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Heft 20: In der Wende – Sozialpolitik, Frauen, Bildung

1986 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 20
  • Oktober 1986
  • 96 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-038-0

Carl Wilhelm Macke

Staatskanzlei in schwerer Not
Edmund Stoiber über Frauen und Familie

"Er macht den Schwerenöter, spielt den Liebenswürdigen gegen Damen." (nach Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch Bd. 15, S. 2544, Leipzig 1899, Neuauflage München, 1984)

Ausgerechnet der Leiter der Bayrischen Staatskanzlei Edmund Stoiber habe, so können wir staunend einem ZEIT-Artikel vom 14. März 1986 entnehmen, auf einem Kolloquium der Deutschen Arbeitgeberverbände (ausgerechnet da) feministische und antikapitalistische Töne angeschlagen. Stoibers Rede im "Hotel Vierjahreszeiten" (ausgerechnet da) sei eine "Kapitalimuskritik von rechts" gewesen, die produktiv Habermassche Theoreme einer "Kolonisierung der Lebenswelt" durch die Ökonomie aufgegriffen und für die Konzeptionierung einer neuen Familienpolitik der CSU vereinnahmt hätte (vgl. ZEIT Nr. 12/1986). Stoiber liest Habermas, die "neue Unübersichtlichkeit" ist wirklich grenzenlos.

Dem rechtspopulistischen Opportunisten Stoiber ist zwar allerhand zuzutrauen, aber seiner Verwandlungsfähigkeit hin zu einem Kapitalismuskritiker und Politsoftie sind doch engere Grenzen gesetzt, als sie vielleicht DIE ZEIT wahrhaben will.

Da Stoiber sicherlich zu den nicht gerade einflußlosen konservativen Politikstrategen in der Bundesrepublik zählt und die von ihm repräsentierte Partei zwar einige folkloristische Eigenarten aufweist, aber in der Machtbalance der bürgerlichen Kräfte eine nicht untergeordnete Rolle spielt, lohnt es sich nicht nur mit getönter liberaler Brille den Text des potentiellen Strauß-Nachfolgers zu studieren.

Neben vielen Belanglosigkeiten eines Stehempfanggeplauders enthält die Rede von Edmund Stoiber auch Positionen, die zu den Essentials neokonservativer (Sozial-)Politik zu rechnen sind und die Linke ernstzunehmen allen Grund haben.

Seine Thesen zu den "familienpolitischen Aufgaben des Staates" sollen zunächst resümierend vorgestellt werden und dann in den größeren Kontext neokonservativer Politikstrategien in den achtziger Jahren gewürdigt werden.

Vater und Mutter und Lohnarbeiter

In den Mittelpunkt seines Diskurses stellt Stoiber den Konnex von Arbeitswelt und Familie. Es sei, so Stoiber, davon auszugehen, daß die real vorfindliche Organisation des familiären Lebens und speziell die Rolle der Frau in diesem Verband in einem zunehmenden Spannungsverhältnis zu den Anforderungen der Arbeitswelt geraten sei. Die Arbeitsgesellschaft sei von zwei Polen her in eine Legitimationskrise geraten, in deren Sog sich auch die Familie befände. Arbeitslosigkeit und Aussteigerbewegung hätten die Grundlagen der bisherigen Organisation der Arbeit in eine Erosion gezogen. Jenseits der aus der Sicht Stoibers gängigen und "richtigen" Erklärungen für das Entstehen von Massenarbeitslosigkeit (Ergebnis der politischen Fehler der siebziger Jahre, leistungsdiskriminierende Steuerpolitik, zu hohe Lohnnebenkosten) sei aber eine "Krise der Arbeitsgesellschaft" in einem viel umfassenderen Sinne zu orten. Es haben sich massenhaft Bedürfnisse herausgebildet, die ihre Befriedigung nicht mehr ausschließlich in der Arbeitswelt fänden und die jenseits des bloßen Broterwerbs lägen. Der Mensch heute würde eben nicht mehr vom Brot - sprich Geld - allein leben. Auf dieses "emotionale Lebensumfeld" haben sich die Unternehmer noch nicht oder zuwenig eingestellt. Der Mensch wolle wieder "haam nach Fürstenfeld" (oder, für die nicht-bayrischen Leser: zurück in die Heimat nach Edewechterdamm), wie Stoiber hier den Refrain eines populären Schlagers zitiert.

