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Heft 134: Arbeit am Leben - Care-Bewegung und Care-Politiken

2014 | Inhalt | Editorial | Abstracts | Leseprobe

Titelseite Heft 134
  • Dezember 2014
  • 158 Seiten
  • EUR 15,00 / SFr
  • ISBN 3-89691-994-6
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In ihrem Artikel "Care - eine Schlüsselkategorie sozialwissenschaftlicher Forschung?" für das "Handbuch Soziale Dienste" greift Ilona Ostner (2011: 477) die karikierende Gegenüberstellung des sorgenden "Aschenputtels" und des sorgenden "Schneewittchens" von Monique Kremer (2007: 29ff.) als negatives bzw. positives Bild von care auf:

"Im Modell Aschenputtel ist care harte Arbeit, die schmutzig macht; sie ist Last und Bürde, die man qua zwanghaftem Altruismus [...] übernimmt; Aschenputtelarbeit steht für Unterdrückung und Ausbeutung statt Anerkennung, sie stört die zwischenmenschlichen Beziehungen usw. Ein Entkommen bietet dem Aschenputtel allein der Prinz (Wohlfahrtsstaat?), der sie endlich von ihrer Sorge befreit. Ganz anders liegt der Fall bei Schneewittchen. Ihr macht die Versorgung der Zwerge keine Arbeit, sondern Spaß, sie putzt, wäscht und hängt die Wäsche singend in der Sonne auf. Sorgearbeit macht sie noch schöner, bringt sie ihr doch die Anerkennung und die Dankbarkeit der Zwerge. Mit Tränen in den Augen verlässt Schneewittchen ihre Zwerge, wenn sie dem Prinzen folgt. Aber sie lebt ihr Sorgeleben nun glücklich weiter mit und für den Prinzen und ihre Kinder" (Ostner 2011: 477).

Ostner sah zum Zeitpunkt, als sie ihren Artikel verfasste, die "feministische und politische Debatte in Deutschland um care [...] recht stark vom Aschenputtel Bild geprägt" (ebd.).

Dies dürfte sich spätestens mit der Care-Revolution Aktionskonferenz im März 2014 in Berlin etwas geändert haben. Zwar erinnerten auch hier die berechtigten Forderungen nach höherer Entlohnung und anderen Formen gesellschaftlicher Anerkennung von Sorgearbeit, sowie besseren Rahmenbedingungen und mehr Zeit für diese an die Aschenputtel-Perspektive. Bei einer in die Konferenz eingebetteten Demonstration zogen die Teilnehmenden jedoch geradezu schneewitchenhaft mit dem Lied "We do care. We love it!" durch die Straßen Berlins. Dies allein ist sicher nicht überzubewerten. Allerdings diagnostiziert auch Frigga Haug (2011) bezüglich dessen, was sie polemisch "Care-Syndrom" nennt, eine Tendenz zur Idealisierung, wird doch in bestimmten Kreisen "Care" als Arbeit an und in der Beziehung zwischen Menschen und damit Subjekt-Subjekt-Subjekt-Beziehung anderen, einer Subjekt-Objekt-Relation folgenden Arbeiten geradezu antipodisch gegenübergestellt. Widersprüche, welche die Praxis solcher Sorgearbeiten vielfältig durchziehen und überlagern und die nicht allein auf die Produktionsverhältnisse, unter denen sie geleistet wird, zurückgeführt werden können, geraten auf diese Weise ebenso leicht außer Blick wie die Gefahr eines herrschaftlichen Umschlagens der in der Regel sehr asymmetrischen Care-Beziehungen.

Historisch wurden diese dadurch zu bannen versucht, dass "die personenbezogenen Arbeiten meistens von SklavInnen, Leibeigenen oder von Frauen erbracht [wurden], von Leuten ohne Macht und mit einem niedrigen sozialen Status" (Madörin 2007: 157). Heute geschieht dies vorwiegend "durch den Kauf der Verfügungsgewalt über die Person, die eine Verfügungsgewalt über meinen Körper und damit über mich hat" (ebd.). Die Prognose, dass "bezahlte Care-Tätigkeiten als 'Massendienstleistung' ökonomisch immer wichtiger" (ebd.: 152) werden, wäre demnach nicht nur im Rahmen herrschaftskritischer und machtanalytischer Untersuchungen, sondern auch in einem entsprechenden ökonomischen Umdenken als Grundlage einer emanzipatorischen gesellschaftspolitischen Praxis einzuholen.

