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Heft 91: Scheiternde Erfolge - oder: Die bitteren Früchte politischer Emanzipationsprojekte

2004 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelblatt Heft 91
  • April 2004
  • 116 Seiten
  • EUR 11,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-388-8

Reinhard Kreissl

Von der Entzauberung des Kriminellen zur sich selbst verdächtigenden Gesellschaft

Ich glaube, es war in der West Side Story von Leonard Bernstein, wo ein Delinquent seinem Bewährungshelfer mit dem schönen Namen Officer Friendly sein Leid klagt und auf seine schlimme Kindheit und sonstigen problematischen Lebensumstände hinweist. Bernstein macht sich in dieser Szene über die Praxis einer kriminologischen Theorie lustig, die besagt, dass abweichendes Verhalten letztlich gesellschaftlich verursacht ist: Die Verhältnisse prägen das Verhalten und wer sich daneben benimmt, kann in aller Regel nicht anders. Wenn also das gesellschaftliche Problem Kriminalität gelöst werden soll, brauchen wir eine andere, eine gerechtere, eine humanere Gesellschaft, in der niemand aus der Bahn geworfen wird und bis dahin ist den Delinquenten mit allen Mitteln des Wohlfahrtstaats zur Seite zu stehen. Für diese Idee hat die kritische Kriminologie lange Zeit geworben, hat sie als Gegenmodell zum straforientierten Denken in die Diskussion gebracht und ist damit auf grandiose Weise, auch an ihrem eigenen Erfolg gescheitert. Jetzt hat sie, um im Sprachspiel zu bleiben, den Blues, und muss mit ansehen, wie einerseits der strafende Staat heranwächst und den wohltätigen Staat ablöst und wie andererseits ihre eigenen Vorstellungen von den kleinen Funktionären der moralischen Orthopädie kleingearbeitet und zu einem dichten Netz der Normalitätskontrolle geknüpft werden.

Das kritisch kriminologische Projekt einer gerechten Gesellschaft und eines humanen Umgangs mit den Benachteiligten versandet zwischen Trivialisierung und Dramatisierung des Verbrechens. Aus der Vogelperspektive sehen kritische Beobachter eine Verzweigung des Kriminalitätsdiskurses in westlichen Gesellschaften. Einerseits gehört Kriminalität zu den erwartbaren Unwägbarkeiten des Alltags - es kann jeden treffen und keiner erwarte ernsthaft, dass dieses Übel durch den Staat beseitigt wird. Andererseits sind der öffentliche Diskurs und die Medien bevölkert von Monstern des Typs Terrorist und Menschenhändler, Kinderschänder, Kannibale und Serienmörder. Vor diesen Bestien wird gewarnt und in diesem Land läuft die Gesetzgebungsmaschine auf Hochtouren, um den Eindruck heftiger Gegenwehr des Staates nicht verblassen zu lassen. An dieser Verzweigung lässt sich eine Art semantisch-politischer Arbeitsteilung demonstrieren. Mit der Normalisierung der alltäglichen Kleinkriminalität geht eine Gewöhnung an die mundanen Risiken der Risikogesellschaft einher, vor denen man sich individuell zu schützen hat, wie vor allen anderen Wechselfällen des Lebens auch. Ebenso wie Arbeitslosigkeit, Krankheit und andere Schadensfälle, sollen auch im Bereich der Kriminalität die Kosten aus den wohlfahrtsstaatlichen Leistungen herausgenommen und den Einzelnen aufgebürdet werden. Ironie der Geschichte - die kritische Kriminologie mit ihren Entkriminalisierungsforderungen wird hier zum Steigbügelhalter bei der Sanierung öffentlicher Haushalte durch Rückzug des Staates aus kostenintensiven Randbereichen sozialer Kontrolle. In der Dramatisierung der Monster und Bestien werden moralische Mysterienspiele inszeniert, die allen klar vor Augen führen sollen, dass wir alle wirklich vom Bösen bedroht werden und daher loyal zur herrschenden Ordnung der Geschlechter, der Nationalstaaten, der Menschenrechte westlicher Prägung stehen sollen.

