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Heft 13: Familie und "Familie" – Realität und Ideologie

1984 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 13
  • Dezember 1984
  • 128 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-031-3

Timm Kunstreich

"Die heilige Familie" oder Familie und "Familie"
(Statt eines Editorials)

Daß Menschen nicht als "reine Ichs", sondern "als Individuen auf einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer Produktivkräfte und Bedürfnisse in Verkehr treten, in einen Verkehr, der seinerseits wieder die Produktion und Bedürfnisse bestimmt(e)", hat zur Folge, daß "es eben das persönliche, individuelle Verhalten der Individuen, ihr Verhalten als Individuen zueinander, (ist), das die bestehenden Verhältnisse schuf und täglich neu schafft." (MEW, Bd. 3, S. 423)

Diese wechselseitige Abhängigkeit von Verhalten, Handeln, Bedürfnissen und Produktivkräften hat weiter zur Folge, daß es spekulativ wäre, anthropologisch konstante Grundbedürfnisse anzunehmen: Bedürfnisse und ihre Befriedigung existieren nur als spezifische in einer vorgegebenen Gesellschaftsform.

Wenn wir also Bedürfnisse nach Sexualität, Intimität, Vertrauen, Bestätigung usw. haben, aber auch nach Essen, Schlafen, nach Gesprächen, oder aber auch nach Dominanz, Streit, körperlicher Gewalt und "Psycho-Terror", bietet unsere Gesellschaftsform nur eine, allen Gesellschaftsmitgliedern zugängliche Form an: die Familie.

An dieser irritierenden Vielfalt von Zweck- und Sinnbestimmungen entzünden sich dann regelmäßig heiße Diskussionen und tiefgehende Meinungsverschiedenheiten. Es scheint fast so, als ob jeder seine Familienerfahrung für die einzig richtige hält. Ist Familie nun "emotionales Gegenmilieu" gegen die kalte, technisierte Gesellschaft oder "Terrorzusammenhang" zur funktionalen Zurichtung des Nachwuchses in einer auf Ausbeutung und Unterdrückung basierenden Gesellschaft? oder beides? - oder keines von beiden, sondern von jedem etwas? je nachdem?

Jede dieser Fragestellungen geht davon aus, daß so etwas wie eine einheitliche Struktur Familie tatsächlich existiert. Auf unserer Suche nach Antworten auf die Fragen stießen wir auf den Bericht eines Ethnologen aus einer anderen Zivilisation, der vielleicht etwas Licht in die Fragestellung bringt:

Aus der Sicht einer anderen Zivilisation

"Als Gegenstand meiner Studien wählte ich den Stamm der Deutschen, ein Volk, das die Mitte Europas bewohnt, das eine interessante Geschichte hat und das eine für meine Aufgaben ausreichende sozio-ökonomische Gliederung aufweist ... (Es folgen weitere Erläuterungen, die uns hier aber nicht interessieren sollen) ...

Besonders verwirrend war für mich das Zusammenleben der Eingeborenen. In Häusern der vielfältigsten Art eingezwängt, leben sie in monadenförmigen Abteilungen, die sie "Wohnungen" nennen. Jede Wohnung beherbergt mindestens einen Menschen, meistens aber mehrere. Es gibt auch sehr große, die heißen dann: Gefängnis, Krankenhaus, Kaserne. Um einen Gliederungsgesichtspunkt in diese Vielfalt zu bekommen, zählte ich, wieviele Menschen in welcher Form zusammenleben. Um mir einen ersten Überblick zu verschaffen, besuchte ich alle Menschen in einer Straße einer mittleren Stadt. Viele Eingeborene waren ängstlich und ließen mich nicht ein, die meisten allerdings gaben bereitwillig Antwort, als sie von meiner Herkunft hörten.