"Heimat, Vertrauen und Geborgenheit" würde die moderne Arbeitswelt eben nicht mehr bieten. Die mangelnde Arbeitsmotivation hätte hier eine ihrer zentralen Ursachen. Darauf müsse die Organisation der Arbeit eingehen, weil nur so von den Menschen die "steigende Anpassungsleistung an veränderte Arbeitsbedingungen" erbracht werden könnte. Wenn schon heute und in der Zukunft noch mehr von einer instabilen Arbeitswelt ausgegangen werden müsse, dann muß die Politik alles daran setzen, die Lebenswelt zu stabilisieren. Und im Zentrum des Stoiberschen Lebensweltbegriffes steht "die Familie". Hier erfahre der moderne Lohnarbeiter auch die lebensnotwendigen Heimatgefühle. Daß die Wirklichkeit dieser christ-sozialen Programmatik, sehr vorsichtig formuliert, nicht immer entspricht, sieht auch Stoiber. Er fordert deshalb von der Organisation der Arbeit her zu einer Renaissance der konservativen Vorstellung von Familie beizutragen. "Wenn wir die Familienerosion tatenlos hinnehmen, dann wird sich über längere Sicht auch das soziale Klima in unserer Gesellschaft abkühlen."

Konservative Familienpolitik im Spannungsfeld gesellschaftlicher Modernisierung

Für die Organisation der Arbeit müsse in Zukunft neben der Rolle des Lohnarbeiters auch die von "Vater und Mutter" gleich wichtig gesehen werden. Praktisch könne dies heißen, daß der Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen sowohl von Seiten der Gewerkschaften als auch von Seiten der Unternehmer, dem ersten Adressat des Stoiberschen Referates, mehr Offenheit gegenüber gezeigt werden solle.

Wie schon Geissler (unter anderer parteipoilitischer Flagge auch Glotz) nimmt Stoiber im weiteren Verlauf seines Diskurses vehement die Rolle des Parteifeministen ein und appelliert an die Unternehmer, die Arbeitswelt stärker "frauengemäß" zu gestalten. Andernfalls drohe ein "betrieblicher Feminismus". Der Frauenwunsch nach einer Emanzipation vom Kochtopf sei nicht mehr rückgängig zu machen. Dem müsse die Politik des Staates und des Kapitals (Stoiber spricht natürlich wesentlich distinguierter von den Unternehmen) Rechnung tragen. "Familienpolitik muß in Zukunft mehr sein als der finanzpolitische Ausgleich familienbedingter Lasten. Familienpolitik muß auch verstanden werden und gestaltet werden als Ordnungspolitik".

Soweit Stoibers Thesen, denen DIE ZEIT beinahe schon das Odium einer linksradikalen Wende der konservativen Familienpolitik verpassen wollte.

Wie aber sind die Thesen von Stoiber nun einzuordnen in das Projekt einer Etablierung und längerfristigen Stabilisierung konservativer Hegemonie in der Bundesrepublik? Stoiber ist zunächst einmal kein Analytiker, sondern in erster Linie ein leitender Staats- und Parteiangestellter. "Ich kann hier keinen Beitrag zur Welterklärung leisten. Es ist meine Aufgabe als Politiker, millimeterweise Weltveränderung zu bewerkstelligen." Konkreter: sein Augenmerk liegt demnach in der Absicherung politischer Macht durch Festigung bzw. Hinzugewinnung von Wählerklientele. Und selbst in Bayern gehören Frauen nicht (mehr) zum Stammklientel konservativer Parteien. Die Unionsparteien registrieren gerade bei den jungen Frauen, denen dann auch vor allem das Interesse Stoibers gilt, einen starken Zustimmungsschwund (vgl. etwa Hoffmann-Götting, 1986).

Mit einem wenig glaubwürdigen und durch die reale Politik auch diskreditierten "konservativen Feminismus" versuchen Geissler und Stoiber diese potentielle Wählergruppe wieder an sich zu binden. Dabei zeigt sich entgegen vielen allzu simplen linken und/oder feministischen Positionen, daß die konservative Familien- und Frauenpolitik nicht auf eine bloße "3-K-Politik" (Küche, Kirche, Kinder) zu reduzieren ist (vgl. etwa Schmidt, 1986). Von der Kirche ist bei Stoiber, dem katholischen Christ-Sozialen aus Bayern, nur in seinem pflichtgemäßen Rekurs auf die katholische Soziallehre die Rede und die Küche wird allenfalls als Synonym für eine intakte Familie genannt.

