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Heft 19: Archipel Knast – Gefängnis als Gesellschaftspolitik

1986 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 19
  • August 1986
  • 176 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-036-4

Zu diesem Heft

Die rote Fahne. (Berlin) vom 18. November 1918

Rücksichtsloseste revolutionäre Tatkraft und weitherzigste Menschlichkeit. Dies allein ist der wahre Odem des Sozialismus. Eine Welt muß umgestürzt werden, aber jede Träne, die geflossen ist, obwohl die abgewischt werden konnte, ist eine Anklage, und ein zu wichtigem Tun eilender Mensch, der aus roher Unachtsamkeit einen Wurm zertritt, begeht ein Verbrechen. (Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 4, Berlin (DDR) 1974, S. 406)

Mit diesen Worten endet ein Artikel von Rosa Luxemburg zur Strafrechtsreform. Bei aller Sympathie für ihren Schluß bleibt sie traditioneller linker Argumentation verhaftet: Natürlich ist sie für die sofortige Abschaffung der Todesstrafe, aber ein neues Strafrecht kann es erst nach der Revolution geben - bis dahin müssen wir es reformieren. Daß dieser Automatismus historisch nicht stimmt, daran soll unser Titel - Archipel Knast - erinnern. Er soll aber auch dafür den Blick schärfen, daß unser Knast-Archipel (Foucault) in der BRD genauso ein Brennspiegel gesellschaftlicher Verhältnisse ist wie der Archipel Gulag für die stalinistische Herrschaft.

"Das Kerkersystem, das vom eigentlichen Zuchthaus bis zu dem diffusen und leichten Erfassungsprozeduren reicht, kommuniziert ein Machttyp, den das Gesetz bestätigt und die Justiz als ihre bevorzugte Waffe einsetzt.

[...] Das Gefängnis setzt an den ihm Anvertrauten eine Arbeit fort, die anderswo begonnen worden ist, und von der gesamten Gesellschaft mit unzähligen disziplinaren Mechanismen an jedem einzelnen fortgeführt wird. Dank dem Kerker-Kontinuum schleicht sich die Instanz, die verurteilt, zwischen alle Instanzen ein, die kontrollieren, modifizieren, korrigieren, bessern.

[...] Die Normalitätsrichter sind überall anzutreffen. Wir leben in der Gesellschaft des Richter-Professors, des Richter-Arztes, des Richter-Pädagogen, des Richter-Sozialarbeiters; sie alle arbeiten für das Reich des Normativen.

[...] In dem Maße, in dem die Medizin, die Psychologie, die Erziehung, die Fürsorge, die Sozialarbeit immer mehr Kontroll- und Sanktionsgewalten übernehmen, kann sich der Justizapparat seinerseits zunehmend medizinisieren, psychologisieren, pädagogisieren.

[...] Inmitten dieser immer dichter werdenden Normalisierungsnetze verliert das Gefängnis an Bedeutung." (Michel Foucault, Oberwachen und Strafen, Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt 1977, 2. Auflage, S. 390 bis 395)

Die Politik in und mit dem Gefängnis ist als zentraler Mechanismus gesellschaftlicher Reproduktion zu begreifen. Dies zu verdeutlichen, zieht sich als Anspruch wie ein rotes Band durch alle Artikel des Heftes. Es wird zu prüfen sein, ob das Gefängnis tatsächlich an Bedeutung verliert - der quantitative Ausbau spricht auf den ersten Blick dagegen - oder ob sich der gesamte Disziplinarmechanismus um das Gefängnis herum "nur" auf einer neuen Stufe der Kontrolle etabliert.

Der größte Teil der Beiträge ist nicht speziell für dieses Heft geschrieben worden, sondern besteht aus Vorträgen, die auf der 13. Konferenz der "European Group for the Study Deviance and Social Control" in Hamburg im September 1985 gehalten wurden. Thema der Veranstaltung war der in fast allen Staaten zu beobachtende Gefängnisausbau. Die "European Group" ist ein Zusammenschluß von fortschrittlichen linken Wissenschaftlern. Sie ist eine der wenigen noch international arbeitenden Gruppen in der Nachfolge der "Studentenrevolte" ist und sieht es u.a. als ihr Ziel an, neue gesellschaftliche Formen des Umgangs mit Konflikten und Lebenskrisen zu propagieren und zu praktizieren, die zugleich eine emanzipatorische Perspektive beinhalten und praktische Kritik an den herrschenden Staatsapparaten üben (vgl. dazu den nachstehenden Aufruf zur Teilnahme am 14. Kongress dieser Gruppe in Madrid).

