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Heft 21: Ganzheitlichkeit

1986 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 21
  • Dezember 1986
  • 96 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-039-0

Wolfgang Völker

Beruf, Politik & Aussteigen aus der Sozialarbeit
Rückblick auf die Auseinandersetzungen um Ganzheitlichkeit und Allseitigkeit

Ein Großteil der Beiträge in diesem Heft setzt sich ja auf einer mehr oder weniger philosophischen Ebene mit theoretischen und praktischen Konzepten auseinander, die für sich Anspruch auf Ganzheitlichkeit erheben. Damit sind dann solche Interpretationen von Wirklichkeit, Verhalten und Verhältnissen gemeint, die in dem, was sich alltäglich vor unseren Augen an Geschichte ereignet, die Verwirklichung eines schon immer und außerhalb dieses Alltags existierenden Prinzips sehen. Der Inhalt dieses Prinzips ist dabei zweitrangig. Es kann eine vorausgesetzte kosmologische Ordnung sein, es kann Yin und Yang heißen - aber auch "Fortschritt der Produktivkräfte".

Ich will mich dem Thema von einer anderen Seite her nähern. In meiner politischen Geschichte mit den linken Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen, die sich im SB organisiert hatten, trat "Ganzheitlichkeit" hauptsächlich auf zwei Ebenen auf.

Die Theorien und Methoden der sozialen, und vor allem der Gesundheitsberufe wurden kritisiert, insofern sie sich nicht mit dem Klienten als "ganzen Menschen" befassten, sondern ihn zurückstutzen auf einzelne Verhaltensschwierigkeiten, auf einzelne Krankheitssymptome. Logischerweise, so setzte die Kritik fort, konnte darauf auch keine pädagogische oder medizinische Praxis folgen, die das "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" (Marx) einbezieht, in denen die Klienten von Sozialarbeit und Medizin leben. Gegenüber einer Theorie und Praxis, die Menschen in einzelne Problemsymptome auflöst, wurde also Ganzheitlichkeit eingeklagt.

Das zweite Mal, wo Ganzheitlichkeit als wichtigster Begriff benutzt wurde, war Ende der siebziger Jahre in der Aussteigerdiskussion. Dabei ging es im "Arbeitsfeld Sozialarbeit" darum, daß viele Männer und Frauen, die mit politischen Ansprüchen in die Berufspraxis der Sozialarbeit eingestiegen waren, drauf und dran waren, aus dieser Praxis auszusteigen. Sie wollten der politischen wie beruflichen Arbeit in diesem Bereich aus vielerlei Gründen den Rücken kehren. Vor allem wurden hier Ganzheitsansprüche für die eigene Person eingeklagt.

Der Sozialarbeiterberuf wurde als zu einseitig verkopft, versprachlicht erfahren. Man/frau war ganz einseitig Auffangbecken für die Probleme anderer, die eigenen hatten gefälligst draußen zu bleiben, wollte man/frau die Arbeitsfähigkeit nicht gefährden. Es war die Rede vom Bedürfnis nach "Rund-Sein". Dies Bild tauchte immer wieder auf in den Gesprächen. Das Bedürfnis nach handwerklicher, kreativer Tätigkeit wurde genauso stark betont wie der Wunsch, Arbeit nur noch als Gelderwerb zu begreifen und ansonsten viel Zeit zur Entfaltung nicht-beruflicher Interessen zu haben. Der Wille, mit der Sozialarbeit Schluß zu machen führte viele auch zum Einstieg in alternative, selbstverwaltete Arbeitsprojekte.

Die politischen Hoffnungen in die Praxis im Sozialbereich wurden als gescheitert angesehen. Der unmittelbare Arbeitsstreß war kaum mehr auszuhalten und man/frau war nicht mehr bereit, sich dem Ziel "Gemeinsam Leben, Lernen, Kämpfen" (mit den Klienten) zu opfern. Soviel zur Benennung der beiden Ebenen, wo "Ganzheitlichkeit" in der jüngeren Geschichte politisch aktiver Sozialarbeiter/innen wichtig geworden war.