Stattdessen wird aber ein neues K, die Karriere, eingeführt. Im Leserinnenkreis von "Cosmopolitan" werden also auch von den Konservativen potentielle neue Klientele avisiert. Stoibers Plädoyer für flexible Arbeitsverhältnisse dürfte deshalb gerade in dem Kreis karrierebewußter Frauen des "neuen Mittelstandes" durchaus auf Sympathien stoßen.

Das mit einer Vielzahl von empirischen Untersuchungen belegbare Bedürfnis (und der häufige Zwang!) von Frauen, einer Berufsarbeit nachzugehen, wird programmatisch von der Union aufgenommen, um damit aber dann die auf rigide Arbeitsorganisationen fixierten Gewerkschaften in einen Legitimationszwang gegenüber Frauen zu bringen. Jeder, der Stoiber kennt, weiß, wie geschickt er seine Thesen nur vordergründig an die Arbeitgeber adressiert hat, tatsächlich aber die Gewerkschaften treffen will.

Indem Stoiber, um einen weiteren Topos aus seinem Diskurs aufzugreifen, der Familie eine so zentrale, alle Defizite der (kapitalistischen) Arbeitsorganisation kompensierende Aufgabe zuweist, überfordert er die sozialen Kleinverbände auch gleichzeitig. Die Familie soll die Stabilität sichern, die die Arbeitswelt nicht (mehr) sichern kann. Sie soll "Glückserfahrungen, Lebenssinn, Heimat, Vertrauen und Geborgenheit" vermitteln. Gleichzeitig aber - und da gerät die konservative Familienpolitik in die Fallstricke liberaler Unternehmensstrategien -

  • soll "das gewerkschaftliche Tabu Wochenendarbeit" hinterfragt werden,
  • sollen Flexibilisierungsstrategien
  • und Deregulierungen von Arbeitsverhältnissen akzeptiert werden, die destabilisierend auf die materielle Absicherung der Familie und deren Lebenszeitordnung wirken.

Ein weiterer zentraler Strang von Stoibers Thesen gehört mittlerweile zu den klassischen Grundlagen neokonservativer Politikformulierung. In der etablierten Wohlstandsgesellschaft sei das Reservoir an materiellen Werten erschöpft und es sei eine stete Zunahme nicht finanziell gratifizierbarer, diffuser emotionaler Bedürfnisse z.B. nach "Heimat", kleinen überschaubaren sozialen Kontexten (Familie, Sport, Spiel und Spannung) zu registrieren. Zweifellos haben diese tatsächlichen oder nur herbeizitierten Massenbedürfnisse mit zu dem Sozialstaatsunbehagen in der Endzeit der SPD-Reformära beigetragen oder anders formuliert: der durch und durch zentralistische und anonym funktionierende sozialdemokratische Sozialstaat hat aus seiner eigenen Logik heraus das Bedürfnis nach überschaubarer Dezentralität, nach finanziell nicht kompensierbarer "Nähe" produziert. Allerdings, so muß diese von Konservativen in der Regel sehr verallgemeinernde Aussage sogleich relativiert werden: diese qualitative Sozialstaatskritik ist stets vornehmlich von denjenigen sozialen Gruppen vorgetragen worden, die von den materiellen Transferleistungen weniger existenziell abhängig sind als z.B. Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose. Und da eben diese Gruppen in besonderem Maße Opfer der zunächst sozialdemokratischen und dann in verstärktem Maße konservativen Sparpolitik geworden sind, stellt sich die Frage, ob der Kritik an den emotionalen Defiziten des Sozialstaates immer noch ein so zentraler Stellenwert eingeräumt werden muß, wie es die Konservativen (und mit ihnen auch die liberale ZEIT) unterstellen: "Mit Gemüt und Seele gegen die modernen Sachzwänge - gemessen daran wirkt sozialdemokratische Gesellschaftskritik sehr rational - und ein bißchen verstaubt" (Zeit Nr. 12/1986). Es gibt keinen Anhaltspunkt, daß die konservative Emotionalisierung der Sozialpolitik tatsächlich die massenhafte Akzeptanz findet, wie sie von rechts und auch von links oft unterstellt wird.

Der Heimat-Rekurs gerade in der CSU-Programmatik, vordergründig eine geschickte Instrumentalisierung vorfindbarer Entfremdungsgefühle in der modernisierten Industriegesellschaft (Bayerns) ist gleichzeitig aber auch eine empfindliche Schwachstelle im konservativen Diskurs. Wer wieder ,,haam nach Fürstenfeld" will, wird nämlich auch in Fürstenfeld eine zubetonierte, konsumistische und durchmedialisierte Lebenswelt finden, die das Gefühl von "Heimat" nicht aufkommen läßt. Die "Synthese von Modernität und traditionaler Moral" (Richard Saage) als zentraler Bestandteil bürgerlich-konservativer Politikprogrammatik ist extrem zerbrechlich. In Bayern werden die Auseinandersetzungen um "Wackersdorf" oder die andauernden Bauernproteste auch von diesem Gefühl der materiellen und seelischen Enteignung durch die Modernität angereichert, ohne daß die traditionelle Moral diesen Verlust zu kompensieren vermag.