Im Horizont der eigenen wissenschaftlichen Biographie nehmen solche Entwicklungen die Form von deprimierenden Enttäuschungen an. Waren die kritischen KriminologInnen als Tiger gesprungen, um als Bettvorleger zu landen? Was ging schief, haben wir etwas übersehen und "who is to blame"? Wie lässt sich das Knäuel aus biographischen und historischen Entwicklungen entwirren, warum hört uns keiner mehr zu und was haben die anderen zu bieten, die jetzt das Sagen haben? Der Deutungen sind viele und plausibel klingen sie alle. In Deutschland hat sich wissenschaftsintern die Community der kritischen Kriminologie nicht dauerhaft etablieren können. Die in der Expansionsphase des akademischen Systems in den Siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts boomende soziologisch orientierte Kriminologie ist wieder von den Denkmodellen der Juristen abgelöst worden und die großen Ideen einer Reform der Strafen und Kontrollen durch kritisch kriminologische Aufklärung sind verblasst. Das alles ist natürlich nicht durch inneruniversitäre Veränderungen zu erklären, sondern steht im Kontext größerer Wandlungsprozesse, die - und hier liegt für die kritische Kriminologie die Tragik - zwar mit den Bordmitteln der Gesellschaftskritik analysiert werden können, aber keinerlei konstruktiven Anhaltspunkt für ein neues kritisches Projekt liefern.

Vergleichen wir die Konstellationen. In der euphorischen Hochphase des kritisch kriminologischen Projekts vor nunmehr knapp dreißig Jahren folgte auf die Kritik der herrschenden Verhältnisse der Entwurf eines Gegenmodells. Heute lässt sich ebenfalls eine Kritik der Verhältnisse formulieren, aber es fehlt die Idee zu einem neuen Gegenentwurf. Nach wie vor beharrt die kritische Kriminologie auf ihren Maximen: Hilfe statt Strafe, nicht einsperren, sondern Lebenschancen verbessern, rationales Augenmaß statt repressivem Populismus, Sozial- und Gesundheitspolitik, statt Kriminalpolitik. Diese Forderungen sind nicht verkehrt, aber sie haben sozusagen ihren intellektuellen Charme verloren. Theorien haben wichtigere Eigenschaften, als wahr zu sein. Wenn der kritisch-politische Mehrwert eines Denkansatzes verloren geht, dann beginnt der Diskurs schal zu werden, droht die sklerotische Akademisierung. Die aktuell zu beobachtende Tendenz zur intellektuellen Kolonisierung der Sozialwissenschaften im monoparadigmatischen Ghetto des szientistischen Elfenbeinturms - nicht nur im Bereich der Kriminologie - ist ein Symptom dieser Sklerotisierung. Der Prüfstein soziologischer Interpretationen und dementsprechend auch soziologisch inspirierter kriminologischer Theorien ist die durch sie zu erzeugende gesellschaftliche Resonanz. Soziologie ist nur bedingt eine kumulativ sich entwickelnde Wissenschaft, sie ist in erster Linie eine Form der institutionalisierten Selbstreflexion der Gesellschaft (oder sollte es zumindest sein). Für das Feld der intellektuellen Beschäftigung mit Kriminalität und Verbrechen gilt dies in besonderem Maße, da Außenseiter aus systematischen gesellschaftsstrukturellen Gründen eine große Bedeutung für die soziale Integration einer Gesellschaft haben. Dementsprechend war eine theoretische Deutung, die, wie die kritische Kriminologie, auf Inklusion setzte, in einer auf Inklusion setzenden Gesellschaft en vogue und mit dem sich abzeichnenden Übergang zur Exklusion als dominanter Strategie zur Regelung sozialer Probleme schwindet das Interesse an dieser Deutung und Gehör finden jene, die für Ausgrenzung und Bestrafung votieren. In dieser Situation auf den ebenso alten, wie zutreffenden Einsichten zu beharren, ist weder intellektuell befriedigend, noch politisch wirksam.