Ausstiegsdiskussion

Zu dieser Ausstiegsdiskussion im Arbeitsfeld Sozialarbeit habe ich damals (1979) ein Papier geschrieben. Darin habe ich versucht - auf Basis der Diskussion mit Freunden und Freundinnen - diese Ausstiegstendenzen zu analysieren. Das Papier lief im großen und ganzen auf eine Kritik der Aussteiger/innen hinaus (ich sah sie aus der Politik aussteigen) und bot als Perspektive die "politische Notwendigkeit": das Durchhalten im alltäglichen Handgemenge in den Institutionen; das Verteidigen emanzipatorischer Ansätze von Sozialarbeit gegen die aufkommende konservative Wende.

Einiges, was ich in diesem Papier 1979 vertreten habe, kann ich heute nicht mehr teilen. Ich will versuchen, die Punkte zu benennen und auch zu sagen, warum ich das heute anders sehe. Im Nachhinein denke ich, daß der Wunsch, aus der Sozialarbeit auszusteigen mit dem Bedürfnis nach ganzheitlicher Betätigung mehr zu tun hatte als ich (und nicht nur ich) damals glaubte.

Diejenigen, die über die APO und die SPD-Reformära in die Sozialarbeit eingestiegen waren, verbanden mit ihrer Berufspraxis zweifellos revolutionäre Hoffnungen. Wir wollten den Kapitalismus abschaffen und damit auch die Sozialarbeit überflüssig machen. Die ganzheitliche Herangehensweise bestand also darin, die Probleme der Klienten als Probleme einer kapitalistischen Gesellschaft zu erklären. Dies ist im übrigen heute noch so richtig wie damals. Über eine parteiliche Sozialarbeit sollten die Schwächsten dieser Konkurrenzgesellschaft unterstützt werden, die paar Rechte, die ihnen zustehen, gegen die Bürokratie durchzusetzen. Sie sollten aber auch im Rahmen der Sozialarbeit mobilisiert werden, gemeinsam mit Intelektuellen und Arbeitern gegen die gesellschaftlichen Ursachen des psycho-sozialen Elends zu kämpfen.

Theoretisch begründet war dieses Konzept dadurch, daß sozialpädagogische Praxis ein Bereich gesellschaftlicher Arbeit ist, der nicht umstandslos und ohne Reibungsverluste staatlich verordnete Zwecke durchsetzt, sondern Chancen von Bewußtseinsveränderung und Verhaltensveränderung enthält. Dies wurde wiederum damit begründet, daß solche Arbeit ohne menschliche Beziehung zwischen Profi und Klient nicht auskommt.

Persönlich konnte so ein hohes Maß an Identifikation mit einer kritisch verstandenen Berufsrolle entstehen. Die Berufsarbeit konnte als unmittelbar politische verstanden werden - und Politik war bei uns auch Politik in der ersten Person. Wir wollten Emanzipation im Hier und Jetzt und nicht erst im Jenseits des sozialistischen Himmelreiches. Das gilt meiner Meinung nach auf jeden Fall für die, die sich zur undogmatischen Linken zählten. Diese Linke hatte ja - im Unterschied zu den verschiedenen Vertreterparteien der Arbeiterklasse - darauf beharrt daß l. das Ziel der Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung schon in der politischen Praxis sichtbar sein muß, 2. Politik sich auf unser und der anderen Menschen Alltagsleben zu beziehen hat und 3. emanzipatorische Bewegungen auch außerhalb des Bereichs des leninistischen Hauptwiderspruchs (Industriearbeit) entstehen können (Sozialbereich, Häuserkampf, Frauenbewegung, Naturzerstörung ...).

Und mit den hier grob benannten politischen Ansprüchen stand man/frau dann als Profi in einer sozialpädagogischen Praxis, deren Alltag nicht viel, oder nur in Ausnahmefällen, vom Ziel der Emanzipation durchscheinen ließ. Es gab Gründe, daß solche Ansprüche oft scheiterten, und sie wurden im Rahmen der Ausstiegsdiskussion auch erwähnt.