Die Opfer der Modernisierung

Wer will, um einmal das Problem zu pointieren, "wieder haam nach Wackersdorf"? Diese Defizite allein durch intakte Familien, flexible Arbeitszeiten und vermehrten Konsum ausgleichen zu wollen, ist ein auch die CSU überforderndes Projekt. Die CSU wird wie keine andere der bürgerlichen Parteien von den Spannungen zwischen Modernität und traditionaler Moral durchzogen und geprägt. Kann sie diese Balance nicht mehr aufrechterhalten - was ihr gegenwärtig offensichtlich schwerfällt - muß sie entweder ihre Politik ändern oder mit anderen, repressiveren Mitteln ihr Modernisierungsprojekt durchzusetzen versuchen. "Wenn die These zutrifft, daß die spätbürgerliche Gesellschaft zunehmend den vorkapitalistischen Traditionsbestand, dem sie bisher ihre Integration entscheidend mit verdankt, verbraucht, stehen diejenigen, die dennoch deren Stabilisierung durch die rückwärtsgewandte Wiederbelebung traditionaler Wertvorstellungen erhoffen, vor einer unausweichlichen Konsequenz: in dem Maße, wie sie nicht mehr mit einem 'naturwüchsigen Konsens' rechnen können, sind sie in einer nicht mehr traditionalen Gesellschaft gezwungen, ihren Tugendkodex auf repressivem Weg verbindlich zu machen" (Saage, 1983, 245).

Von der Kindererziehung bis zum polizeilichen Gaseinsatz lassen sich hier eine Vielzahl von Umsetzungsfelder für diese konservative Repressionspolitik denken - und in der Realität ja auch schon beobachten!

Die Rede Stoibers, die auch als Zusammenfassung der aktuellen CSU-Familienpolitik gelesen werden kann, ist entgegen der Interpretation in der ZEIT kein Dokument einer neuen Offensive der Konservativen auf dem Terrain zwischen Familie-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Sie weist eine Reihe von Blößen auf, die für die Selbstdarstellung der sich stets gerne als unangreifbar aufplusternden CSU eher ungewöhnlich sind und die das konservative Politikprojekt in der Bundesrepublik als fragiler erscheinen lassen, als es nicht zuletzt in der Linken oft diagnostiziert wird: Den Konservativen fehlt in wichtigen Bevölkerungsgruppen wie den (jüngeren) Frauen, den Bauern, großen Teilen der Arbeiter und den marginalisierten Gruppen eine stabile Akzeptanz ihrer Politik. Die faktische Ausgrenzung der Gewerkschaften (zumindest der eher konfliktbereiten Teile) aus ihrem Projekt einer "Modernisierung der Volkswirtschaft" schafft soziale Unruhe, die sich auch in politischen Wahlen negativ für die CDU/CSU auswirkt. Der konservative Fortschrittsbegriff wird mit jedem technologischen Großprojekt mehr in den eigenen Klientelkreisen infragegestellt. Auf die "Grünen" wird unter anderem deshalb so eingedroschen, weil deren ökologischer Radikalismus z.T. auch in traditionell konservativen Wählerkreisen auf Sympathien stößt.

Der emotionale Diskurs, einst eine Stärke konservativer Sozialstaatskritik, beginnt sich unter dem Eindruck der Folgeschäden bürgerlicher Politik in der Regierungsverantwortung, gegen sie selbst zu wenden. "Heimat", eine scheinbar durch und durch konservativ besetzte Vokabel, wird zunehmend zu einem Kampfbegriff einer noch diffusen, aber keineswegs ausschließlich reaktionären Koalition von Opfern der ökonomischen Modernisierung" (Dubiel, 1985, 650).

Es ist noch völlig offen, wohin sich in der Bundesrepublik die neokonservative Politik entwickeln wird. Ein populistisch-autoritärer Sog mit geschickter Integration von Teilen des "neuen Mittelstandes" nach dem CSU-Modell ist genauso denkbar wie ein moderaterer, sozialintegrativer "Konsens-Konservativismus" nach den Vorstellungen eines Späth oder Biedenkopf oder Remmers.