Man kann den Status quo konstatieren und den Stand der Dinge beklagen. Man kann auch die dialektischen Ironien nachzeichnen, die aus gut gemeinten Ideen perfektionierte Kontrollpolitiken gemacht haben, aber das ist nur die halbe Miete. Damit erzeugt man bestenfalls Achselzucken und kaum Zustimmung, geschweige denn erreichen solche Diagnosen und Analysen die Foren der kontrollpolitischen Diskussion. Was dem kritischen Auge als repressiv-punitiver Turn erscheint, wirkt aus der Sicht des Alltagsbewusstseins als eine notwendige und sinnvolle Reaktion auf reale Gefahren, denen mit entsprechend drastisch wirkenden Maßnahmen begegnet werden muss. Konnte die kritische Kriminologie einst aus der Position der intellektuellen und moralischen Überlegenheit vor einem interessierten Publikum argumentieren, so kultiviert sie heute den dystopischen Blick. Beides sind Varianten eines intellektuellen Habitus, dessen Wurzeln eher im neunzehnten, als im zwanzigsten Jahrhundert liegen und dem Geschichte als Verfallsgeschichte aus der Fallhöhe einer letztlich immer nur imaginierten, letztlich bürgerlichen Idylle erscheint. Man begegnet dieser Haltung exemplarisch in Adornos Kulturkritik, die ein Ideal verfolgt, das jenseits der Salons eines aufgeklärten und gebildeten Großbürgertums kaum eine Chance auf Realisierung hatte. Man findet diese Form der Kritik in der Kriminologie in all jenen Analysen, die an jeder Veränderung im Feld der kriminal- und kontrollpolitischen Theorie und Praxis präzise und elegant das Element der verdichteten Kontrolle diagnostizieren. Man findet sie in der diskursiven Praxis einer abgeschotteten esoterischen Gemeinschaft der kritisch Rechtgläubigen, die ihre Marginalität zum Merkmal ihres Elitenstatus stilisiert.