Ein solches Umdenken nimmt seinen Ausgangspunkt zwangsläufig an den seit nunmehr zwei Jahrzehnten betriebenen vielfältigen kritischen Analysen zur Ökonomisierung des Sozialen (woran die Zeitschrift "Widersprüche" rege beteiligt war und ist) und daran, wie solche Ökonomisierung im Gefolge eines globalen Kapitalismus und der politischen Antwort neoliberaler nationaler Standort-Konzepte auf die Arbeit am Sozialen bzw. auf die soziale Reproduktion bzw. auf die alltäglich notwendigen Arbeiten "zur Betreibung des eigenen Lebens" (Steinert) zugreift und in Folge sowohl die Voraussetzungen als auch die Inhalte von Care neu akzentuiert. Auf folgenden Ebenen lassen sich derzeit problematische Veränderungen feststellen:

Die wohlfahrtsstaatliche Trägerlandschaft, welche Care-Arbeit in professioneller und entlohnter Form vorhält, gestaltet sich komplett um in einen konkurrierenden Wohlfahrtsmarkt von Sozialunternehmen. Nicht länger ist der Staat Kostenträger und Leistungserbringer von Care-Programmen und professionell zu erbringenden Care-Angeboten, sondern er wird zum Finanzier von Care-Dienstleistungen, die von verschiedenen (gemeinnützigen und gewerblichen) miteinander in Konkurrenz stehenden Sozialunternehmen angeboten werden. In der Konsequenz müssen diese so kostengünstig wie möglich produzieren oder, soweit bereits rechtlich zulässig, auf kaufkräftige Kundschaft setzen. Auf der anderen Seite werden staatlicherseits unter der Maxime von Monitoring und Controlling gigantische, unproduktive Kontrollapparate aufgebaut, die alles andere als ökonomisch sind.

Im Zuge der Verfestigung von Wohlfahrtsmärkten und Sozialunternehmen greift die Logik der Ökonomisierung auf die professionellen Akteure, auf die "Caregivers", als Erziehung zu marktkonformem Verhalten zu. Durch die Aufspaltung und Entgrenzung ehemals komplexer Tätigkeitszusammenhänge in standardisierte Handlungsabäufe und abrechenbare Produkte sind Spielräume für selbstbestimmte und mit den Adressat_innen auszuhandelnde Ziele des Caring und passende Arbeitsabläufe kaum länger möglich. Damit droht professionelle Carearbeit zu bürokratischer Sachbearbeitung zu werden statt interpersonelles Geschehen, das -bei aller Machtasymmetrie- auf Kommunikation und Verständigung, Ko-Produktion und Relationierung beruht. Zu dem leisten die der Kostenkonkurrenz geschuldeten Flexibilisierungs- und Prekarisierungsstrategien ihren Beitrag zur marktlichen Kolonialisierung der Professionellen und/oder zu deren Selbstökonomisierung.

Das letzte Glied in der Kette sind die Menschen, die der Care-Arbeit bedürfen (und das sind zunächst mal alle Mitglieder einer Gesellschaft in unterschiedlichsten angewiesenen Lebenssituationen). Als "Leistungsempfänger_innen" werden sie, zusätzlich zu den Auswirkungen der staatlichen Kostensenkungsprogramme, ebenfalls heftig ökonomisiert, indem sie zum Beispiel durch gezielte Programme und mittels Casemanagement zur Erhöhung der Beschäftigungschancen aktiviert werden und somit verpflichtet, dass sich die von ihnen in Anspruch genommene Leistung rechnet. Schließlich: Als Selbst- und für Andere (Familienmitglieder, Freund_innen Nachbar_innen... im sogenannten Privaten) überwiegend weibliche Sorgende (was im Übrigen stets den größeren Anteil aller gesellschaftlicher Care-Tätigkeiten ausmacht) sehen sie sich mit gewachsenen und nur unter großem physischen und psychischen Aufwand realisierbaren Care-Anforderungen konfrontiert, weil etliche ehemals staatlich verbriefte Care-Leistungen ins Private rückverschoben wurden und weil das adult-bread-winner-Regime nur schwerlich private Care-Zeiten zulässt. Das "Vereinbarkeitsmodell" funktioniert nicht!