"Die in dieser Phase der Sozialbürokratie abgetrotzten Zugeständnisse (...) erwiesen sich zum größten Teil als kurzlebige sozialistische Inseln. Die Kurzlebigkeit überdeckte die oftmals vorhandene inhaltliche Ratlosigkeit bei den Sozialarbeiter-Genossen. Administratives Abwürgen der Arbeit durch Hinhaltetaktik oder Polizeieinsatz trug zu einer tendenziell aktionistischen Vorgehensweise bei, die wiederum eine realistische Auseinandersetzung mit Fragen verhinderte, was z.B. soll eigentlich nach der Erkämpfung eines Hauses im selbstverwalteten Jugendzentrum laufen?" (InfoDienst Sozialarbeit, Zur Strategie im Sozialbereich, S. 8, Offenbach 1976)

Hinzu kam noch, daß die Vorstellungen der Linken staatlicherseits in Reformen integriert wurden und eine technokratische Wendung erfuhren.

"Dies war einerseits Reaktion auf die politische Dynamik dieser Bewegung im Sozialbereich, andererseits war die sozialliberale Reformpolitik selber Ausdruck veränderter gesellschaftlicher Erfordernisse an die Sozialarbeit. Sozialarbeit konnte nicht mehr nur beschränkt bleiben auf Individualhilfe, auf Deklassierten-Verwaltung, sondern wurde projektiert als positive gesellschaftliche Sozialisationsinstanz. (...) Es wäre allerdings verkürzt, die Reformen allein als staatliche Reaktion auf geänderte objektive Erfordernisse (Qualifikationsniveau, Versagen familiärer Sozialisation, Versagen schulischer Sozialisation) zu begreifen. In die Reformmaßnahmen wurde auch die politische Kritik mit aufgenommen - allerdings in beschränkter Form: aus Selbstverwaltung u. Selbstorganisation wurde Mitbestimmung u. Bürgerbeteiligung." (Völker, 1979)

Ein Grund des Ausstiegs konnte also darin gesehen werden, daß der emanzipatorische Schwung in staatliche Reformen aufgesogen wurde und diese reformierte Sozialpädagogik dann auch noch in der Praxis scheiterte. Die ganzheitliche, gesamtgesellschaftliche Lösung jedenfalls war nicht mehr in Sicht. Und die eigene Emanzipation in der politischen Arbeit war so auch nicht mehr zu verwirklichen: Die Arbeitsbedingungen wurden zunehmend unemanzipatorisch. Wurden staatlicherseits dann auch noch Abstriche an Reformen gemacht, fand man/frau sich oft in der Rolle des/der normalen, kontrollierenden Sozialarbeiters/in wieder. Außerdem wurde man/frau manchmal schlicht von den Anforderungen der Klienten und den beständigen Mißerfolgen aufgefressen. Sich als ganzer, politischer Mensch in einer derartigen Arbeit einen (Lebens-)Sinn zu geben, erwies sich nicht nur als illusionär, sondern auf die Dauer auch als gesundheitsschädlich. Diese Arbeit und diese Politik hatte nichts mehr "Rundes", "Befreiendes" an sich. Sie war schlicht anstrengend und Entfremdung war nicht mehr nur das Problem der ausgebeuteten Klasse, sondern das eigene: Die sozialarbeiterische Berufspraxis hat die Macht, einen auf einen Beziehungsarbeitsexperten/in zu reduzieren. Diese Berufsarbeit hat die Macht, die eigene Person mit den psychosozialen Problemen der Klienten/der Gesellschaft zu überschwemmen. Statt zu Emanzipation führt diese Arbeit u.U. zu Kopfschmerzen und Streß.

