "Hegemonie" der Kleinbürger, wie sie bis zur Jahrhundertwende für die deutsche Gesellschaft bezeichnend war, läßt sich noch einmal zeigen, was eine Kritik "moderner" kapitalistischer Vergesellschaftung ohne Denunziation leisten müßte.

Daumiers Karikaturen und auch Marxens Vergleiche der Kleinbürger mit der "Thierwelt" machen, unabhängig von der besonderen deutschen Geschichte, in eindrücklichen Naturalisierungen die städtischen Lebens-, Arbeits- und vor allem Konkurrenzverhältnisse von Menschen sichtbar: umgedeutet auch in deren Selbst-Verständnis herrscht Darwinscher "Überlebenskampf" untereinander.

Innerhalb der deutschen Kleinstädte läßt sich der "Plüsch" und die kulturelle "Hegemonie" des Kleinbürgertums nur verstehen, wenn man ihre Elite- und Avantgardebildung betrachtet. Das deutsche "Bildungs-"Bürgertum, das im Selbstverständnis Kultur"güter" und "Werte" analog dem kapitalistischen Privateigentum "gepachtet" hatte, lieferte sich in Ausmaß und Schärfe einen kaum vorstellbaren Konkurrenzkampf. Massive "soziale Schließung", elitäre Abschottung, heftige Abwehr von "Philistern" und "Halbgebildeten", sowie die von Marx gegeißelte "kritische Kritik", waren Merkmale dieser Auseinandersetzung. Erklärbar ist dieser "Kampf" nur aus der Abwehr gegen die herrschenden Gruppen, Adel und Bougeoisie, gleichermaßen. Sie versagten die soziale Anerkennung im allgemeinen und verhinderten die geregelte Teilhabe in den Staatsapparaten und somit oft die Berufsausübung überhaupt (ELIAS 1978). Die vernichtende Konkurrenz um soziale Anerkennung, Abgrenzung und Absicherung diverser "Diskurse" und Positionen fand weitgehend losgelöst von anderen gesellschaftlichen Kämpfen statt. Die städtischen Kleinbürger, - Juristen, Ärzte und Pfarrer, etwas weniger Professoren, Wissenschaftler, Lehrer, Künstler, Literaten und Journalisten erheblich mehr -, waren stark auf sich selbst zurückgeworfen.

Eine literarische Kostprobe schäumender "kritischer Kritik" an den Philistern sei gegeben. Clemens Brentano greift in einer weitbeachteten und enthusiastisch gefeierten Tischrede gegen Philister, - die gerade von "seinen" Tischgesellschaften ausgeschlossen werden sollten -, zu einer naturalen Analogie.

"Auch hat die Zwiebel wirklich etwas von einem Philister, als welche, gleich ihnen, aus unzählig übereinandergezogenen Häuten bestehend, in denen sich nichts weiter befindet; und wenn ich bedenke, daß ein Philister sehr gern, erstens, eine Jacke auf bloßem Leib, dann eine rote Bauchbinde, Unterhosen (worunter drei Paar Strümpfe), Rock, Überrock, Wildschnur, Pelzstiefel, baumwollene Mütze, Perücke, Lederkäppchen, Pudelmütze, Fußsack und sodann um alles noch eine Protechaise, Kutsche oder Diligence, wenn 's hineingeht, und endlich die ganze Natur, die ihm ein Futteral scheint, und ganz zuletzt seine dicke, undurchdringliche, steifleinene, lederne oder wachsleinene Ansicht, worauf ein Wetterableiter, auf dem Leibe trägt: wenn ich dies bedenke, so halte ich einen Philister für ein in krankhafter, abnormer Hauterzeugung ertapptes Zwiebelnaturspiel." (zitiert nach: STEIN 1985, S. 28f)

Die Kritik an Spießern, Kleinbürgern und Philistern, wie sie hier vorgetragen wird, liefert ein giftiges Bild und im Grunde eine Selbstcharakterisierung. Sie kritisiert Bewußtseins-, Lebens- und Weltanschauungsformen, die jeder in der Stadt dem anderen gegenüberbrachte: außer für die Kleinbürger selber, zur Abgrenzung oder als Ausweis der Dazugehörigkeit, hatte sie keinen anderen Wert.

