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Heft 97: Politik des Sozialen - Alternativen zur Sozialpolitik. Umrisse einer Infrastruktur

2005 | Inhalt | Editorial | Abstracts | Leseprobe

Titelseite Heft 97
  • September 2005
  • 160 Seiten
  • EUR 11,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-409-4
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Wolfgang Völker
Aufrufe gegen die agenda 2010
Versuch zur Durchsicht und zum Durchblick

"Deutschland bewegt sich" - so lautet der Untertitel des von der Bundesregierung herausgegebenen kleinen roten Heftchens zur agenda 2010 (aktualisierte Neuauflage Februar 2004). Mit Bewegung meint die Bundesregierung die Veränderungen im Bereich von Steuerpolitik und Sozialpolitik (Arbeitsmarktpolitik, Gesundheitspolitik, Rentenpolitik), die von ihr im Jahr 2003 auf den gesetzgeberischen Weg gebracht worden sind. Gegen diese Bewegung von oben hat sich Protest artikuliert. Im folgenden wird der Versuch unternommen, Aufrufe und Erklärungen, die sich gegen die agenda 2010 richten unter drei Aspekten zu betrachten.

  1. Welche Ziele werden in der herrschenden Politik der Modernisierung des Sozialstaats identifiziert?
  2. Welche eigenen Bezugspunkte und Begründungszusammenhänge für die jeweils vorgebrachte Kritik werden genannt?
  3. Welche sozialpolitischen Strategien werden alternativ zur agenda 2010 vorgeschlagen?

Joachim Hirsch
Eine Alternative zum lohnarbeitsbezogenen Sozialstaat
Das Konzept der "Sozialen Infrastruktur"

Die vom links-netz vorgestellten Überlegungen zu einer Politik des Sozialen zielt auf den Ausbau einer umfassenden sozialen Infrastruktur als Alternative zum lohnarbeitsbezogenen Sozialstaat ab. Diese Diskussion ist nicht neu, sondern reicht bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück. In Gang gesetzt wurde sie nicht zuletzt im Zusammenhang der Erwerbslosen- und Teilen der Frauenbewegung (vgl. Krebs/Rein 2000, Kunstreich 1999). Weder der Zeitpunkt noch politisch-soziale Zusammenhang sind zufällig. Hintergrund ist die damals manifest gewordene Krise des Fordismus und der Beginn der neoliberalen Restrukturierungsoffensive, mit der das "goldene Zeitalter" des Fordismus zu Ende ging und der "Traum immerwährender Prosperität" (Lutz 1984) ausgeträumt war. Es ist kein Zufall, dass sich das Nachdenken über ganz andere Formen der gesellschaftlichen Arbeit und der Vergesellschaftung am ehesten jenseits der etablierten Institutionen, der Verbände, Sozialbürokratien und Parteien sowie jenseits vorherrschender sozialwissenschaftlicher Theoriediskussionen entwickeln konnte.

Heinz Steinert
Eine kleine Radikalisierung von Sozialpolitik
Die allgemein verfügbare "soziale Infrastruktur zum Betreiben des eigenen Lebens" ist notwendig und denkbar

Derzeit und schon seit etwa zwei Jahrzehnten besteht Politik in Deutschland und in Europa darin, im Abbau des Sozialstaats von der Bevölkerung "Opfer für die Zukunft" zu verlangen, und das besonders von den schwächsten Teilen der Bevölkerung. Bei konservativen Regierungen wundert uns das nicht. Bei sozialdemokratischen wundert es uns erstens grundsätzlich, zweitens besonders, wenn dabei die eigene Klientel und Wählerschaft geschädigt und verärgert wird - was jenseits aller weiterreichenden Erwägungen einfach schlechte Politik ist, und zwar schon ziemlich kurzfristig und ganz borniert schlecht: Sie endet rasch in Abwahl.

Oliver Brüchert
Warum es sich lohnen könnte, Bildung als Infrastruktur zu denken

Die bildungspolitischen Auseinandersetzungen der vergangenen 15 bis 25 Jahre sind geprägt von der Gegenüberstellung zweier Lager: Den rückwärtsgewandten Bewahrern des humboldtschen Bildungsideals und den progressiven Modernisierern, die "unser" Bildungssystem fit machen für den neoliberal globalisierten Wettbewerb der Wissensgesellschaften. So jedenfalls lesen sich die meisten Zeitungsbeiträge zum Thema und so verorten sich auch viele der Akteure, die diese öffentliche Debatte prägen. Selbst die von Studentenvertretern und Gewerkschaftern noch vertretene Forderung einer demokratischen Öffnung der Hochschulen ("Bildung für alle und zwar umsonst") gerät angesichts der grassierenden Modernisierungseuphorie schon in den Verdacht eines konservativen Reflexes. Leseprobe

Thomas Gehrig
Widersprüche der Sozialpolitik

Sozialpolitik, ein Kunstwort des 19. Jahrhunderts, das Gesellschaftliches und Staatliches, jene beiden Sphären, die in der bürgerlichen Gesellschaft auseinander getreten sind, zusammenzudenken sucht (vgl.: Pankoke 1970: 167ff.). Sozialpolitik soll diese Sphären verbinden, wenn nicht gar versöhnen. Es geht dabei auch um die Intention einer politischen Steuerung der Gesellschaft. Dies Mittel der Befriedung gesellschaftlicher Interessengegensätze wird alsbald auch zur zentralen Figur in einem politischen Denken, das hier das Instrument in der Hand zu halten glaubt, alle Klassen mit der bürgerlichen Gesellschaft und damit auch die eigene Politik mit dem Staate versöhnen zu können. Doch wie ist das Verhältnis dieser auseinandergetretenen Sphären?