Konjunktur hingegen haben die Apostel der Ambivalenz. Verwischende Grenzen, erodierende Traditionen, paradoxe Verkehrungen und die irritierenden Spiegelungen der neuen Vielfalt und schnellen Richtungswechsel faszinieren die Reste einer interessierten Zuhörerschaft soziologischer Erzählungen. Das Problem dabei: für abweichendes Verhalten, Kontrolle und Kriminalität ist in diesen Erzählungen kein Platz vorgesehen und die Kriminologen können mit diesen Ideen nur wenig anfangen. Die Gründe dafür liegen, wie die Juristen es formulieren würden, in der Natur der Sache. Abweichung setzt immer eine Norm voraus und auch die Idee der Resozialisierung, der Inklusion und Wiedereingliederung macht nur Sinn, wenn ein halbwegs konsentierter Standard vorhanden ist. Die Gesellschaft als Patchwork der Minderheiten kennt keine Mitte mehr, von der aus ein Abstand zu messen wäre. Das erklärt vielleicht ein Stück weit die frenetischen Kriminalisierungsphantasien, den immer wieder ertönenden ebenso hilflosen wie wirkungsvollen Ruf nach Wegsperren und Ausgrenzen. Es erklärt aber auch die Nachlässigkeit gegenüber sozialen Missständen, die bestenfalls als individuelles Fehlversagen, schlimmstenfalls als misslungene Folklore, keinesfalls aber mehr als Aufforderung, sie im Interesse aller zu beseitigen, gedeutet werden. Auch die Konjunktur kriminologischer Interpretationen, die das Böse, das bisher als Folge der Lebensverhältnisse gedeutet wurde, nun über die - naturalistisch gefassten - Eigenschaften des Delinquenten zu identifizieren sucht, ist in diesem Kontext zu verstehen. Sie reagieren auf die Frage nach dem Element of Crime, das unter unübersichtlichen sozialen Verhältnissen im Unterholz der normativen Ambivalenz zu verschwinden droht, mit einer streng wissenschaftlichen Suche im Individuum. Über diese Gesellschaften lässt sich sinnvollerweise nur mehr reden, wenn man betont, dass sie ihre Ordnung lokal und selbst hervorbringen - eigentlich eine soziologische Binsenweisheit, aber eine, die bisher nicht gebührend berücksichtigt wurde. Die Soziologie hinkt mit ihren Interpretationen (und ihren Methoden) möglicherweise ihrem Gegenstand hinterher. Im Alltag verbreitet sich ein praktischer Konstruktivismus, während die Soziologen nach Strukturen suchen, ohne die Prozesse zu begreifen. Diese Diagnose, für die sich vielfältige Anhaltspunkte finden lassen, kann in unterschiedlichen Richtungen ausbuchstabiert und mit anderen zeitdiagnostischen Befunden verbunden werden. Die Orientierung an kurzfristigen Nutzenkalkülen, die eine normativ geprägte Handlungsorientierung ersetzt, der Übergang von einer Leistungs- zu einer Erfolgsgesellschaft, die Verbreitung von Sicherheitsdenken und das Misstrauen in die Stabilität der eigenen Lebenswelt, die Kurzfristigkeit sozialer Beziehungen, die aleatorische Haltung gegenüber Lebensplänen, die Rede von Bastelbiographien und Patchworkfamilien verweisen auf Entscheidungen, die von den Akteuren zwischen oft wenig wünschenswerten Alternativen getroffen werden müssen, für die selten gute Gründe zur Hand sind. Dabei bilden die Stilisierungen der Multioptionstheoretiker, die den Übergang vom Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit ausrufen, vermutlich nur die Realität eines kleinen Segments dieser Gesellschaften ab. Die Alternative eines Drogendelinquenten, ob er sich einer Entziehungskur in einer geschlossenen Einrichtung, einer Haftstrafe oder einer gemeinnützigen Arbeitsmaßnahme unterziehen soll, oder eines Arbeitslosen, der zwischen einer Umschulung, dem Bezug von Arbeitslosengeld oder dem Umzug in eine ökonomisch prosperierende Region zu wählen hat, sind vermutlich nicht die Fälle, von denen die normativen Phantasien der Anhänger der Multioptionsgesellschaft beflügelt werden. Prekarität ist die gerne vernachlässigte Rückseite der gesellschaftlich aufgenötigten Wahlfreiheit und Prekarität ist, wie Pierre Bourdieu uns in seinen letzten Schriften immer wieder erinnerte, überall. Das erklärt ein Stück weit auch die Gegenbewegungen, die auf den gemeinschaftlich strukturierten sozialen Nahraum setzen, von den Gated Communities bis zum Kriminalpräventiven Rat auf Stadtteilebene. Sie lassen sich deuten als Versuche, den Zerfall des Sozialen, der den politischen Raum in post-wohlfahrtsstaatlicher Manier neu strukturiert, zumindest auf der Ebene des privaten Lebens wiedererstehen zu lassen. Diese Privatisierung des Sozialen aber ist in neoliberalen Gesellschaften eine Frage des Vermögens - im Kant'schen, wie im Marx'schen Sinne. Damit aber verlieren auch die ideologisch-politischen Vorstellungen des rehabilitativen Ideals und des penological optimism, an denen sich auch die kritische Kriminologie orientierte, an Bedeutung. Denn die normativen Ideale einer gesetzestreuen Normalformbiographie, die den idealisierten Hintergrund der auf Integration zielenden kriminalpolitischen Ansätze bildete, verlieren ebenfalls an Bedeutung. Am deutlichsten sieht man das, wenn man die noch in den fünfziger Jahren verwendeten Indikatoren für soziale Pathologie mit den heutigen Lebensverhältnissen kontrastiert. Galten damals Scheidung, uneheliche Schwangerschaft, Arbeitslosigkeit oder häufiger Wechsel des Arbeitsplatzes als kriminologisch bedeutsame Merkmale sozialer Problemgruppen, so treffen diese heute auf einen erheblichen Teil der Normalbevölkerung zu. Ein vergleichbar griffiges Normalitätsprofil, an dem sich Devianz und Delinquenz bestimmen lassen, scheint nicht in Sicht.