Nimmt man das darinliegende Paradigma der Zwiebel ernst, wird über die Selbststilisierung und -Charakterisierung gegenwärtig eine Kontinuität deutlich. Die Zwiebel als kern- und substratlose "Hautüberhäutungshaut" ist nur eine naturale Analogie für den "Etui-Menschen" (Benjamin). Sie erinnert an die "wesenlose Nicht-klasse", an die "Menschen ohne Eigenschaften" und auch an die postmoderne Spiegelung des gespiegelten Objekts, das sich als Subjekt wähnt, im Spiegel aber nicht findet und am Ende kirre wird an der (scheinbaren) Unterschiedslosigkeit von Simulation und Wirklichkeit. Dieses letzte "Paradigma" ist in futuristischen Romanen so aktuell wie manchen Darstellungen und Selbst-Darstellungen des "narzißtischen" Syndroms "unseres Zeitalter" (Lasch).

Was die Kleinbürger an sich selber wahrnehmen und teilweise haßerfüllt auf andere Mitkonkurrenten projezierten, was später dauernd als "falsches" Bewußtsein den Angestellten angelastet wurde, beschreibt nur zum Teil vergleichbare gesellschaftliche Zwänge, unter denen sie sich reproduzieren mußten und müssen. Das "Distinguieren", das Durchstilen der Persönlichkeit, der zugelegte Habitus, das Auftreten, Kleidung und die richtigen "Kreise", in denen man vekehren muß, die fachmännischen Gebärden, zu denen man "steht", finden darin ebenfalls nur teilweise ihren gemeinsamen Ausdruck. Mit dem alltagspsychologisch begriffenen Prozeß der "Verdrängung" hat dies nichts zu tun. Die Angst, abzusteigen, arbeitslos zu werden, nicht mehr mithalten zu können, der technologischen Entwicklung hinterherzulaufen, von Jüngeren überholt zu werden, gehört sehr wohl zum "Bewußtsein" und wird auch ausgedrückt. Entscheidender an den erzwungenen falschen Selbst-Darstellungen - und entsprechenden "Beziehungen" zu anderen - ist viel eher, daß man ständig damit - trotzdem - leben muß. Das produziert Ohnmacht und gelegentlich Wut.

"Andere" Auswege, die Solidarität anstatt pseudo-solidarischer Beziehungen oder elitärer Gemeinsamkeit (jung-dynamischer) Eliten schaffen, müssen erst geebnet werden. Entgegen allen diesen hinreichend bekannten Formen meist regressiver, vergifteter Solidarität bedarf es neuer Organisierungen, die die "Individualisierung" und Atomisierung wirklich aufheben und gleichzeitig auf kollektive Vereinnahmung verzichten. Theorien, nicht Legenden, über die kapitalistische Gesellschaft und über das Individuum, über Klassen und Subjektivität sind für eine solche Praxis unerläßlich.

Literatur

  • Th. W. Adorno, Theorie der Halbbildung, in: Soziologische Schriften I, Ffm 1979, 93-121
  • E. Bloch, Erbschaft dieser Zeit, in: Gesamtausgabe 4, Ffm 1977
  • ders., Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz, in: Gesamtausgabe 11, Ffm 1977
  • D. Claussen, Über Psychologie und Antisemitismus, in: Psyche 1/87, S. 1-21
  • N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Ffm 1978
  • H. Gekle, Wunsch und Wirklichkeit. Blochs Philosophie des Noch-Nicht-Bewußten und Freuds Theorie des Unbewußten, Ffm 1986
  • L. Hack, Subjektivität im Alltagsleben. Zur Konstitution sozialer Relevanzstrukturen, Ffm 1977
  • ders., Bestens bedient, in: links-Schwerpunkt Angestellte, links Nr. 203, S. 14-15
  • U. Kadritzke, Angestellte. Die geduldigen Arbeiter, zur Soziologie und sozialen Bewegung der Angestellten, Ffm 1975
  • ders., Angestellte als Lohnarbeiter, kritischer Nachruf auf die deutsche Kragenlinie, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 24/1982, S. 219-249
  • S. Kracauer, Die Angstellten, in Schriften l, Ffm 1971
  • A. Krovoza/A. Oestmann, Kleinbürger in Deutschland, in Kursbuch 45, Berlin 1976
  • B. Mahnkopf, Verbürgerlichung. Die Legende vom Ende des Proletariats, Ffm/New York 1985
  • K. Marx/F. Engels, Revolution und Konterrevolution in Deutschland (MEW 8), - Das Elend der Philosophie (MEW 4), - Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (MEW 8)
  • Gerd Stein, Philister-Kleinbürger-Spießer. Kulturfiguren und Sozialcharakter des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 4, Ffm 1985
  • M.R. Vogel, Gesellschaftliche Subjektivitätsformen. Historische Voraussetzungen und theoretische Konzepte, Ffm 1983

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