Diese Situation wurde vom AK Reproduktion im Feministischen Institut in Hamburg und der Rosa-Luxemburg-Stiftung als "Krise der sozialen Reproduktion" analysiert und benannt und mündete letztlich in das Projekt "Aktionskonferenz Care Revolution: Her mit dem guten Leben - für alle weltweit!" (vergl. Widersprüche 130, 33. Jgg., 115-119). Die "Widersprüche" haben sich an der Konferenz beteiligt und sich anschließend gemeinsam mit weiteren Konferenz-Aktivist_innen an die Erarbeitung des vorliegenden Heftes gemacht.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Die Beiträge sind in zwei Schwerpunkten gebündelt. Während es in dem ersten um Fragestellungen und Positionierungen geht, die sich der Care-Thematik aus einer machtanalytischen und herrschaftskritischen Perspektive widmen, beinhaltet der zweite Schwerpunkt Texte, die unmittelbar im Zusammenhang der Berliner Care-Revolution Aktionskonferenz im März 2014 entstanden sind bzw. sich kritisch mit den dort vertretenen und gefundenen Positionen auseinander setzen und die sich formende Care-Bewegung politisch einzuschätzen versuchen.

Michael May eröffnet mit seinem grundlagentheoretischen Beitrag "Auf dem Weg zu einem dialektisch-materialistischen Care-Begriff" die Diskussion. Darin rekonstruiert er die Geschichte des Dualismus von Produktion und Reproduktion im Diskurs der sich materialistisch verstehenden Geschlechterforschung und deren Fortsetzung bzw. Verschiebung in der aktuellen Care-Debatte. Mit der Figur der einer "Ökonomie lebendiger Arbeit" folgenden "(Re-)Produktion menschlicher Subjektivität" schlägt er nicht nur eine dialektische Aufhebung dieses Dualismus vor, die sich bis hinein in eine Analytik der unterschiedlichen Gegenstände, Arbeitsbündnisse und Produktionsverhältnisse von Sorgearbeit konkretisiert. Er stellt damit zugleich eine politische Perspektive für die sich gegenhegemonial zur kapitalistischen "Ökonomie toter Arbeit" formierende Care-Revolution-Bewegung zur Diskussion und trachtet, Carern eine an Butlers politischer Ethik der Verletzlichkeit anschließende professionelle Perspektive zu eröffnen.

Mit ihrem Beitrag "Warum Care Revolution?" greift Kathrin Schrader den bei Michael May nur knapp angerissene theoretischen, wie praktisch politischen, feministischen Diskurs um Haus- und Reproduktionsarbeit auf, um die Analyse weiter zu treiben im Hinblick auf die sich zuspitzende "Krise sozialer Reproduktion" und eine darauf antwortende politische Perspektive von "Care-Revolution". Damit fungiert ihr Beitrag gewissermaßen als Scharnier zum zweiten Teil des Schwerpunktes.

Diesen eröffnet Gabriele Winker mit ihrer Grundsatzrede zur Eröffnung der Care-Revolution Aktionskonferenz im März 2014 in Berlin: "Soziale Reproduktion in der Krise - Care Revolution als Perspektive". Im Zentrum steht die Frage nach dem Verbindenden der vielfältigen Initiativen, die aus unterschiedlichen Lebenslagen und Bedürfnissen heraus sich an der Aktionskonferenz beteiligt haben, sowie das Selbstverständnis der Care-Revolution-Bewegung. Ergänzt hat Winker ihre Rede um eine Einschätzung des durch die Konferenz angestoßenen Prozesses.

Es folgt ein Beitrag des Care*Ak Frankfurt. Unter dem Titel "Care is the love?" diskutieren die AK-Mitglieder kritisch die Begriffsverschiebung von Reproduktionsarbeit zu Care. Im Anschluss an neuere queer-feministische und intersektionale Analysen des Zusammenhangs von Geschlecht und (Re-)Produktionsprozessen beleuchten sie Blindstellen des Care-Revolution-Diskurses, um daraus auch neue inhaltliche Akzente bezüglich einer "Politik der 1. Person" zu gewinnen.

Der AKS Hamburg thematisiert in seinem Text: "Care-Konferenz 2014 - Wo ist die Revolution?" bei aller Begeisterung für die auf der Konferenz präsentierte Vielfalt, die inhaltliche Unschärfe des Care-Begriffes, seinen "Mangel an Profil", was seiner Konferenz-Erfahrung nach auch zu einer Schwammigkeit der gemeinsamen Diskussion und des "gemeinsamen Dritten" führt. Als Kampfbegriff eignet sich Care nicht, und statt im Diskurs ein Gemeinsames zu konstruieren, wäre - so der Vorschlag - an den vielfältigen real existierenden Konflikten und Erfahrungen anzusetzen.

