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Heft 129: Wem hilft die Kinder- und Jugendhilfe? Gegebene Fragen und aktuelle Kontroversen

2013 | Inhalt | Editorial | Abstracts | Leseprobe

Titelseite Heft 129
  • September 2013
  • 135 Seiten
  • EUR 15,00 / SFr
  • ISBN 3-89691-989-2
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Zu diesem Heft

Schon die Fragestellung: "Wem hilft die Kinder-und Jugendhilfe?" legt nahe, dass die Adressaten der Sozialen Arbeit bzw. der Jugendhilfe erst in zweiter Linie Kinder und Jugendliche bzw. deren Familien sind, dass Adressaten in erster Linie die Gruppierungen des "Blocks an der Macht" (Gramsci) sind, die ein Interesse an Erhalt oder Veränderung von Machtstrukturen haben, die mit diesem Feld verbunden sind. Diese regulieren, ob Themen der Kinder- und Jugendhilfe eher in den Sicherheitsdiskurs eingebunden werden ("die gefährlichen Jugendlichen in die geschlossene Unterbringung") oder in einen "Emanzipationsdiskurs", der z.B. auf eigenständige Rechte von Kindern und Jugendlichen zielt. Antonio Gramsci formulierte den damit verbundenen hegemonietheoretischen Ansatz wie folgt:

"Gibt es ein einheitliches Kriterium, um gleichermaßen die verschiedenen und spezifischen Tätigkeiten Sozialer Arbeit zu erfassen und sie gleichzeitig und wesentlich von den Tätigkeiten der anderen gesellschaftlichen Gruppierungen abzugrenzen? Der verbreitetste methodische Fehler scheint mir zu sein, daß dieses Unterschiedsmerkmal in der Spezifik der Tätigkeiten Sozialer Arbeit gesucht wird und nicht im ganzen System der Beziehungen, in dem sie, und damit die Gruppen, die sie repräsentieren, als Teil des Gesamtkomplexes der gesellschaftlichen Beziehungen ihren Platz finden [...] Alle Menschen sind SozialarbeiterInnen/SozialpädagogInnen, könnte man sagen: Aber nicht alle Menschen haben in der Gesellschaft die Funktion von Professionellen der Sozialen Arbeit"(Gramsci 1967: 408/409 - Textvariante, im Original steht "Intellektuelle" statt "Soziale Arbeit"; Hervorhebung der Redaktion ).

"Ausgangspunkte sind also nicht die einzelnen Tätigkeiten (oder deren Merkmale), sondern die Professionellen der Sozialen Arbeit als eine gesellschaftliche Gruppe und deren Einbindung in das gesellschaftliche System. Auch wird diese Gruppe nicht durch ihre Adressaten ('Klienten') definiert, sondern durch Gruppen, 'die sie repräsentieren', also z.B. durch die 'Mittelschichten' oder 'grün-alternative' und 'liberal - bzw. sozialdemokratische' Milieus. Damit sind wir selbst Gegenstand der Analyse und nicht - wie üblich - unser 'Klientel'. Nun sind wir gefragt, wie wir unser Verhältnis zu den Adressaten und anderen Teilen der Gesellschaft definieren. Es geht damit um die Analyse von Beziehungen, von Relationen, in die wir selbst verstrickt sind. Das ist nicht ungefährlich, denn schließlich neigen wir zu idealisierender Selbstüberschätzung oder zu resignativer Selbst-Entwertung" (Kunstreich 2000: 8).

Diese institutionen- und herrschaftskritische Positionierung ist nicht nur der rote Faden in diesem Heft, sondern ist eine Grundlinie unserer redaktionellen Position von Anfang an. (1) So heißt es in Heft 1 vom September 1981, dessen einer Schwerpunkt auch damals schon die Auseinandersetzung um geschlossene Heimerziehung war:

"Nun ist der kapitalistische Vergesellschaftungsprozess ambivalent: Einerseits geraten die sozialen Beziehungen und Zuwendungen in das Korsett einer Rationalität, die die der abstrakten Arbeit, des Werts ist. Andererseits aber werden dadurch gesellschaftliche Bereiche öffentlich und potenziell zum Konfliktfeld antagonistischer Interessen, die vordem privat-sprachloser Unterbau gesellschaftlicher Herrschaft waren. Mit der Vergesellschaftung drängen sowohl die gesellschaftlichen Leiden, als auch fortgeschrittene, 'kulturrevolutionäre' Bedürfnisse in die Institutionen. Zunehmend wird dadurch öffentlich und gleichzeitig angreifbar, um welche Re-Produktion es geht und gehen soll: um die Re-Produktion eines menschenverschleißenden Herrschaftsverhältnisses oder um die selbstbestimmte Produktion von Beziehungen, Fähigkeiten und Möglichkeiten!" (Redaktion Widersprüche 1981: 11).

