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Heft 64: Modernisierung der Wohlfahrt... don't worry, be happy!

1997 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 64
  • Juni 1997
  • 128 Seiten
  • EUR 11,00 / SFr 19,80
  • ISBN 3-89370-264-4

Martin Seeleib-Kaiser

Der Sozialstaat und die Ware Arbeitskraft

Einleitung

In der Bundesrepublik kann zuweilen der Eindruck aufkommen, daß nahezu kein Tag vergeht, ohne daß von einer Krise bzw. "notwendigen" Reformmaßnahmen des Sozialstaates gesprochen wird. Als Legitimation hierfür wird in zunehmenden Maße die ökonomische Globalisierung bemüht. Als Vorbilder dienen die Hauptkonkurrenzländer: Wurde in den achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre zunächst Japan als Modell für die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik betrachtet, so stehen während der neunziger Jahre vor allem hinsichtlich der als notwendig erachteten Flexibilisierung der Arbeitsmärkte die USA im Mittelpunkt der Diskussion. Da die Entwicklung auf den Arbeitsmärkten eng mit der sozialpolitischen Entwicklung verknüpft ist bzw. im politischen Diskurs dieser Zusammenhang explizit hergestellt wird, möchte ich in diesem Essay auf die sozialstaatliche Sicherung Erwerbsloser in der BRD und den USA eingehen. Ich werde argumentieren, daß im Bereich der sozialen Sicherung für Erwerbslose während der vergangenen zwei Jahrzehnte in beiden Ländern eine qualitative Veränderung stattgefunden hat, obwohl insgesamt der Sozialstaat (noch) nicht ins Wanken geraten ist.

Sozialpolitik und die Ware Arbeitskraft - theoretische Erwägungen

Betrachtet man zunächst die Sozialausgaben insgesamt, so könnte man zu dem Ergebnis gelangen, daß bisher relativ wenig an sozialstaatlicher Veränderung passiert ist. Wirft man allerdings einen zweiten Blick auf die unterschiedlichen Funktionsbereiche der sozialen Sicherung und betrachtet diese nicht nach ihren absoluten Ausgaben, sondern den Pro-Kopf-Ausgaben, dann wird deutlich, daß vor allem der "Bereich Arbeitslosenversicherung" während der vergangenen zwei Jahrzehnte von einschneidenden Veränderungen betroffen gewesen zu sein scheint. Dennoch gibt diese etwas differenziertere Betrachtung der Ausgabenstatistik noch keine hinreichende Auskunft darüber, ob sich die Qualität des sozialen Sicherungssystems geändert hat. Um die möglichen qualitativen Veränderungen analysieren und bewerten zu können, bietet es sich an, eine Variable zu wählen, die in der Vergangenheit zur Bewertung des jeweiligen Wohlfahrtsstaates in der Sozialpolitikforschung herangezogen wurde. Schließlich erlaubt diese Vorgehensweise, die sozialpolitische Entwicklung im Längsschnitt genauer zu betrachten.

Karl Marx ging in seinem Werk Das Kapital davon aus, daß die Arbeitskraft im kapitalistischen Wirtschaftssystem als Ware zu betrachten ist, deren Kauf bzw. Verkauf durchaus mit demjenigen anderer Waren vergleichbar ist (Marx 1986: 181ff.). Daraus folgt, daß der Preis, in diesem Fall der Lohn, sich primär nach Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt richtet. Die (teilweise) Außerkraftsetzung dieses Warencharakters der Arbeitskraft kann als die zentrale Variable von Wohlfahrtsstaatlichkeit definiert werden (Esping-Andersen 1990) - in anderen Worten gilt es, die Frage zu beantworten, inwieweit die Ware Arbeitskraft mittels staatlicher Sozialpolitik hinsichtlich bestimmter sozialer Risiken vom Markt entkoppelt worden ist, d.h. nach dem Grad der de-commodification (1) (De-Kommodifizierung oder Entwarenformisierung).