Der Sysiphosarbeit ein Ende setzen

Das Bedürfnis, aus dieser Sysiphosarbeit auszusteigen kann ich heute nicht mehr kritisieren. Oder schwärmt jemand von Euch noch für Helden und Heldinnen der Sozialarbeit, die sich dem Traum von einer großen Sache opfern? Diesen Lebenssinn zu propagieren sollten wir getrost Herrn Geißler, Blüm, Oberpädagogen und manchen Kirchenleuten überlassen. Vor allen Dingen bleibt mir meine frühere Kritik auch im Halse stecken, betrachte ich die Perspektiven, die von mir als Alternative zum Ausstieg angepriesen wurden. Da war z.B. viel von "gewerkschaftlichen Möglichkeiten" die Rede. Gemeint waren damit vor allem radikale Arbeitszeitverkürzungen und Erleichterung der Arbeitsbedingungen z.B. durch Neueinstellungen. Abgesehen davon, daß diese gewerkschaftliche Perspektive ein Mehr an politisch notwendiger Arbeit bedeutet, die oft einfach über die Kraft der ausgepowerten Sozialarbeiter/innen hinausgeht, zeigte sich, daß gerade in Zeiten rigider staatlicher Sparpolitik die gewerkschaftlichen Möglichkeiten auf die bloße Verteidigung des Bestehenden zurückgeschraubt wurden. Und dann macht man/frau beständig die Erfahrung, daß vor allem in den helfenden Berufen die Ideologie der Hilfe und der persönlichen Beziehung, der Kontinuität der Beziehung zum Klienten ein Riesenbollwerk grad gegen Arbeitszeitverkürzungsideen bildet. Aber was noch wichtiger ist: Eine solche gewerkschaftliche Perspektive setzt einen festen Arbeitsplatz voraus, von dem ausgehend man/frau gewerkschaftlich aktiv werden kann. Und diese Voraussetzung haben doch grade linke Sozialarbeiter/innen in den letzten Jahren immer weniger. Meiner - zugegebenermaßen beschränkten - Wahrnehmung nach hat sich doch für uns das Feld der ungesicherten Beschäftigung enorm ausgedehnt. Wenn ich in den acht Jahren seit meinem Ausbildungsabschluß drei ABM-Stellen hatte und die restliche Zeit entweder arbeitslos oder für Honorar beschäftigt war/bin, so ist das sicher keine extreme Ausnahme. Staatlicherseits wurden jedenfalls immer mehr Sozialpädagogen auf den ABM-Parkplatz geschoben, wo sie meist mit der Betreuung anderer jugendlicher oder erwachsener Arbeitsloser beschäftigt wurden. Diese Ausweitung des zweiten Arbeitsmarktes, von Teilzeit- und Honorarbeschäftigung entzieht solchen gewerkschaftspolitischen Perspektiven völlig den Boden, und sie weiterhin blauäugig als Alternative zum Ausstieg anzupreisen, wird ein schlechter Witz.

Anzumerken bliebe noch, daß die Beschäftigung auf dem sog. zweiten Arbeitsmarkt auch eine Politik erschwert, die versucht, über eine kritisch verstandene berufliche Arbeit auf Dauer etwas in den Institutionen zu verändern. Der zweite Arbeitsmarkt ist nämlich nicht bloß ein Parkplatz, sondern, ist man/frau mal auf dem ABM-Zug gelandet, wird häufiges Umsteigen von ihm/ihr verlangt. Und wer ist unter solchen Bedingungen schon bereit, den Schwerpunkt der politischen Arbeit in der Berufspraxis zu sehen?