Im ersten Haus traf ich eine junge Frau, die mir erzählte, daß sie zwei Kinder hätte und ihr Mann "auf Arbeit" sei. "Arbeiten" nennen die Deutschen fast alle Tätigkeiten, meistens jedoch nur solche, für die sie Papier und Metallteile ("Geld") bekommen, welche sie dann wieder gegen Lebensmittel und andere Güter tauschen. (Ein aufwendiges und erstaunlich kompliziertes Verfahren, dessen Sinn mir - wie so vieles - erst nach langer Zeit aufging.) Zum Abschluß fragte ich sie, ob sich ihr Leben von dem anderer Menschen unterscheide. "Nein, wir führen ein ganz normales Familienleben," war die Antwort. Hier fiel zum ersten Mal das Wort "Familie", das mich in der Folgezeit noch so verwirrte.

In der nächsten Wohnung traf ich eine Frau, die gerade auf dem Weg zur Arbeit war. Sie war nervös, da ihr Sohn (13 Jahre), mit dem sie zusammenwohnte, noch nicht zu Hause war. "So etwas bringt das ganze Familienleben durcheinander" war ihr Kommentar. Aha, dachte ich, "Familie" hat also etwas mit Arbeiten und Kinderversorgung zu tun. Weit gefehlt, in der nächsten Wohnung traf ich ein älteres Paar, das nicht mehr arbeitete und bei dem auch keine Kinder mehr wohnten. Die beiden jammerten, wie undankbar doch ihre Kinder seien, da sie nur noch selten zu Besuch kämen. Es sei gar kein richtiges Familienleben mehr. "Aber Frau L., die über uns wohnt, ist ja noch schlechter dran, die hat gar keine Familie", trösteten sie sich. Frau L. aber machte überhaupt keinen traurigen Eindruck. In einer Schar von Katzen saß die alte Frau und strahlte: "Das ist meine Familie!"

Nun war ich ganz verwirrt, aber umso entschlossener, das Geheimnis zu lüften.

Das zweite Haus war fast so groß wie das erste, aber es wohnten nur drei Menschen darin. Ein Mann, eine Frau und deren Tochter. Der Mann "arbeitete" auch in dem Haus - als "Rechtsanwalt" ... (Es folgt eine längere Ausführung über das "Streit- und Konfliktregelungswesen" bei den Deutschen, die vermuten läßt, daß es derartige Spezialisierungen im Herkunftsland des Berichterstatters nicht gibt) ... Dieser Mann verdient also viel Geld damit, daß die Leute ihre Konflikte nicht selbst regeln dürfen. Tagsüber arbeiten noch zwei weitere Frauen in dem Haus. Auf meine Frage, ob diese denn auch zur Familie gehörten, wurde die Frau ganz ärgerlich, und er lief rot an und zischte: "Natürlich nicht!"

An diesem Tag traf ich noch viele Menschen in den unterschiedlichsten Situationen an, eine junge Frau, die sich häufig bei ihren Freunden aufhält; einen Mann, der ganz für seine Arbeit lebt; eine Frau mit fünf Kindern, einige Paare ohne Kinder - alle in unterschiedlichem Alter, in unterschiedlichen sozialen und Arbeitsverhältnissen; einige mit viel Kontakt zu anderen Menschen, andere mit wenig.

Gegen Abend traf ich auf eine Lebensform, die ich noch nicht angetroffen hatte: Vier junge Leute, noch alle in der Ausbildung, wohnten zusammen. Sie nannten es "Wohngemeinschaft". Ich kam wohl in einem ungünstigen Moment, denn als ich in die Küche kam, rannte eine Bewohnerin raus und fluchte im Vorbeigehen: "Die sind doch alle familiengeschädigt."

Das reichte mir nun für's erste. Um nun endlich Ordnungsgesichtspunke für die Vielfalt dieser Lebensformen zu finden, ging ich in eine "Universität" (so nennen die Deutschen die Einrichtungen, in denen sie das Wissen, das ihnen zugänglich ist, monopolisieren).