Die Linke hat aber nur dann eine wirkliche Chance im Kampf um die Hegemonie in allen gesellschaftlichen Sektoren aus der z.T. selbst verschuldeten Defensive herauszukommen, wenn sie sich in der Auseinandersetzung mit den Konservativen einer nur plakativen Kritik enthält, die vielen Fragen der Neokonservativen auch als Fragen an sich selbst versteht (vgl. Dubiel, 1985, 15) und den Kampf auch um scheinbar eindeutig konservativ besetzte Begriffe und Optionen (wie z.B. Heimat) führt. "Die im industriellen Modernisierungsprozess unterdrückten Bedürfnisse nach Naturnähe und überschaubaren Lebensräumen sind in der deutschen politischen Kultur immer von der politischen Rechten mobilisiert worden - sind es deshalb auch rechte Bedürfnisse, wenn sie heute von neuen sozialen Bewegungen aktualisiert werden?" (Dubiel, 1985, 649)

Die Produktion von Opfern, materiellen wie seelischen, ökologischen wie regionalen, ist konstituierend für die gesellschaftliche Modernisierung, der sich die konservative Politik in den letzten Jahren verschrieben hat. Auch der traditionelle Familienverband, dessen Erhalt eine der vornehmsten Aufgaben der konservativen Politik ist, gerät zunehmend in den Erosionssog der Modernisierung. Dagegen versucht Stoiber einen Damm aus porösen Sandsäcken liberaler Arbeitszeitpolitik (Flexibilisierung) und katholischer Soziallehre (Zentralität der Familie) zu errichten. Wie aber müßte eine linke Antwort für die Opfer der Modernisierung aussehen, die über die Verteidigung fragil gewordener sozialer kleiner Netze wie der Familie hinausgeht? Wenn auch mit allzu durchsichtigen parteipolitischen Motiven hat Peter Glotz hier zumindest die richtigen Fragen formuliert: "Was aber geschieht mit der jungen Familie, deren (zwei) Ernährer zwar nicht mehr in die Kernbelegschaften, also in die faktisch unentlaßbaren, unentbehrlichen Kader der krisensicheren Industriezweige oder auf Planstellen der öffentlichen Verwaltung vordringen, aber eben doch ihr Leben - wenn auch ungesichert - fristen können? Mit Menschen also, die befristet oder auf Teilzeitstellen beschäftigt werden, eine nur schmale Alterssicherung erarbeiten können, aber eben doch nicht ausgestoßen sind? Wird die Linke, so wie sie heute organisiert ist, so wie sie heute auf kulturelle Bedürfnisse der Massen reagiert, so wie sie heute in den Medien repräsentiert ist, diese Menschen erreichen": (Glotz, 1986, 8). Oder, um den weniger schamlos in den theoretischen Revieren der Linken wildernden Jürgen Habermas zu zitieren: "Die entscheidende politische Frage der nächsten Jahre wird es sein, ob (das Thema der gesellschaftlichen Spaltung, CWM) aus der Öffentlichkeit herausgehalten oder zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen gemacht wird - und welche Seite, wenn das Problem thematisiert wird, sich durchsetzt" (Habermas, 1985, 70).

Mit eigenen Worten und das Bild aus dem Grimmschen Wörterbuch wieder aufnehmend: kann die Linke im Prozeß der "Modernisierung der Volkswirtschaft" mehr als nur den Schwerenöter gegenüber deren Opfer spielen?

C.-W. Macke, Sozialwissenschaftler, Nymphenburgstr. 69, 8000 München 20

Literatur

  • DUBIEL, H.: Was ist Neokonservatismus? Frankfurt/M. 1985
  • Ders.: Das Gespenst des Populismus. in MERKUR 438, 1985, S. 639-651
  • GLOTZ, P.: Die Bedeutung Antonio Gramscis für eine neue Strategie der europäischen Linken. in: ÄSTHETIK UND KOMMUNIKATION, 61/62, 1986, S. 5-13
  • HABERMAS, J.: Die neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt/M. 1985
  • HOFFMANN-GÖTTING, J.: Es sind die Frauen, die die Wahl entscheiden. in FR 12.5.1986, S. 14
  • SAAGE, R.: Rückkehr zum starken Staat? Frankfurt/M. 1983
  • SCHMIDT, R.: Warum die CDU die Frauen entdeckt hat. in SOZIALISMUS 2-86
  • STOIBER, E.: Familienpolitische Aufgaben des Staates. Unveröffentl. Mskpt. München 1986

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