In ähnlicher Richtung weisen die Slogans des Zeitgeists und der politischen Rhetorik. Die Maxime "no risk no fun" verbindet den Typ des cabriofahrenden Börsenanalysten mit den des delinquierenden arbeitslosen Jugendlichen aus den verarmenden Vorstädten der Metropolen. Und wer im politischen Raum fordert, es solle ein "Ruck" durch das Land gehen und ein jeder möge sein Schicksal in die eigene Hand nehmen, der darf sich nicht wundern, wenn diejenigen, die ihr Schicksal als besiegelt betrachten, zur Waffe greifen und sie gegen jene richten, denen sie die Verantwortung für die eigene Misere zuschreiben. Das heißt dann nicht Ich-AG, sondern Amoklauf.

Möglicherweise liegt ein Großteil der gegenwärtigen Misere des kritisch kriminologischen Projekts darin begründet, dass es keine kollektiv tragfähige Vorstellung eines besseren, erstrebenswerten Lebens mehr gibt, die über das spätfordistische Ideal der immerwährenden Prosperität bei anhaltender Vollbeschäftigung in Dauerarbeitsverhältnissen, die stabile Kleinfamilien ernähren, hinausweist.

Solche Überlegungen setzen sich aus der Sicht des derzeit dominanten soziologischen und kriminologischen Denkens schnell dem Verdikt des nur Spekulativen aus und werden von dort mit Befunden kontrastiert, die sie widerlegen sollen. Die Frage aber, was der Fall ist, in welcher Gesellschaft wir leben, kann unter Bedingungen einer Pluralisierung der Lebensformen und Weltsichten nicht mehr autoritativ beantwortet werden, vor allen Dingen nicht von einer Sozialforschung, deren kognitive Kultur auf der großflächigen quantitativen Erfassung zeitlich stabiler, gleichmäßig verteilter Merkmale individueller Einheiten basiert. Viele der Kategorien der traditionellen empirischen Sozialforschung bilden, polemisch formuliert, eher die Vorurteile derjenigen ab, die ihre selbstproduzierten Datenwüsten verwalten und an ihrer Ausdehnung arbeiten. Sie sagen wenig über die Gesellschaft, aber viel über die Soziologie aus. Oder wie Zygmunt Bauman es formulierte, die herrschende Meinung der Gesellschaftsanalyse ist immer noch am Modell der Gesetzgeber und Philosophenkönige ausgerichtet, statt sich der Herausforderung der neuen Rolle des Übersetzers zwischen scheinbar inkompatiblen und unzusammenhängenden Deutungen zu stellen. Die oft ridikulisierte Vielfalt der soziologischen Gesellschaftsdiagnosen spiegelt nicht nur die Notwendigkeiten des wissenschaftlichen Marketing wider, sondern auch die konstitutive Beliebigkeit homogenisierender Klassifikationsversuche unter Bedingungen der Unübersichtlichkeit. Jede dieser Diagnosen kann auf ihre eigene Empirie verweisen und jede hat ihre eigene Plausibilität, aber sie lassen sich nicht mehr synthetisieren und für einen Gesellschaftsbegriff, der die Unmöglichkeit seiner selbst konstatiert, fehlt der Soziologie das intellektuell-begriffliche Handwerkzeug.