Im Gegensatz zu vielen anderen sozialstaatlichen Sicherungen kann die Absicherung des Risikos Arbeitslosigkeit als zentraler Indikator für den Wohlfahrtsstaat insgesamt verstanden werden, da sie sich an einen Personenkreis richtet, der in der Regel von der Mehrheit der Bevölkerung als weniger "schützenswert" betrachtet wird, als dies beispielsweise bei Senioren oder Kranken der Fall ist - Nichtarbeit letzterer Personengruppen wird weitgehend als legitim betrachtet. (2) Die Arbeitslosenversicherung sowie die Sozialhilfe für erwerbslose Personen bieten in viel unmittelbarerem Maße eine Lohnsockelungsfunktion, die allerdings politisch prekär zu sein scheint. Sowohl die Arbeitslosenversicherung als auch die Sozialhilfe garantieren, daß unterhalb eines Mindestniveaus ein Arbeitnehmer bzw. Erwerbsloser ökonomisch nicht gezwungen ist, eine Arbeit anzunehmen, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Durch die Sicherung eines Mindesteinkommens außerhalb der Produktionssphäre wird der Lohndruck der 'industriellen Reservearmee' gemindert (so bereits Eduard Heimann 1929 zit. in Reidegeld 1996), d.h. das Mindestniveau hat auch Rückwirkungen auf die Erwerbstätigen insgesamt.

Bereits aus dieser kurzen Skizzierung wird deutlich, daß es notwendig ist, sowohl die Berechtigungskriterien als auch die jeweilige (relative) Lohnersatzrate als Indikatoren für den De-Kommodifizierungsgrad heranzuziehen (Esping-Andersen 1990: 47). Dennoch bleibt die schwierige Frage der Bewertung sozialpolitischer Veränderungen: Bedeutet eine bestimmte Absenkung einer Leistung in einem bestimmten Sozialprogramm eine gravierende Veränderung? Oder handelt es sich um eine gravierende Veränderung, wenn durch politisches Nichthandeln neu entstandene Problemlagen - wie etwa Langzeitarbeitslosigkeit - nicht bearbeitet werden, mit der Folge, daß ein steigender Anteil von Personen aufgrund sozio-ökonomischer Entwicklungen sozial ausgeschlossen wird? Daher erscheint es notwendig, nicht nur die Instrumentarien, sondern auch die Zielsetzung der jeweiligen Politik genauer zu betrachten. Sofern sozialpolitische Veränderungen mit einer Neudefinition der Zielsetzung einhergehen, könnte man von einer qualitativen Veränderung sprechen (Hall 1993).

Auf Grundlage dieses Bewertungsmaßstabes werde ich im folgenden zeigen, daß die Arbeitsmarktpolitik in den zwei Untersuchungsländern während der vergangenen zwei Jahrzehnte jeweils einen Prozeß der Re-Kommodifizierung erkennen läßt. Hierunter wird analog zum Begriff der De-Kommodifizierung eine verstärkte Wiederankoppelung der Ware Arbeitskraft an die Gesetze von Angebot und Nachfrage mittels sozialstaatlicher Instrumentarien verstanden, was jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Konvergenz der beiden Sozialsysteme hin zu einem "liberalen" Wohlfahrtsstaat ist. Unter Arbeitsmarktpolitik fasse ich hier die monetären Sozialtransfers auf der Basis des Kriteriums Arbeitslosigkeit - also unter Einbeziehung der Sozialhilfe - sowie die Regulierungen der Unterstützungsleistungen, die eine Eingliederung in den "regulären" Arbeitsmarkt ermöglichen sollen.

Der Fall USA

Staatliche Sozialpolitik spielte in den Vereinigten Staaten von Amerika über weite Strecken des "goldenen Zeitalters" - im Vergleich zu west- oder nordeuropäischen Staaten - nur eine untergeordnete Rolle. Die ökonomische Entwicklung bis zu Beginn der siebziger Jahre schien die begrenzte staatliche Intervention zu legitimieren, nachdem die Einkommensunterschiede zu einem gewissen Grad eingeebnet (vgl. Bierling 1995: 123) und über betriebliche Sozialpolitik, etwa durch Betriebsrenten bzw. betriebliche Krankenversicherungen, verschiedene soziale Risiken abgefedert worden waren (Allen 1969). Die Folge war, daß auch ein Job für un- bzw. angelernte Arbeitnehmer in den Großunternehmen der verarbeitenden Industrie den Weg zur sozialen Inklusion, d.h. in die US-amerikanische Mittelschicht bot. Während in den siebziger Jahren der Anteil sozial marginalisierter Arbeitnehmer stieg, wurde zum einen das international niedrige Niveau der De-Kommodifizierung offenkundig und kam es zum anderen in der Folge zu einem Richtungswechsel der Sozialpolitik auf der Ebene der Einzelstaaten sowie des Bundes. Nunmehr stand nicht mehr die wenn auch sehr langsame, so doch zunehmende Tendenz zur Neutralisierung des Lohngesetzes im Mittelpunkt, sondern eine Re-Kommodifizierung der Arbeitskraft. Instrumente dieses Re-Kommodifizierungsprozesses in der Arbeitsmarktpolitik waren:

a) die Absenkung der Transferleistungen und des Mindestlohns sowie eine Verschärfung der Berechtigungskriterien und

b) die Einführung "neuer" Instrumente, wie etwa steuerlicher Anreize hinsichtlich niedrig entlohnter Erwerbsarbeit sowie der Verschärfung des "Arbeitszwangs" in Sozialhilfeprogrammen (workfare).

a) Seit den siebziger Jahren sank die Leistungshöhe im bedeutsamsten bundesstaatlichen Sozialhilfeprogramm (AFDC) um über 40%. Hierbei handelt es sich um ein policy outcome, das maßgeblich auf eine Politik des Nichthandelns zurückgeführt werden kann, nachdem die Leistungen nicht an die Inflation gekoppelt und nur sporadisch in den Einzelstaaten angehoben worden waren. Zu Beginn der neunziger Jahre wurden dann allerdings in der überwiegenden Mehrzahl der Einzelstaaten auch absolute Leistungskürzungen verabschiedet. Auch unter der folgenden Administration des Demokratischen Präsidenten Bill Clinton änderte sich an der Entwicklung nichts. David T. Ellwood, Staatssekretär für Planung und Evaluation im Gesundheits- und Sozialministerium während der ersten Amtsperiode Clinton, begründete dies wie folgt:

"Das Problem mit dem gegenwärtigen Sozialhilfesystem ist, daß man durch eine Erhöhung der Leistungen die Aufnahme einer Erwerbsarbeit erschweren würde - dies steht außer Frage. In der Tat würde man dadurch die Sozialhilfeempfänger ermutigen, länger Hilfeleistungen zu beanspruchen" (Ellwood 1993: 23; Übers. msk).

Hinsichtlich der Arbeitslosenversicherung wurden primär seitens der Einzelstaaten sowie des Bundes die Berechtigungskriterien enger gefaßt. Zentraler Bestandteil dieser Maßnahmen war die Neudefinition von zumutbarer Arbeit. Seit einer Gesetzesänderung seitens des Bundes im Jahr 1980 gilt nunmehr für das Ergänzungsprogramm (extended benefits) folgende Definition: Zumutbar ist grundsätzlich jede Arbeit, ungeachtet der jeweiligen Qualifikation des Arbeitnehmers, sofern der Lohn mindestens den gesetzlichen Mindestlohn oder die Höhe der wöchentlichen Arbeitslosengeldleistungen gewährleistet (Blaustein 1993: 232). Diese gesetzliche Änderung hatte in gewisser Weise Vorbildcharakter für Änderungen seitens der Einzelstaaten (Blaustein 1993: 285f.). Ferner wurde die maximale Dauer des Leistungsbezugs durch die Streichung bzw. Einschränkungen bundesstaatlicher Ergänzungsprogramme reduziert. Resultat dieser Politik war unter anderem, daß lediglich zwischen 30 und 40% der Erwerbslosen während der achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre einen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung hatten; 1970 bezogen noch 76% der Erwerbslosen Leistungen (Seeleib-Kaiser 1996a: 255).

Nachdem dem Mindestlohn in den Vereinigten Staaten aufgrund des Fehlens von Flächentarifverträgen und der geringen und zudem abnehmenden Ausdehnung kollektiver Arbeitsverträge - 1990 "unterlagen" lediglich 18% aller Erwerbstätigen einem tarifvertraglich ausgehandelten Arbeitsvertrag (OECD 1994: 173) - eine besondere Bedeutung zukommt, sei an dieser Stelle auch darauf verwiesen, daß seine relative Höhe in den vergangen zwei Jahrzehnten deutlich gesunken ist. Belief sich der Mindestlohn während der siebziger Jahre noch auf etwa 46% des Durchschnittlohns, so lag er Mitte der neunziger Jahre bei etwa 36%. Obwohl er aufgrund einer Gesetzesänderung des Jahres 1996 im September dieses Jahres von $4.75 auf $5.15 ansteigen wird, liegt er damit noch immer etwa 15% unterhalb des Niveaus der siebziger Jahre. Um eine mit den siebziger Jahren vergleichbare Kaufkraft erzielen zu können, müßte er heute nach Berechnungen des Center on Budget and Policy Priorities bei $6.07 liegen (1996: 3).