Abschließend stellt Dagmar Paternoga aus der Perspektive der politischen Arbeit der Attac-AG "Genug für Alle" die Möglichkeiten aber auch Begrenzungen der Care Revolution Aktionskonferenz als Beginn einer sozialen/politischen Bewegung dar. Auch ihr Text "Care-Revolution - ein kommender wichtiger Akteur? Ein "Kommentar" problematisiert die Unschärfe und damit Beliebigkeit des Care-Begriffes ("Containerbegriff") und belegt an Beispielen aus dem Gesundheitswesen, dass Care sehr wohl auch neoliberal genutzt wird. Um so wichtiger, so ihr Votum, ist eine kritische Analyse, was jeweils unter Care verstanden werden möchte: Wer nutzt den Begriff, und wem nützt er?

Was wäre der Care-Revolution-Diskurs ohne eine Erörterung der Fragestellung, wie denn eine vom Lohnarbeitskorsett befreite "Arbeit am Leben" finanziell organisiert und abgesichert werden könnte? Hierzu stellen wir zwei Beiträge zum Verhältnis von Care und Grundeinkommen vor, die einerseits den Heftschwerpunkt komplettieren, andererseits aber auch als Forumsbeiträge "für sich" stehen.

Die für dieses Heft angekündigte Übersetzung des Beitrages von Bill Hughes "Civilising Modernity and the onotological Individuation of disabled people" wird dann im Forum des kommenden Widersprüche-Heftes (135) erscheinen.

Der Beitrag von Ina Praetorius "Care und Grundeinkommen. Oder: Postpatriarchal gedacht macht das bedingungslose Grundeinkommen Sinn" setzt auf ein erweitertes Verständnis von Ökonomie, das - im Gegensatz zur dominanten herrschenden Vorstellung von Ökonomie - bedürfnisbasierte Care-Tätigkeiten nicht ausblendet und die "androzentrische Zweiteilung" höherer männlicher und niederer weiblicher Tätigkeiten überwinden kann. Nur im Kontext solchen Ökonomieverständnisses hat die Debatte um ein Grundeinkommen Sinn. Am Verlauf der Schweizer Volksinitiative 2012/2013 für ein bedingungsloses Grundeinkommen demonstriert sie aber auch die hartlebige Verwurzelung des traditionellen Ökonomieverständnisses.

Roland Baschke: "Grundeinkommen und Carearbeit" thematisiert die Figur des bedingungslosen Grundeinkommens im Hinblick auf dessen zu Ende gedachten Ansatz, selbstverständlich etwas zu bekommen, ohne dafür eine Gegenleistung erbringen zu müssen. Eine solche Perspektive gegenseitiger anerkannter Abhängigkeit muss jedoch nicht zu Zwangsbeziehungen führen, sondern beinhaltet ein hohes Maß an Freiheit. In einem zweiten Schritt überprüft Blaschke unterschiedliche feministische Theorie- und Handlungskonzepte darauf hin, ob und wie weit sie diesem Konzept einer Verschränkung von Care und Grundeinkommen folgen.

Literatur

Kremer, Monique 2007: How welfare states care. Culture, gender and parenting in Europe. Amsterdam (Changing welfare states)

Haug, Frigga 2011: Das Care-Syndrom. Ohne Geschichte hat die Frauenbewegung keine Perspektive. In: Das Argument 292/2011, S.345-364

Madörin, Mascha 2007: Neoliberalismus und die Organisation der Care-Ökonomie. Eine Forschungsskizze. In: Denknetz (Hg.): Zur politischen Ökonomie der Schweiz. Eine Annäherung : Analysen und Impulse zur Politik. Zürich: Edition 8 (Jahrbuch / Denknetz, 2007), S. 141-162. Online verfügbar unter http://www.denknetz-online.ch/IMG/pdf/Madorin.pdf.

Ostner, Ilona 2011: Care - eine Schlüsselkategorie sozialwissenschaftlicher Forschung? In: Adalbert Evers (Hg.): Handbuch Soziale Dienste. 1. Aufl. Wiesbaden, S. 461-481

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