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Heft 1: Hilfe und Herrschaft

1981 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 1
  • September 1981
  • 152 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-020-8

Zu diesem Heft

Das Thema Hilfe und Herrschaft hat die Geister und Gemüter schon lange bewegt. Wer wollte nicht gerne Helfer sein, sei es aus traditionell-christlicher Motivation, sei es aus Liebe zum und Mitleid mit dem einfachen Volk. In unseren modernen Zeiten tauchten andere Helfer auf: die fachlich-qualifizierten, deren Legitimation sich universitärer Wissenschaftlichkeit verdankte. Ihre Hilfe erscheint als objektiv begründbar und beläßt die Hilfeempfänger - egal ob im Krankenhaus oder auf dem Sozialamt, in der Therapie - in kühler Distanz in der Rolle des Objekts. Ob Caritas, ob bildungsbürgerliches Mitleid mit dem Volk, ob wissenschaftlich-instrumentelles Interesse: Alle drei Typen der Hilfe haben herrschaftssichernden Charakter. Die Kritik traf die Bereiche der Bildung, der Gesundheit, der Sozialarbeit und Sozialpolitik unterschiedlich und zu unterschiedlichen Zeitpunkten.

Als erstes waren die Bildungsinstitutionen dran. Sie, die als erste dem kapitalistischen Vergesellschaftungsprozeß unterworfen waren und von ihm neu konstituiert wurden, sind analysiert: allgemeine Schulpflicht als notwendige Qualifikation der Ware Arbeitskraft unter staatlicher Regie; Selektionsinstrument für die gesellschaftlich vorgegebene Hierarchie; Disziplinierungsinstrument; Klassenschule. Trotz dieser Kritik hält sich - über Reformzeit und gesellschaftspolitisches Roll-Back hinweg -der Glaube an das Positive in den Bildungsinstitutionen: Kulturtechniken, Chancengleichheit, soziales Lernen...

Auch der Sozialbereich entwickelte sich mit dem bürgerlichen Elend - entsprechend dessen Fortschrittsniveau von der Armenpflege, Randgruppenverwaltung zur präventiven Sozialisation, zur rationell - bürokratischen Intervention. Die Kritik an diesem Bereich war offensichtlich, war Sozialpolitik doch Verwalter des materiellen und psychischen Elends und konnte doch keines von beiden "heilen". Dennoch fiel den Armen und der arbeitenden Klasse die 'Soziale Sicherung' nicht in den Schoß. Sie mußte gegen Unternehmer und Staat erkämpft werden, wobei die soziale Praxis oft genug ideologieträchtigen Unternehmungen (Kirche) überlassen blieb. Sozialpolitik als Zuckerbrot und Peitsche. Sozialarbeit als Herrschaftssicherung, Anpassungserziehung, als Pflaster, Feuerwehr - doch auch als soziale (politische) Praxis, die Konfliktpotentiale mobilisieren kann.

Bis in die neuste Zeit verschont von radikaler Kritik blieb einzig das Gesundheitswesen. Die Stofflichkeit der medizinischen Versorgung war dank des sie umgebenden naturwissenschaftlichen Mythos lange kein Gegenstand von Kritik. Die traditionelle Kritik bestand in der Anklage der unsozialen Klassenmedizin. Doch seit sich auch in dieser Hochburg der Naturwissenschaft die Krise des kapitalistischen Fortschritts äußert, entwickelt sich eine Kritik an einer Medizin, die Menschen in Symptome und Normabweichungen zerstückelt und in eine Ordnung des Funktionierens preßt.

Gegen die herrschaftliche Hilfe der Institutionen schießen in den letzten Jahren massenhaft "befreite Gebiete" aus dem Boden: Selbsthilfeprojekte: Ob Schule, Sozialbereich oder Gesundheitsversorgung: alle Projekte haben den Anspruch, wirklich zu helfen, ohne Herrschaft gegen andere zu produzieren. Die professionellen Experten werden zu unerwünschten, überflüssigen Gurus erklärt. Die Institutionen, in denen die Linke in und nach den letzten Reformen Kräfteverhältnisse zu ändern suchte, sind abgeschrieben: Es entwickeln sich neue Lager: Aussteiger, Autonome gegen Institutionalisten. Die einen erklären die Institution allesamt zum integralen Bestandteil einer herrschenden, herrschaftlichen Rationalität, die die Gesellschaft unausweichlich in ihrer Macht hält. Die anderen erklären die Selbsthilfeprojekte zu irrationalen Anhängern vorbürgerlicher Mythologie und Handwerkelei.