Im Bereich der Kriminologie hat dieses Problem eine spezifische Ausformung angenommen. Die kategoriale Leitdifferenz trennt hier zwischen kriminellem und nicht-kriminellem Verhalten, zwischen Tätern und anderen. Die kritische Kriminologie war mit der Kritik dieser Trennung und dem Hinweis auf den sozial konstruierten Charakter dieser Unterscheidung der theoretischen und methodischen Selbstreflexion der allgemeinen Soziologie voraus. Auch in der traditionellen administrativen Kriminologie hat dieses Problem hinter dem Rücken der Kriminologen mittlerweile seine Folgen gezeitigt. Das Interesse ist hier von offiziell registrierter Kriminalität zu subjektiv wahrgenommenen Sicherheitsgefühlen, von offiziell registrierten Tätern, zu nicht registrierten Opfern gewandert. Begründet wurde diese Reorientierung teils mit politischen Argumenten - es handle sich um die Aufwertung der lange vernachlässigten Perspektive des Opfers und der subjektiven Wahrnehmung der Betroffenen - erklärbar aber ist sie auch durch die faktische Dekonstruktion der administrativ definierten Grundkategorien von Verbrechen und Täter. Es bedarf schon der hoch stilisierten Leiden des Opfers, um die repressiven Maßnahmen gegen den Täter im Angesicht seiner sozialen Dekonstruktion zu begründen und man benötigt den Popanz des auf Kriminalität zugespitzten subjektiven (Un)sicherheitsgefühls, um im Angesicht undramatischer objektiver Entwicklungen, einen umfassenden Kontroll- und Sanktionsapparat und eine entsprechende Gesetzgebung aufrechtzuerhalten.

Die Akteure des Kriminaljustizsystems wissen, dass in ihren Daten keine Realität abgebildet wird, sondern dass sie eine solche konstruieren. Sie wissen, dass die Zahlen der verschiedenen Statistiken wenig über eine reale Welt, aber viel über administrative Praktiken aussagen. Sie wissen, dass die Vorderseite der offiziellen Darstellung des Verbrechens und die alltäglich routinierte Handhabung der Verwaltung staatlicher sozialer Kontrolle wenig miteinander zu tun haben. Wie aber erfasst man etwas objektiv, von dem man weiß, dass seine Beschaffenheit zum Grossteil vom eigenen Agieren abhängt? Welchen Halt bietet eine Wirklichkeit, wenn nicht mehr geleugnet werden kann, dass sie selbst erfunden ist. (An dieser Stelle kommen nochmals die oben bereits erwähnten Monster und Bestien ins Spiel, denn sie liefern die passenden paradigmatischen Fälle, an denen sich zeigen lässt, dass es die kriminelle Bedrohung durch kriminelle Täter unzweifelhaft gibt.) Die Administration des Kriminaljustizsystems agiert, zumindest in ihren avancierteren Teilen, auf der Basis eines aufgeklärten Konstruktivismus und widersetzt sich, so gut es geht (und es geht in aller Regel nicht gut) den Versuchen einer politischen Funktionalisierung für symbolische Kreuzzüge. Während die Kriminalpolitik nach wie vor im Paradigma Crime Fight agiert, scheint sich in den Kontrollapparaten allmählich das Modell Peace Keeping durchzusetzen, das zumindest im Bereich der Massendelikte weniger auf hoheitliche Intervention und Kriminalisierung, als auf lokale und zivile Problemlösung im Schatten des Leviathan setzt. Möglicherweise wächst in der neuen Generation der administrativen Kontrollmanager ein strategischer Partner für eine Allianz der praktischen Vernunft im Bereich der Kriminalpolitik heran und möglicherweise sind es nur tradierte Berührungsängste und Selbstblockaden, die der kritischen Kriminologie den Blick in diese Richtung bisher verstellt haben.