Andreas Bachmann
Systemwechsel in der sozialen Sicherung
der Kampf um die Sozialversicherung

In der Traditionslinie der Sozialstaatskritik der undogmatischen und feministischen Linken wird das deutsche Sozialversicherungssystem zu Recht kritisiert: Die (sozialrechliche und politische) Orientierung der Leistungsansprüche am herkömmlichen Normalarbeitsverhältnis hat jahrzehntelang weibliche Erwerbsarbeit und typische weibliche Lebensläufe diskriminiert. Wegen der Bindung der Sozialversicherungssysteme am Normalarbeitsverhältnis ist der Risiko- und Einkommensschutz für prekär oder auch nur teilzeitbeschäftigte Lohnabhängige oder für Erwerbstätige in den Grenzbereichen der Scheinselbständigkeit bzw. prekären Selbständigkeit gering. Das Äquivalenz- und Leistungsprinzip bei Beitrag und Versicherungsansprüchen hat eine sozialkonservative Funktion bei der Verfestigung von Hierarchien und Statusunterschieden innerhalb der Lohnabhängigen. Schließlich wird regelmäßig auf die historische ("bismarcksche") Prägung der modernen deutschen Sozialversicherung hingewiesen: Die Durchsetzung der modernen Sozialversicherung in Deutschland war verbunden mit der politischen (und wirtschaftlichen) Enteignung der genossenschaftlichen Selbsthilfekassen der frühen Arbeiterbewegung und auch als ein Instrument der Herrschaftssicherung gegenüber der Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts angelegt. [...] Vor dem Hintergrund dieser historischen Erfahrung und der entsprechenden Debatte überrascht es nicht, wenn die Präferenz der nichtsozialdemokratischen und außergewerkschaftlichen Linken, sofern sie sich überhaupt mit rechtlichen, institutionellen oder ökonomischen (Detail)Fragen des sozialpolitischen Feldes beschäftigen, eindeutig in Richtung steuerfinanzierter Sicherungssysteme geht. Dem traditionellen Versicherungsprinzip wird beispielsweise auch in der viel besprochenen Veröffentlichung der AG links-netz aus September 2003 zu den "Umrissen eines Konzepts von Sozialpolitik als Infrastruktur" eine deutliche Absage erteilt.

Timm Kunstreich
Sozialgenossenschaften
Ein Versuch, eine kooperative Vergesellschaftung im kapitalistischen Sozialstaat zu denken

Eine "alternative Vergesellschaftung im Sozialstaat" zu denken war 1984 in der Redaktion der WIDERSPRÜCHE ein Ansatz in unserem Versuch, von einer alternativen Sozialpolitik zu einer Alternative zur (hegemonialen) Sozialpolitik zu gelangen. Unter der Überschrift "Verteidigen, kritisieren und überwinden zugleich!" versuchten wir in "drei Strängen" als "strategische Hypothesen" (Lefebvre) für einen grundlegenden Umbau nicht nur des Sozialstaates, sondern tendenziell für alle gesellschaftlichen Sphären zu formulieren - und das in einer Weise, die die materiellen Errungenschaften des keynesianischen Sozialstaates weder vernachlässigt noch gering schätzt, aber auch nicht überschätzt ("verteidigen"), die zugleich die Einsichten in die Zwänge des Wertgesetzes kapitalistischer Akkumulation weiter ausbuchstabiert ("kritisieren") und die zugleich die Subjekte versucht zu benennen, die Akteure möglicher Transformationen sind ("überwinden").

Tilman Lutz, Holger Ziegler
Soziale Arbeit im Post-Wohlfahrtsstaat
Bewahrer oder Totengräber des Rehabilitationsideals?

Der Artikel setzt sich mit dem Phänomen auseinander, dass die 'wohlfahrtstaatliche' Institution Soziale Arbeit im Kontext einer 'post-wohlfahrtstaatlichen' Neugestaltung des Feldes der Kriminalitätskontrolle keinesfalls substanziell an Bedeutung verloren hat. Soziale Arbeit lässt sich dabei - so die These - weder einfach als wohlfahrtsstaatliches Relikt verstehen, dass einer von der Idee des Sozialen abgewandten Entwicklung zu trotzen vermag, noch hat Soziale Arbeit ihre rehabilitative Orientierung und Funktion als 'people-changing' Agentur aufgegeben. Die Dynamiken im Feld der Kriminalitätskontrolle sind komplexer, als die Debatten um ein post-soziales punitives Risikomanagement oft nahe legen: Soziale Arbeit lässt sich dabei weniger als Antipode sondern vielmehr als produktiver Träger der gegenwärtigen Umgestaltungen des wohlfahrts- und kriminalstaatlichen Arrangements verstehen.

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