In der damaligen Ausstiegsdiskussion scheint es mir auch so gewesen zu sein, daß die politischen Möglichkeiten, die in einer Praxis außerhalb der Institutionen liegen, unterbewertet worden sind. Als Beispiel möchte ich nur anführen, wieviele Profis in den Arbeitsloseninitiativen aktiv sind. Bezahlte oder Nicht-Bezahlte. Daß dies auch nicht die befreiende Praxis ist, wissen die, die drin stehen wohl am besten. Das gleiche gilt für die, die in den Sektor der selbstverwalteten Betriebe ausgestiegen sind. Dieser Sektor hat ja inzwischen in manchen (Stadt-) Staaten der BRD ein nicht mehr zu vernachlässigendes Gewicht. Zwar wird versucht, diesen Zweig mithilfe der Ideologie eines neuen, jungen Unternehmertums oder neuer Selbstständigkeit in ein liberales Wirtschaftskonzept einzubauen, aber deswegen diese Experimente als falschen Weg zu denunzieren und sich über die Selbstausbeutung hämisch zu freuen, wird den Motiven, die Leute in die Alternativbetriebe gebracht haben, nun wirklich nicht gerecht.

Die Arbeit im alternativen Sektor oder in selbstorganisierten Initiativen bietet für viele auch einen Lustgewinn, den sie in einer traditionellen politischen Praxis nicht haben konnten: in diesen Bereichen können sie versuchen, an einer Kulturarbeit von unten teilzunehmen. Sei es, indem sie Kulturzentren selbstverwaltet bewirtschaften, sei es, indem sie als Initiativen Theater spielen o.ä. Daß es außerdem viele Pädagogen/innen gibt, die ihre Arbeit als Kulturarbeit im weitesten Sinne verstehen, ist für mich ein weiterer Beleg dafür, daß eigene kreative Interessen in der bisherigen Arbeit zu kurz gekommen sind. Parallel und nach der Ausstiegsdiskussion haben sich auch andere Formen von Politik entwickelt, in die wieder kräftig eingestiegen wurde. Ich meine damit nicht nur das Mitmachen in der vielzitierten Öko- und Friedensbewegung. Ich meine auch den Einstieg in die grüne Partei-Politik. Denn diese Form der Politik in den parlamentarischen Institutionen kann für den/die Einzelne/n auch eine entlastende Funktion haben, gemessen an früheren politischen Ansprüchen. Nicht mehr "Alles ist Politisch" oder "Ich bin für Alles zuständig und muß überall politisch eingreifen" heißt die Devise. In der Partei oder den Institutionen des Staates wird wieder nach "Fächern" sortiert, werden Zuständigkeiten delegiert, sodaß man/frau vom belastenden Gefühl befreit ist, überall vorn mit dabei sein zu müssen. Freilich liegt hierin die Gefahr, daß Politik wieder ein Fach für Spezialist(inn)en und Expert(inn)en wird. Aber es scheint das Sich-Wieder-In-Die-Politik-Einmischen eher zu erleichtern als ein Politikansatz, der einen, auch auf die eigene Person bezogenen, allumfassenden Anspruch erhebt. In meinen früheren politischen Zusammenhängen war das durchaus als Leistungsdruck nicht nur für neue "Sympis" zu spüren. Und daß für viele die politische Arbeit (eben!) mit Befreiungswünschen und Erlösungshoffnungen verbunden war, stimmt sicher auch. Das negative Ergebnis davon kann man/frau sich vor Augen führen, wenn die Hoffnungen vergegenwärtigt werden, die manche nun auf privates oder Therapie-Glück setzen:

"Viele (...) haben deshalb das Privatleben mit jenen Phantasien aufgeladen, deren Erfüllung in der Politik als nicht realisierbar erscheint. Im Psycho-Kult sollen die politischen Frustrationen ausgeglichen werden. Die messianische Weihung der Therapie ist Ausdruck solcher Hoffnungen. (...) Wenn schon keine Gesellschaftsform möglich ist, dann will man wenigstens die Wiedergeburt der eigenen Gefühle und des eigenen Körpers erleben." (J. Bopp, Psych-Kutt. Kleine Fluchten in große Worte, Kursbuch 82, S. 7l, Berlin 1985)

Ein politisches Rezept, mit solchen Hoffnungen umzugehen, kann ich nicht liefern. Ich bezweifle auch, ob das geht. Ich weiß nur, daß es das falscheste wäre, Politik wieder auf diesen klassischen, vernünftig-kühlen Bereich der institutionalisierten Politikfelder einzufrieren und die Hoffnungen woanders verbrennen zu lassen.