Wäre also, so ein denkbares Zwischenergebnis der bisherigen Überlegungen, die kriminelle Bedrohung eine mediale Fiktion, das kritisch kriminologische Projekt eine vertrocknete Sumpfblüte im historischen Umfeld einer kurzen gesellschaftlichen Entwicklungsphase und bliebe ansonsten alles beim Alten: "Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen und zählen Sie nach, ob es mehr sind als letztes Jahr?!" Sollte man David Greenbergs Ratschlag folgen, der schon vor langer Zeit feststellte, dass es im kriminologischen Archipel nichts Aufregendes mehr zu erforschen gäbe, und man sich anderen interessanten Fragen zuwenden sollte? Kann man die Buchhaltung des Kriminaljustizsystems den administrativen Kriminologen überlassen und ansonsten hoffen, dass die europäischen Wohlfahrtsstaaten sich nicht zur Blaupause des amerikanischen Modells in der Kriminalpolitik entwickeln? Oder lohnt sich doch noch eine erneute kritische theoretische Anstrengung, ein Blick über den dystopischen Tellerrand, nachdem im Alltagsgeschäft der kriminologisch angeleiteten Reformen spektakuläre Erfolge nicht mehr zu verbuchen sind?

Ein Stichwort, an dem sich eine neue Perspektive erproben ließe, ist die Idee des Governing through crime. Die Vorstellung, dass politische Herrschaftsstrategien der Kontrolle, Legitimitätsbeschaffung und Loyalitätssicherung sich des Verbrechens bedienen, ist nun keineswegs neu (aber das war genau genommen der Labeling Approach als intellektueller Masterframe der kritischen Kriminologie in Deutschland auch nicht). Im Zentrum des Interesses steht hier nicht die Frage, wie gefährlich ist das Verbrechen wirklich, sondern es geht um die Entschlüsselung der Mechanismen, die Heinz Steinert einmal treffend symbolische Politik mit Menschenopfern genannt hat. Die kritische Kriminologie hatte das Verbrechen zunächst als Konstruktion entlarvt und es dann in einer als New Realism bezeichneten Gegenbewegung ernst genommen. In beiden Fällen aber ging es in erster Linie um das Verbrechen, um Taten und Täter und alles, was dazu gehört und erst in zweiter Linie um seine Verwendung als politische Ressource. Die Substitution von Sozialpolitik durch Strafpolitik, die Fokussierung der Politik auf das Thema kriminelle Bedrohung und die Dominanz des Themas Sicherheit sind Phänomene, die eine kritische Kriminologie sowohl theoretisch interessieren, als auch politisch herausfordern müssten. Empirisch wäre zu zeigen, auf welche Weise eine zunehmende Zahl von politisch zu bearbeitenden Problemen durch Kontrolle, Überwachung, Kriminalisierung und Einsperren gelöst werden. Das beginnt bei der Arbeitslosigkeit, setzt sich fort über die Drogenpolitik und endet bei der komplexen Thematik der Migration. Theoretisch ließe sich rekonstruieren, wie der Modus einer negativen Vergesellschaftung durch die Beschwörung einer kriminellen Bedrohung durch suitable enemies die klassischen Mechanismen der Loyalitätssicherung und Legitimitätsbeschaffung ergänzt, wenn nicht gar verdrängt. Eine Politik, die im positiven Sinne nicht mehr imstande ist, kollektiv bindende Entscheidungen durchzusetzen, social goods zu verteilen oder den Anschein einer prozeduralen Rationalität aufrechtzuerhalten, kann sich immer noch über die Gemeinsamkeit kollektiver Ängste und ihrer Bearbeitung durch symbolische Politik rechtfertigen. Und schließlich wäre der Vermutung nachzugehen, dass Kritik und Widerstand gegen jedwede Form von Herrschaft unter Bedingungen individuell erfahrener kollektiver Unsicherheit sich nicht folgenreich entfalten können, dass also z.B. die Produktion von Ängsten vor Amokläufern und Sexualverbrechern den Eltern von Kindern den Schneid abkauft, das Schulsystem zu kritisieren und sie statt dessen hinter populistischen Forderungen nach mehr Kontrolle auf dem Schulhof und im Klassenzimmer versammelt.