b) In den achtziger Jahren wurde außerdem eine Verschärfung der Arbeitsverpflichtung für Sozialhilfeempfänger auf der Basis bundesstaatlicher Gesetzgebung durchgesetzt, wobei es den Einzelstaaten überlassen blieb, die Details zu definieren. Sofern bestimmte Kriterien erfüllt sind, ist seitdem der Sozialhilfeempfänger verpflichtet, eine Arbeit aufzunehmen oder an "Qualifizierungsmaßnahmen" teilzunehmen. Durch die Wohlfahrts"reform" von 1996 wurde neben der weitgehenden Übertragung der Regelungsbefugnisse an die Einzelstaaten auch die Arbeitsverpflichtung weiter verschärft, wurden bestimmte Personengruppen (v.a. Einwanderer) gänzlich vom Bezug der Sozialhilfe ausgeschlossen und damit auf den Arbeitsmarkt verwiesen, und wurde eine zeitliche Begrenzung von zwei Jahren für den fortlaufenden Bezug sowie eine fünfjährige Befristung des Sozialhilfebezugs im Lebensverlauf eingeführt (vgl. zu der jüngsten Gesetzesänderung Gebhardt 1997: 8).

Bereits im Jahre 1975 wurde der Earned Income Tax Credit (EITC) eingeführt, um Niedrigstlohnverdiener (working poor) mittels des Steuersystems zu unterstützen. Hierbei handelt es sich um eine Art Steuerfreibetrag, der in bestimmten Fällen die Wirkung einer negativen Einkommensteuer aufweist; anstatt also Steuern zu zahlen, bekommt der Empfänger eines niedrigen Lohnes über das Steuersystem eine Transferleistung des Staates. Neben einer beschränkten Kompensation für die regressiven Sozialversicherungsbeiträge war es die Intention des Gesetzgebers, vor allem die Aufnahme niedrigst entlohnter Beschäftigung zu fördern. Bereits während der achtziger Jahre und schließlich zu Beginn der Clinton-Administration wurde dieses Instrumentarium weiter ausgebaut. 1996 kamen schätzungsweise 20 Millionen Haushalte in den Genuß dieser Transferleistung (Seeleib-Kaiser 1996a: 258f.).

Parallel zu diesen sozialpolitischen Veränderungen und zum Teil sicherlich durch sie mitbedingt, stieg die Anzahl der atypischen und prekären Beschäftigungsverhältnisse an. Zudem lagen 1993 die Stundenlöhne von über 20% der männlichen Arbeitnehmer unterhalb der offiziellen Armutsgrenze für eine vierköpfige Familie, wobei zwanzig Jahre zuvor der Prozentsatz bei "lediglich" 13,1% lag (Mishel/Bernstein 1995: 127).

Der Fall Bundesrepublik Deutschland

Wie allgemein bekannt ist, baut das System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik auf dem Prinzip der Sozialversicherung auf. Dennoch wurde die Sozialhilfe durch die Reformen der Jahre 1962 und 1974 in eine - zumindest im Vergleich zu den USA - nahezu universale Grundsicherung transformiert. Auch hinsichtlich der Arbeitslosenversicherung baute man den De-Kommodifizierungsgrad in den sechziger Jahren und zu Beginn der siebziger Jahre signifikant aus. Nachdem diese Programme jedoch aufgrund der ansteigenden Arbeitslosigkeit unter finanziellen Druck gerieten, wurden seit Mitte der siebziger Jahre Reformen durchgesetzt, die

a) eine Reduzierung der Leistungen sowie Einschränkungen hinsichtlich der Berechtigungskriterien und

b) die stärkere Betonung von "Arbeitsverpflichtungen" bzw. die Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten im zweiten Arbeitsmarkt für Sozialhilfeempfänger (Hilfe zur Arbeit) beinhalteten.