Den Anfang machen drei Artikel von Insidern - also von Insassen. Zunächst dokumentieren wir den Beitrag von Peter-Jürgen Boock, den dieser - "natürlich" - nicht selbst halten konnte, sondern der auf der Konferenz verlesen wurde. Danach dokumentiert die Unterstützergruppe für Peter-Jürgen Boock den Stand des Prozesses, der im Mai wieder aufgenommen wurde. Helmut Schick berichtet von den täglichen Schikanen im Vollzug, Denis Pecic stellt eine Initiative vor, die verhindern will, daß Mütter mit kleinen Kindern (aber auch Väter) in den Knast geschickt werden; Johannes Feest dokumentiert den "Fall" Denis P.

Bevor wir uns mit den Gefängnispolitiken in den verschiedenen Ländern beschäftigen, führt Thomas Mathiesen acht Argumente auf, die international gegen den Bau weiterer Gefängnisse sprechen. Zwar sind die politischen Situationen in den USA, in Großbritannien und in den Niederlanden unterschiedlich, aber James G. Fox (USA), Joe Sim (Großbritannien) und Willem de Haan (Niederlande) belegen doch eine gemeinsame Tendenz: Die Herrschaft will mit aller Macht die Gefängnisse ausbauen - und tut es, wenn auch die Begründungen unterschiedlich sind.

Zur Situation der kriminalpolitischen Diskussion in der Bundesrepublik gibt Timm Kunstreich einen Überblick in Form einer Sammelbesprechung.

Daß eine Facette des "Behandlungsvollzuges" und der Ideologie von "Resozialisierung" der Hochsicherheitstrakt ist, wird häufig vergessen. Eher verdrängt wird hingegen die Tatsache, daß diese Trakte zugleich jede fundamentale Opposition bedrohen und daß es deshalb ziemlich gleichgültig ist, ob wir die Motivation der politischen Gefangenen teilen oder nicht: Die Disziplinarmechanismen formen nicht nur den Körper und die Seele, sondern auch die Gesinnung. Wie wichtig die Entwicklung von Gegenmacht für die Situation der Gefangenen ist, beweisen die Gespräche mit Angehörigen von politischen Langzeitgefangenen in Nordirland: Bill Rolsten und Mike Tomlinson stellen die Frage nach dem individuellen oder politischen Überleben. Die Frage der "Andersbehandlung" der politischen Gefangenen ist auch bei uns kontrovers. Helmut Janssen stellt die Geschichte des politischen Gefangenen in Deutschland vor, - eine Analyse, die uns davor warnen soll, kurzatmig politische und soziale Gefangene gegeneinander auszuspielen. Die beiden folgenden Artikel reflektieren eine Kontroverse, ohne daß sie explizit genannt wird. Wie verhalten wir uns zu den Gefangenen aus der RAF? Michael Schubert, Anwalt von Christian Klar, stellt die "Terroristenrechtsprechung" in den Zusammenhang mit der Entwicklung des internationalen Kriegsrechts und dessen Aushöhlung durch die führenden imperialistischen Staaten. Sebastian Scheerer geht der Frage nach, welche Perspektiven eine Amnestiekampagne zur Befreiung der politischen Gefangenen haben könnte.

Gerade in der Diskussion um die politischen Gefangenen flackert immer das auf, was auch bei den Linken noch längst nicht verarbeitet ist: das Strafbedürfnis. Heinz Steinert setzt sich in einem Gutachten, das er für die AL Berlin geschrieben hat, damit auseinander. Vor diesem Hintergrund versucht Timm Kunstreich kriminalpolitische Folgerungen zu ziehen: Wie kann man das Knastsystem abschaffen, ohne zugleich subtilere Formen der sozialen Kontrolle zu entwickeln, und wie lassen sich neue gesellschaftliche Konzepte der Konfliktregelung und Konfliktlösung durchsetzen? Exemplarisch verdeutlichen Marlit Klaus und Sabine Tengler die damit angeschnittene Problematik in einem Plädoyer für gesellschaftliche Alternativen zum Strafrecht - beispielsweise auch im Fall von Gewalt gegen Frauen.

Die Produktion dieses Heftes war aufwendig. Viele Genossinnen und Genossen haben an den Übersetzungen und an den Korrekturen mitgearbeitet. Wenn manches nicht so professionell klingt, möge der geneigte Leser es bitte verzeihen.

Wer an den Originaltexten (englisch) interessiert ist, sowie an den anderen Beiträgen, die auf der Konferenz in Hamburg gehalten wurden, wende sich an: Timm Kunstreich

c/o Aufbau- und Kontaktstudium Kriminologie
Jungiusstr. 6
2000 Hamburg 36

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