In den nächsten zwei Wochen betrieb ich "Literaturstudien" und beschäftigte mich vor allem mit "Familiensoziologie" ... (Es folgen erklärende Ausführungen, die die Schlußfolgerung zulassen, daß der Autor unsere Hochschulen für etwas verrückt hält) ... Fazit: Die vielen Autoren sind sich nicht einig, was denn "Familie" sei und keine Untersuchung verallgemeinerte meine Beobachtung der vielfältigen Lebensformen.

Ich begann an meiner Wahrnehmung zu zweifeln - bis ich auf eine Statistik stieß, die 270 verschiedene Familienformen aufwies. Auch wenn daraus nichts vom Reichtum der tatsächlichen Lebenslagen hervorgeht, vor allem was Kontakte und Beziehungen zu anderen Menschen angeht, so schien mir hier doch ein erster Ausgangspunkt gewonnen zu sein. Die wichtigsten Aussagen:

- "Familie" ist, wenn zwei Erwachsene "rechtlich legitimiert" zusammenleben, "Ehepaare" (mit und ohne Kinder) oder zusammengelebt haben (verwitwet oder geschieden); wenn ein Erwachsener mit einem oder mehreren Kindern zusammenlebt.

- 1981 gab es 22,8 Mio. derartige Einheiten, davon leben 14,4 Mio. ohne Kinder und 8,4 Mio. mit Kindern unter 18 Jahren (63 % : 37 %)

- Von den 14,4 Mio (= 100 %) Einheiten ohne Kinder bestanden

  • 4,3 Mio. aus alleinstehenden, nicht erwerbstätigen Frauen (29,8 %), von denen 3,9 Mio. verwitwet waren
  • 3,5 Mio. Einheiten aus nicht erwerbstätigen Ehepaaren (meistens ehemalige Arbeiter, Angestellte, Beamte) (24,3 %)

- Von 8,4 Mio (= 100 %) Einheiten "Familie" mit Kindern unter 18 Jahren bestanden

  • 2.734.000 aus Arbeiterehepaaren mit einem Kind oder zwei Kindern (32,5 %)
  • 1.945.000 aus Angestelltenehepaaren mit einem oder zwei Kindern (23,2 %)

(Wir haben diese Zusammenfassung aus dem Mikrozensus 1981 (Stat. Bundesamt 1982) stark gekürzt, da Volker Teichen in seinem Artikel auf diese und andere Daten noch genauer eingeht - Die Redaktion.)

Aus diesen dürren Daten geht noch nichts über Alter und Lebenserfahrung, über die Unterschiede von Stadt und Land und - vor allem - nichts über Inhalt und Qualität der Lebenszusammenhänge der Menschen hervor. Aber immerhin vermitteln sie einen ersten Eindruck der von mir wahrgenommenen Vielfalt. Warum in der Statistik zwar alleinlebende Menschen, die einmal eine Frau oder einen Mann als Ehepartner hatten, als Familie aufgeführt sind, aber nicht alleinstehende Menschen, die "Kinder" waren, ist unlogisch, aber ich fand keine Erklärung dafür.

Als ich die Statistik wieder in die Bibliothek brachte, stieß ich - zufällig? - auf ein kleines Bändchen: Ronald D. Laing, Politik der Familie. Schon die Überschrift des ersten Essays fesselte mich: Die Familie und die "Familie". Sollte es zwei Arten von Familie geben? War ich die ganze Zeit einer völlig falschen Fährte gefolgt? Nach der Lektüre fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Es gibt tatsächlich zwei Arten von Familie. Die eine entspricht der reichhaltigen empirischen Vielfalt, wie ich sie zu skizzieren versuchte, die andere besteht in der Vorstellungswelt der Menschen. Diese ist mit einer Brille vergleichbar, die nur einen schmalen Ausblick hat, und durch diese Brille gesehen, hat "Familie" allerdings etwas Strukturhaftes. Und da jeder Mensch irgendeine Form von "Familie" verinnerlicht hat - auch wenn er keine Familie hat - sieht er überall immer nur "Familie"(l). Oder wie Laing sagt:

"Wir sprechen von Familien, als ob wir alle wüßten, was Familien sind. Als Familien identifizieren wir Netzwerke von Leuten, die für bestimmte Zeitabschnitte zusammenleben und die durch Ehe oder Blutsverwandschaft miteinander verbunden sind. Je mehr man Familiendynamik untersucht, desto unklarer wird einem, wie Familiendynamik im Vergleich und im Gegensatz zu der Dynamik anderer Gruppen, die nicht Familien genannt werden, aussieht, ganz zu schweigen davon, wie sich Familien selbst unterscheiden. Und was auf die Dynamik zutrifft, gilt auch für die Struktur (Gesetzmäßigkeiten, stabiler und dauerhafter als andere): Vergleiche und Verallgemeinerungen müssen sehr zurückhaltend bleiben.

Die Dynamik und die Strukturen, die in jenen Gruppen gefunden werden, die in unserer Gesellschaft Familien genannt werden, sind vielleicht in den Gruppen, die zu anderen Zeiten und an anderen Orten Familien genannt werden, nicht so offenkundig. Es ist unwahrscheinlich, daß in verschiedenen Gesellschaftssystemen oder auch nur innerhalb unserer eigenen Gesellschaft die Familiendynamik und -Struktur für die Persönlichkeitsbildung gleichbleibend relevant ist.

Die Familie, die hier besprochen wird, ist die urspüngliche Familie, die durch Verinnerlichung, Aufteilung und andere Operationen in die "Familie" verwandelt und zurück auf die Familie und anderswohin abgebildet (mapped) wird. Es geht in diesem Kapitel um die Beziehung zwischen den wahrnehmbaren Strukturen der Familie und den Strukturen, die als Teil der "Familie" als ein Set von Beziehungen und Operationen zwischen ihnen fortbestehen. "(S. 13/14)

Im folgenden entfaltet Laing die differenzierte Systematik von Projektionen und Introjektionen, die ich im Anhang zusammengefaßt habe. (Anm. der Red.: Der/Die geneigte/r Leser/in möge diese 30 Seiten selbst lesen). Nur noch ein Zitat zur Verdeutlichung:

,,Die 'Familie', die auf die Familie abgebildet oder auf andere Situationen übertragen wird, ist nicht einfach ein Set introjizierter Objekte, sondern eher eine Matrix für Dramen, Modelle von Raum-Zeit-Sequenzen, die nachzuspielen sind. " (S. 33)

Ich war froh und dachte, daß ich nun alles wüßte. Da kam wieder nagender Zweifel auf. Warum aber diese Stabilität von Familie und "Familie"? Wenn es richtig ist, daß das Sein das Bewußtsein bestimmt, konnte es in diesem so wichtigen Fall umgekehrt sein? Wenn nicht, was hatte ich übersehen? Ich sah noch einmal meine Unterlagen durch. Natürlich! Bei meinem Versuch "Familie" zu verstehen, hatte ich mich immer wieder über die vielen Rechtsbestimmungen (Ehe, Scheidung ...) geärgert, aber ihren materiellen Gehalt nicht verstanden. Nun wurde mir klar: Die Stabilität von "Familie" als ein psycho-dynamischer Prozeß hat seine Voraussetzung und Entsprechung in den materiellen Zwängen und Vergünstigungen des Rechts, der Kranken- und Rentenversicherungen, des Steuersystems und ganz alltäglicher Reproduktion - in der Gemeinschaft von Konsum, Essen, Trinken, Freizeitgestaltung usw. Auch Familie ist also nicht die Beschreibung, sondern die Zuschreibung eines Lebenszusammenhangs.

So werden in einer Untersuchung über die Transferleistung Staat - Familie 25 Leistungsgesetze/-vorschriften genannt, die 1984 ein Gesamtvolumen von ca. 145 Milliarden (!) DM ausmachen, fast 10 % am Volkseinkommen (Pfaff/Kerschreiter, S. 153).