Welcher Typus von Empirie passte zu so einem Programm, das man in Paraphrasierung eines bekannten Slogans als taking the Politics of Crime serious bezeichnen könnte? Während die alte kritische Kriminologie der ideologisch-moralischen Auseinandersetzung über das Wesen der Kriminalität verhaftet blieb (es handelt sich, so in gebetsmühlenartiger Wiederholung der Kernsatz der kritischen KriminologInnen, um eine Konstruktion), hätte man aus der Perspektive des Governing through Crime auf die Art und Weise der öffentlichen Nutzung von Ängsten und Bedrohungen ebenso zu achten, wie auf die Verschiebungen in den Prozessen der Ent-, Um- und Neukriminalisierungen. Die alten Einsichten des Labeling Approach sind nicht falsch, aber es handelt sich hier, wie an anderer Stelle ausgeführt, um eine Art Wittgenstein'sche Leiter. Jetzt, wo wir (und viele andere) wissen, dass Kriminalität ein soziales Konstrukt ist, sollte die kritische Kriminologie sich der Frage zuwenden, wie und mit welchen Zielen und Mitteln hier konstruiert wird. So wäre etwa zu untersuchen, wie durch eine Politik der Strafen die neuen scheinbaren Freiräume in der Gesellschaft der Individuen abgesichert werden, es wären die Dynamiken der Ängste ebenso zu analysieren, wie die pädagogischen Modalitäten der medialen Kriminalitätsberichterstattung. All das könnte geschehen, ohne irgendwelche Hinweise darauf, dass die Wirklichkeit des Verbrechens eigentlich ganz anders ist, wie es die liebevollen Zoowärter des Labeling Approachs versuchten, als sie Führungen durch die Käfige der Nuts, Sluts and Perverts veranstalteten. Empirisch wäre zu zeigen, wie das Thema Kriminalität den öffentlichen Raum besetzt, wie in den unterschiedlichsten Medienformaten, auf den disparatesten Foren, vom Elternabend bis zum Europäischen Parlament, die Themen Sicherheit, Kriminalität und Kriminalitätsfurcht den politischen Raum strukturieren. Empirisch wären diese Fragen mit dem Instrumentarium des klassischen Methodenkanons der empirischen Sozialforschung nur bedingt zu bearbeiten. Es ist hier nicht der Ort für eine ausführliche Methodenreflexion der kritischen Kriminologie, aber einige Hinweise können die Richtung anzeigen, in der möglicherweise nach neuen empirischen Befunden zu suchen wäre. Exemplarisch sind hier die Studien der News Making Criminology oder der sogenannten qualitativen Viktimologie zu nennen, die sich nicht darauf beschränken, die reale Kriminalität oder die individuellen Unsicherheitsempfindungen als subjektive Befindlichkeiten zu erfassen, sondern ihr Augenmerk auf eine Dimension richten, die man als die Ebene der gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse bezeichnen könnte. Hier geht es um die Untersuchung des Inputs, um die Art von Information, das Wissen über das Verbrechen und die Kanäle über die es kommuniziert und verbreitet wird. Hier erschließt sich eine virtuelle Realität zwischen Tatort, Talkshow und Tagesschau, die mit der strikt empirisch zu nennenden mundanen Wirklichkeit des Verbrechens nichts zu tun hat, aber die alltägliche Wahrnehmung vermutlich in erheblichem Ausmaß prägt. Diese virtuelle Realität des Verbrechens ist soziologisch und gesellschaftstheoretisch viel prägender, als die reale Wirklichkeit der Einbrüche, Morde und Vergewaltigungen. Es genügt nicht, diese beiden in traditioneller ideologiekritischer Manier gegeneinander zu stellen. Das wäre ein Rückfall in die geschmähte Haltung der Dementierkriminologie. Worum es geht, ist die gesellschaftstheoretisch ambitionierte Analyse der Rolle von Verbrechen im Prozess der Ausübung von Macht, Herrschaft und Kontrolle, und da könnte man wieder bei Autoren wie Durkheim, Freud, Marx und Mead anknüpfen, deren Überlegungen allerdings in einer Gesellschaft anzuwenden wären, die mit der Empirie, die sie vor ihrer Haustüre vorfanden, nur mehr wenig gemeinsam hat.

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