"Selbsthilfe" gewinnt ihre besondere Brisanz auch dadurch, daß sie von konservativer Seite als Sparmittel angepriesen wird, was von denen, die in "weniger Staat" gleich mehr "Autonomie" finden, nicht genügend reflektiert wird. Auch die Linke wurde in diesem Projekt verunsichert; allzuleicht gab sie sich manchmal modischen Abschwörtendenzen hin, was deswegen besonders tragisch ist, weil in diesem Prozeß der Diskussion um Institutionen, Herrschaft, Expertentum eine gesellschaftlich-historische Analyse dieser umkämpften Bereiche etliches zur Wahrheitsfindung beitragen kann.

Mit diesem Thema wollen wir uns jedenfalls einmischen in die laufende Diskussion. Unser Erscheinungsdatum ist deswegen nicht zufällig. Wir "schenken" unsere Gedanken hiermit allen Teilnehmern des Gesundheitstages 1981 in Hamburg, bei dem es ja zentral um die Frage der Selbsthilfe geht.

Der Artikel von Reinhard Laux / Thea Kimmich / Dorothee Hail nimmt zur Auseinandersetzung um die medizinischen Institutionen Stellung. Die Autor(inn)en stellen Illichs Kritik der Medizin dar, die im wesentlichen eine Gesellschaftstheorie des Industrialismus zur Basis hat. Von den wenigen marxistischen Kritikern Illichs erscheint V. Navarro als bekanntester allerdings auch als orthodoxer, welcher die Qualität des medizinischen Eingriffs und der medizinischen Versorgung ebenso wie die Expertenrolle fast unberührt läßt. Gegenüber Illich und Navarro versuchen die Autor(inn)en, die Institutionen der medizinischen Versorgung als Klassenkompromiß zu erklären, welcher also nicht rein herrschaftlich ist, sondern "Gebrauchswert" für die Arbeiterklasse hat. Vor diesem Hintergrund setzen sie sich mit Selbsthilfestrategien auseinander und konkretisieren ihre Position am Beispiel der Geburtshilfe. Welche gewerkschaftlich-politische Perspektiven heute in der Sozial- und Gesundheitspolitik zu entwickeln wären, wird durch den sehr engagiert geschriebenen Aufsatz "Gesundheit oder gesundes Leben" von Rolf-Richard Grauhan dokumentiert.

Da die Selbsthilfebewegung die Entstehung von Institutionen weitgehend als Enteignung, Kolonisation der Betroffenen begreift, versucht Barbara Rose einen historischen "Längsschnitt" eines sozialen Konflikts: Arbeitslosigkeit. An ihm werden die Thesen der Selbsthilfebewegung (z.B. Kickbusch) ebenso diskutiert wie das Verhältnis von Selbstorganisation, und Institutionalisierung von Kräfteverhältnissen um das Problem der Arbeitslosigkeit bis heute.

Die Auseinandersetzung mit theoretischen Erklärungen seitens der Selbsthilfebewegung spielt auch im Artikel von Niko Diemer / Wolfgang Völker eine zentrale Rolle. Sie kritisieren die Erklärungsversuche von Expertenherrschaft, Absonderung von Institutionen, wie sie in der Alternativ- und Selbsthilfebewegung gebraucht werden. Am Beispiel der Entwicklung der Heimerziehung versuchen sie zu zeigen, wie der Konflikt in den Institutionen keineswegs stillgestellt ist. Die Autoren versuchen, einen Begriff der Vergesellschaftung der Reproduktion zu entwickeln. Sie zeigen, daß der kapitalistische Vergesellschaftungsprozeß traditionelle Muster ändert. Daß es also eine innergesellschaftliche Entwicklung gibt, in die man sich einmischen kann und muß, statt in die Autonomie des "ganz anderen" abzufliegen. Der Flug in die Autonomie geht nämlich über den gesellschaftlichen Konflikt um die Qualität der Reproduktion hinweg, da er die ehedem privaten Probleme, die im kapitalistischen Vergesellschaftungsprozeß Gegenstand von Institutionen werden, nicht veröffentlicht und politisiert, sondern in eine alternative Privatheit "befreit".

Um "Befreiung" von unmittelbaren Zwängen als Herrschaftsmittel geht es bei Christa Sonnenfeld (ebenso beim Interview mit Klaus Horn) - allerdings um eine "Befreiung", die keine ist, sondern neue Herrschaftstechnik: sanfte Kontrolle und geschlossene Unterbringung in der Heimerziehung.

Unseren Anspruch, die verschiedenen Sektoren des Reproduktionsbereichs an zentralen strategischen Fragestellungen zusammenzubringen, konnten wir diesmal in Bezug auf den Schul- und Bildungsbereich nicht einlösen. Doch bietet die Aussteigergeschichte "Schule '81" von Paul Schmitt genug brisanten Stoff, um die Diskussion zu eröffnen.

Wir wollen mit diesem ersten Heft an einer Perspektive mitarbeiten, die die verbreitete melancholische Krisenstimmung überwindet und die mehr und anders ist als bloßes Oberleben oder vorschnelles Auswandern.

Redaktion "Widersprüche" Offenbach. September 1981

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