a) Im Bereich der Sozialhilfe kam es zu relativen Leistungsreduzierungen, da in der Politik zunächst kein Konsens darüber hergestellt werden konnte, die Leistungen den veränderten Lebensverhältnissen der Arbeitnehmer anzupassen, und da man in der Folge in zwei Wellen - zu Beginn der achtziger und erneut zu Beginn der neunziger Jahre - den Leistungsanstieg deckelte. Lag das Sozialhilfeniveau für einen alleinstehenden Hilfeempfänger 1972 noch bei 61% des durchschnittlichen Einkommens eines alleinstehenden Arbeiters, so sank es bis 1980 auf 51% ab, bevor es seit Mitte der achtziger Jahre bei 55% stabilisiert wurde (Höft-Dzemski 1994) - nach den Deckelungen des Sozialhilfeanstiegs in den neunziger Jahren dürfte das Niveau erneut abgesunken sein. Diese Entwicklung dürfte zudem durch die Verschärfung des Lohnabstandsgebotes zu Beginn der neunziger Jahre verstärkt worden sein (Steffen 1994). Hinsichtlich der Arbeitslosenversicherung haben die verschiedenen Bundesregierungen durch Verschärfungen der Berechtigungs- und der Zumutbarkeitskriterien darauf hingewirkt, das Arbeitslosengeld zunehmend auf die "Arbeiteraristokratie", d.h. auf die älteren und auf diejenigen Erwerbslosen, die "lediglich" von Kurzzeitarbeitslosigkeit betroffen sind, zu beschränken. Ähnlich wie in den USA war auch hier die Abnahme der Anspruchsberechtigten unter den Arbeitslosen die Folge. Auch wenn die Höhe des Arbeitslosengeldes für Erwerbslose mit Kindern nur marginal gekürzt wurde (68/67%), so sank die Lohnersatzrate für Erwerbslose ohne Kinder von 68 auf 60% des vorangegangenen Nettolohns. Im November 1994 bezogen siebzig% der Arbeitslosen diesen niedrigeren Leistungssatz (Seeleib-Kaiser 1996b: 150ff.). Von Beginn der achtziger bis Anfang der neunziger Jahre sank die durchschnittliche Höhe des Arbeitslosengeldes um 14% und der Arbeitslosenhilfe um etwa 20% (OECD 1996: 57). Aber offenbar reichten diese Maßnahmen der Bundesregierung nicht aus, so daß sie im Frühjahr 1997 das Arbeitsförderungsgesetz erneut in wesentlichen Teilen änderte, wobei alle Neuerungen darauf ausgerichtet sind, erwerbslose Personen möglichst schnell wieder aus dem Leistungsbezug und in den Arbeitsmarkt zu drängen. Instrumentarien sind die Änderung der Zumutbarkeitskriterien sowie die Einführung von sogenannten Eingliederungsverträgen und "Trainingsmaßnahmen" für Arbeitslose (vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1997 sowie Sell 1996).

b) Seit Mitte der achtziger Jahre nutzen verschiedene Bundesländer verstärkt das Instrumentarium der "Hilfe zur Arbeit" um "erwerbsfähige" Sozialhilfeempfänger in den Arbeitsmarkt zu (re-)integrieren. Mit der Verabschiedung des "Gesetz[es] zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms" wurde die Verpflichtung des Sozialhilfeempfängers, zumutbare Arbeit oder eine zumutbare Arbeitsgelegenheit aufzunehmen, stärker betont, wobei ebenfalls die Verpflichtung der Sozialhilfeträger hervorgehoben wurde, entsprechende Arbeitsgelegenheiten zu schaffen. Nach einer Analyse der "Hilfe zur Arbeit" in Bremen fanden nach Abschluß der Maßnahme lediglich 26% der TeilnehmerInnen einen Arbeitsplatz (Jacobs 1995: 40ff.). Unmittelbar nach der Beendigung der Maßnahme bezogen 67% Arbeitslosengeld und waren damit auf die Bundesanstalt für Arbeit verwiesen (Jacobs 1995: 87); aus der Sicht der Sozialhilfeträger handelt es sich also um ein hervorragendes Instrumentarium der Kosten(rück)verlagerung auf den Bund und nicht notwendigerweise zur sozialen Integration. Der CDU-Bundestagsabgeordnete, Ulf Fink, faßt diese Politik wie folgt zusammen:

"Studien zeigen, daß sich diese Maßnahmen je nach Familienstand für die Gemeinden nach einem, spätestens zwei Jahren auszahlen, weil dann die eingesparten Sozialhilfemittel höher sind als der Aufwand für die Arbeitsmarktmaßnahmen" (Fink 1997: 75).