In diesem Heft kreuzen sich zwei Tendenzen, die aus dem "privat-sprachlosen Unterbau gesellschaftlicher Herrschaft" in Richtung auf "selbstbestimmte Produktion von Beziehungen, Fähigkeiten und Möglichkeiten" zielen: zum einen die Anerkennung der Leiden der Heimzöglinge mit der Perspektive, jegliche Institution geschlossener Unterbringung abzuschaffen und zum anderen die Auseinandersetzung um Erinnerungsdiskurse über Erfahrungen und Strukturen in der DDR. Beide Stränge kreuzen sich zweimal. Die eine Kreuzung thematisiert die Frage, ob die Heimerziehung in der Bundesrepublik (zumindest bis Mitte der 70er Jahre) ein Unrechtssystem in einer sich als sozialer Rechtsstaat verstehenden Gesellschaft sein kann, der andere Kreuzungspunkt fragt nach dem wenn nicht Bewahrenswerten, so doch nach dem (im Bloch‘schen Sinne) Unabgegoltenen aus den "Errungenschaften" der DDR. Zum ersten Kreuzungspunkt bezieht die Redaktion eine klare Position: Jegliche Form geschlossener Unterbringung muss abgeschafft werden; zur zweiten gibt es Auseinandersetzungen darüber, was es jenseits des Etiketts "Unrechtsstaat" an Bewahrenswertem gibt, und wenn es so etwas gibt, welche Bedeutung es heute hat. Auch zu der Frage, wie mit der Thematisierung von Verantwortlichkeit umzugehen sei, gibt es unterschiedliche Positionen. Wir hoffen, dass diese Themen in Zukunft vertiefend weitergeführt werden. Die Beiträge in diesem Heft sind dazu ein Anfang. Eine Fortsetzung dieser Diskussion gibt es in der ersten Ausgabe dieser Zeitschrift des Jahrganges 2014 (Heft 131). Darin wird es insbesondere um die praktischen Konsequenzen dieser Auseinandersetzung gehen.

Zu den Beiträgen im Einzelnen

Um einen Einstieg in die Diskussion beider Stränge zu finden, gibt es kaum einen geeigneteren Autoren als Manfred Kappeler. Aus der Collage von vier seiner Texte wird zum einen die zeitliche Dimension deutlich - seine Kritik aus dem legendären Reader "Gefesselte Jugend" von 1971 trifft auch z.B. die Haasenburg von heute -, zum anderen macht er (auch als Mitglied der "Runden Tische Heimerziehung" in Ost und West) deutlich, dass das System der Heimerziehung sowohl im Westen als auch im Osten ein Unrechtssystem war und dass deshalb die ehemaligen Insassen nicht individuell und mit Bedürftigkeitsprüfungen rehabilitiert werden dürfen, sondern nur strukturell durch Rechtsansprüche, insbesondere in Bezug auf Rente und gesundheitliche Versorgung. Dass auch nach der einhelligen öffentlichen Verurteilung der repressiven Heimerziehung in West und Ost - trotz aller Sonntagsreden und anderer Bekundungen - weiterhin geschlossen untergebracht wird, daran erinnert Michael Lindenberg in seinem Kommentar.

Es folgen drei Erfahrungsberichte mit analytischer Zielsetzung, die das Thema Heimerziehung und DDR/BRD in jeweils unterschiedlicher Weise miteinander verschränken. Vadim Riga nimmt die zerstörerischen Erfahrungen seiner Kindheit im Heim zum Anlass, nach dem persönlichen und gesellschaftlichen "Zuhause" zu fragen. Im Gespräch mit Uwe Hirschfeld geht Friedemann Affolderbach der komplexen Frage nach, wie jemand, der zum autoritären SED-Regime in Opposition stand, dennoch an befreienden Perspektiven sozialistischer Provenienz festhalten kann.

Eberhard Mannschatz geht von der hegemonialen Einbindung der Jugendhilfe aus und schlägt vor, an "verschüttete Ansätze" anzuschließen, um zu einer eigenständigen Position sozialpädagogischer Theorie und Praxis zu gelangen, die die Perspektive der Kinder- und Jugendarbeit als Projekte "gemeinsamer Aufgabenbewältigung" konzipiert. Abschließend versucht Timm Kunstreich, die Tatsache, dass nicht Kinder und Jugendliche die primären Adressaten des mit ihnen verbundenen Politikfeldes sind, dahin zu wenden, dass jegliche Form traditioneller Heimerziehung unter heutigen Bedingungen überflüssig ist - ganz schweigen von geschlossener Unterbringung.

Auch die Beiträge im Forum - Sven Heuer kritisiert die Ordnung der "konfrontativen Pädagogik" - und unsere Rezension - Sandra Küchler stellt die herausragende Untersuchung von Marcus Hußmann vor - vertiefen die Aspekte der Diskussion um Heimerziehung.

Die Redaktion

1. Wer die Linie weiter verfolgen möchte, werfe einen Blick in die grundlegenden Thesen der Redaktion (Hefte 11, 15, 32, zusammenfassend: 66), in die Hefte zum Thema "Zwang" (106, 109, 118) und in die zum Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe (79, 82, 84, 88, 89, 90, 97, 99, 110)

Literatur

Autorenkollektiv 1971: Gefesselte Jugend. Frankfurt a.M.

Gramsci, Antonio 1967: Philosophie der Praxis. Frankfurt a.M.

Kunstreich, Timm 2000: Grundkurs Soziale Arbeit, Bd. I. Bielefeld

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