Allseitigkeit?

Schließlich denke ich, daß meine Kritik an den Aussteiger/innen auch eine im schlechten Sinn moralische Schlagseite hatte. Das Marx-Zitat von der allseitig entwickelten Persönlichkeit und gegen die Arbeitsteilung ging uns ja als Wunsch immer locker von den Lippen:

"Und endlich bietet uns die Teilung der Arbeit gleich das erste Beispiel davon dar, daß (...) die eigene Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht. Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will - während in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden. Dieses Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unsres eigenen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht, ist eines der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung, ..." (K. Marx, Deutsche Ideologie MEW3, S. 33)

Auf die industriellen Lohnarbeiter/innen bezogen hatten wir keine Schwierigkeiten, die Reduktion vom ganzen Menschen auf eine ausbeutbare Arbeitskraft schärfstens zu kritisieren. Aber auf unsre eigenen Berufe in der gesamtgesellschaftlichen Arbeitsteilung bezogen wir diese Kritik kaum. Zwar konnten wir uns klassenanalytisch im weitesten Sinn als staatliche Lohnarbeiter erklären und so unsren Standort im ökonomischen und staatlichen System ausmachen. Aber Entfremdung durch Arbeitsteilung, durch "Verberuflichung", wie es modern heißt, daß der Beruf zu einer "sachlichen Gewalt" über uns wird, der unsre Erwartungen und Wünsche durchkreuzt, das machten wir für uns nicht zum wesentlichen politischen Ansatzpunkt. Vielleicht lag es ja daran, daß wir damals studiert haben, noch dazu weitgehend unreglementiert und mit viel Zeit für allseitige Bedürfnisse. Dabei kann doch an nahezu jedem Beruf, sofern der/die Inhaber/in ihn nicht zur Berufung verklärt, deutlich gemacht werden, daß er eine Beschränkung auf den verschiedensten Ebenen (Zeit, Art der Tätigkeiten ...) bedeutet und mit den Möglichkeiten einer allseitigen Entwicklung von Fähigkeiten meist gar nichts zu tun hat. Von daher ist es kein Zufall, daß in den neueren Diskussionen, die unter den Stichworten "Krise der Arbeitsgesellschaft", "Zukunft der Arbeit" und "Mindesteinkommen/Existenzgeld" stattfinden dieser Punkt der Arbeitsteiligkeit und lebenslangen Berufsarbeit wieder zum Thema wird. Denn - mal abgesehen vom Problem der gesellschaftlichen Verteilung notwendiger Arbeit - wer von uns hat denn wirklich Lust, ein Leben zu führen, in dem ein Beruf, eine Arbeit zu der Erfüllung erklärt wird??? Das kann doch wirklich nicht alles gewesen sein. So gesehen wird uns das Problem von Allseitigkeit und Ganzheitlichkeit wohl noch des längeren erhalten bleiben:

  • als Problem, in der Berufspraxis Menschen auf einzelne Symptome hin zu definieren,
  • als Problem, in einer Berufsrolle nicht als ganze Person aufgehen zu wollen,
  • als Problem, in einer Berufsrolle auf eine Lebensäußerung zurückgestutzt zu sein,
  • als Problem, als politisch Aktive/r nicht auf die rationale Politikerrolle beschränkt zu werden,
  • als Problem, nicht irgendwelchen Ideologien auf den Leim zu gehen, die Ganzheit verheißen und bloß Unterwerfung unter bestimmte Prinzipien bedeuten,
  • als Problem, als Erwerbslose/r zwar über die Zeit, aber nicht über die materiellen Möglichkeiten einer vielseitigen Entwicklung zu verfügen.

Angesichts dessen ist es mit der Kritik an Ganzheitsphilosophien genausowenig getan wie mit politischen Durchhalteappellen.

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