So wird in einer interessanten Studie zur "juristischen Regulierung der Familie" dargestellt, wie zunächst "nur" die Rechtsform "Familie" festgeschrieben wurde, daß aber

"Familie heute in ein weitgespanntes Netz gesetzlicher Regelungen verschiedenster Art eingebunden ist, die im Ergebnis darauf hinauslaufen, die elterlichen Erziehungsbefugnisse an normative Vorgaben und öffentliche Kontrollbefugnisse anzukoppeln und den familiären (zivilrechtlichen) Unterhalt zunehmend durch sozialrechtliche Unterhaltsleistungen zu substituieren." (Sachße/Tenstedt, S. 124).

So wird in einer Marktforschungsuntersuchung unter dem Titel "Unternehmen Haushalt" die enorme wirtschaftliche Bedeutung der Familie als "Hort" der Konsumtion unterstrichen. So wird in vielen neueren Untersuchungen darauf hingewiesen, daß die "unbezahlte" Arbeit vor allem der Frauen in der Familie eine wesentliche Reproduktionsbedingung für das Gesamtsystem ist. So läßt sich kaum quantifizieren, in welchem Maße wiederum andere Menschen damit beschäftigt sind, an dieser Konstitution von Familie ständig mitzuwirken: Steuerbeamte, Lehrer, Polizisten, Mediziner, Sozialarbeiter usw. Der rote Faden dieses Sachverhaltes wurde mir erst deutlich, als ich mich näher mit den Grundlagen dieser Gesellschaft beschäftigte." Hier bricht der Bericht ab.

Timm Kunstreich, Jg. 1944, Soziologe, Wissenschaftl. Mitarbeiter im Aufbau- und Kontaktstudium Kriminologie Hamburg; Adresse: Bellealliancestr. 66, 2000 Hamburg 19

(1) (Wo es um die verinnerlichte Familie geht, werden zur Klarstellung Anführungszeichen verwendet.)

Zum Schwerpunktthema dieses Heftes

Die Redaktion hat sich bemüht, Autoren zu finden, die den Bericht unseres unbekannten Ethnologen ergänzen und weiterführen.

Volker Teichert gibt zunächst einen Überblick über die statistisch erfaßbaren Veränderungen der Sozialform Familie. Er macht deutlich, daß es zwar weiterhin dominante Merkmale der Familie gibt, daß es aber auch viele Tendenzen des Wandels gibt, die einen engen Zusammenhang mit politischen und ökonomischen Entwicklungen anzeigen. Zentral sind hier Veränderungen im Selbstverständnis und in der Rollenzuschreibung der Frau.

Auf dieser Basis stellt Ursula Pieper Überlegungen über die qualitativen Veränderungen der Familie an - und darüber, wie diese sozialwissenschaftlich verarbeitet werden. Deutlich wird, daß die wissenschaftliche Beschäftigung mit Familie sich z. Zt. um größere Realitätsnähe bemüht und Abschied von ideologischen Überfrachtungen nimmt, wie sie mit den Namen Gehlen, König und Neidhardt verbunden sind.

Bemißt man die Realitätsnähe dieser Untersuchungen daran, wieweit sie ihren Ausgangspunkt an dem Zusammenhang von Gesellschaftsform, Produktivitätsverhältnissen und Familienformen nimmt, so bleibt dieser Bezugspunkt häufig implizit. Eine Explikation dieser Thematik fehlt in diesem Heft leider. Als Ersatz sei auf die Arbeit von Heidi Rosenbaum verwiesen, die ihre historische Untersuchung der Familienformen des 19. Jahrhunderts unter einen derartigen Rahmen stellt.

Sich kritisch mit Familie (als empirischer Realität) und "Familie" (als Projektionsfolie) zu beschäftigen, bedeutet auch, sich mit den ideologischen Traditionen zu beschäftigen, die zum Teil selbst noch in ihrer Ablehnung oder Abwehr bestätigt werden, und nach Alternativen zu fragen. Zu letzerem nimmt Rüdiger Lautmann Stellung. Er beantwortet die Frage, ob sich aus den Beziehungserfahrungen von Homosexuellen eine Transformation der bürgerlichen Familie ergeben könnte, sehr differenziert und kann sich die "Aufhebung" der Familie nur als Emanzipationsprozeß von allen rigiden, auf Zwang beruhenden Verkehrsformen vorstellen.

Die ideologischen Traditionen, die wie ein Alptraum auf und in unseren Köpfen lasten, verdeutlicht Hanne Narr in einer Bildbeschreibung. Die zentrale Figur der "Mutter" - ebenfalls als Dopplung von Realität und Projektion zu verstehen - war und ist das beliebteste Thema, wenn reaktionäre Politik (und leider nicht nur sie) die Familie wieder als Hort der Nähe, Wärme und Geborgenheit preist und damit die Legitimation von Ausgrenzung, Privatisierung und Existenzgefährdung meint.

Was sich unter dieser alten-neuen Wende als real existierender Kapitalismus verbirgt, thematisiert Christine Schön. Sie untersucht die materielle Basis von Familie - nämlich die besondere Auspressung und Verwertung der Arbeitskraft "Frau" und stellt den Widerspruch Mann - Frau in den Zusammenhang kapitalisitscher Reproduktion.

Über den erstaunlich zählebigen, in den letzten Jahren zu neuer Blüte gelangten "Familiensinn" vieler Linker wundert sich Frank Düchting. Auch hier, nach WG, bewußtem Zusammenleben ohne Trauschein, nun noch eine Wende? Ein verdammt schwieriges Thema.

Stand in den bisher vorgestellten Artikeln "Familie" als ganze im Vordergrund, beschäftigen sich die weiteren mit speziellen Aspekten. Wohl kaum eine Berufsgruppe im Reproduktionsbereich ist so eng mit der rechtlichen, sozialen und ideologischen Konstitution von Familie und "Familie" verbunden wie die Sozialarbeiter (z. B. Familienfürsorge). Wolfgang Völker geht dieser innigen Verbindung nach.

Jürgen Heinrichs vom Bundesvorstand der "pro familia" stellt die weltweiten Bemühungen und Tendenzen zur Familienplanung dar - ein sicher heiß umstrittenes Thema, das immer noch im Geruch europäisch-zentrierter Hegemonie steht.

"Familie und § 218" ist das Thema von Thea Kimmich, Barbara Rose und Elke Schmid. In einer Zusammenfassung ihrer Veranstaltung auf dem Gesundheitstag 1984 in Bremen gehen sie der historischen und aktuellen, sozialpolitischen Bedeutung dieses Themas nach und verweisen auf die noch immer damit zusammenhängenden Brisanz - vor allem vor dem Hintergrund einer sich auch bei den grün-alternativen Gruppierungen abzeichnenden Verdrängung dieses Problems.

Der/dem aufmerksamen Leser/in dieses Heftes wird nicht entgehen, daß wir dieses Mal eine andere Form der Illustration gewählt haben. Angeregt durch Hanne Narrs Bildbeschreibung, haben wir Familienbilder aus vier Jahrhunderten ausgesucht, die uns typisch für den Wandel von Familien und "Familie" zu sein schienen.

Literatur:

  • LAING, Ronald D., Die Politik der Familie, Reinbek 1974
  • PFAFF, Anita B., KERSCHREITER, Die Familie im Umverteilungsprozeß; und Kinder, in: KAUFMANN, Franz-Xaver (Hg.), Staatliche Sozialpolitik und Familie, München, Wien 1982, S. 131-168
  • SACHSSE, Christoph/TENSTEDT, Florian, Familienpolitik durch Gesetzgebung: Die juristische Regulierung der Familie, in: KAUFMANN, A.a.O., S. 87-130
  • "Unternehmen Haushalt", Eine Untersuchung der Marktforschungsabteilung des Verlages Grüner+Jahr, Hamburg 1974

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