Von denen, die einen Job gefunden hatten, mußte sich jedoch ein Großteil mit einer atypischen oder prekären Beschäftigung zufriedengeben (Jacobs 1995: 40ff.). Verstärkt wird der Druck auf die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger nach der jüngsten Sozialhilfe"reform" dadurch, daß künftig die Sozialämter die Höhe der Leistung um 25% kürzen müssen, sofern der Sozialhilfeempfänger keine "zumutbare" Arbeit annimmt. Auch diese Regelung geht davon aus, daß ein beachtlicher Anteil erwerbsfähiger Sozialhilfeempfänger nicht arbeiten will und daher notfalls gezwungen werden müsse. Die politischen Gründe hierfür faßt Fink so zusammen:

"Wenn ein Sozialhilfeempfänger nicht arbeitet, wenn er nicht krank ist, und wenn er keine Kinder oder Pflegebedürftige zu versorgen hat, und er dennoch die ihm angebotene Arbeit ablehnt, dann ist es nur recht und billig, daß ihm die Unterstützung des Staates zumindest teilweise entzogen wird. In den Studien des Dt. Städtetages steht, daß jeder dritte Sozialhilfeempfänger die ihm angebotene Arbeit verweigert hat. Wie waren aber die Konsequenzen? Sie waren von Gemeinde zu Gemeinde sehr unterschiedlich. ... Der Vorschlag der Kürzung der Sozialhilfe um 25% bei Verweigerung zumutbarer Arbeit setzte sich im Bundesrat schnell durch. Es waren vor allem eine Reihe von Ministerpräsidenten, auch der SPD, und Finanzpolitiker, die sich für diesen Vorschlag starkmachten" (Fink 1997: 75).

Aus diesen Argumentationsmustern wird deutlich, daß es nicht primär um die Beseitigung struktureller Probleme auf dem Arbeitsmarkt geht, oder darum, die sich aus diesen ergebenden sozialen Risiken abzusichern, sondern darum, das Individuum als Problem zu begreifen und Kosten einzusparen bzw. auf eine andere staatliche Ebene zu verlagern.

Warum Re-Kommodifizierung?

Die Fallstudien zeigen, daß es in den vergangenen zwei Jahrzehnten in den beiden Ländern zu ähnlichen sozialpolitischen Antworten gekommen ist, obwohl die Bundesrepublik Deutschland und die USA in der vergleichenden Sozialpolitikforschung unterschiedlichen Regimetypen (Esping-Andersen 1990) zugeordnet werden. Primäres Ziel der Politik scheint es heute nicht mehr zu sein, das soziale Risiko Arbeitslosigkeit abzusichern, sondern vielmehr, mittels repressiver Instrumente den betroffenen Personenkreis in den Arbeitsmarkt zu drängen, die teilweise Entkoppelung der Ware Arbeitskraft vom Markt aufzuweichen und damit die Arbeitnehmer erneut stärker den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen - ein Prozeß, der als zunehmende Re-Kommodifizierung verstanden werden kann. Verstärkt wird dieser Prozeß durch die "implizite Entrechtlichung" (implicit disentitlement) (Standing 1995: 179ff.), die unter anderem durch die Zunahme von prekären Beschäftigungsverhältnissen sowie Scheinselbstständigkeiten ohne hinreichende soziale Absicherung hervorgerufen wird. Wie am Beispiel der USA exemplifiziert worden ist, besteht zwischen den sozialpolitischen Veränderungen und der Entwicklung der Arbeitsmarktstrukturen eine gewisse Interdependenz. Es erscheint also aufgrund der US-amerikanischen Erfahrungen plausibel, anzunehmen, daß zukünftig auch große Teile der Beschäftigten in der Bundesrepublik, die sich heute noch vor signifikanten Kürzungen und Veränderungen im sozialen Sicherungssystem sicher wähnen, indirekt die Konsequenzen der Verschärfungen für Erwerbslose über ein Absinken des Lohnniveaus zu spüren bekommen werden.

Die skizzierten Politikreaktionen können grundsätzlich als starkes Indiz für ein neues soziales Regulierungsmuster verstanden werden, das durch die von der ökonomischen Globalisierung und dem Globalisierungsdiskurs bedingte Machtverschiebung zwischen den politischen Akteuren, d.h. zunächst einmal zwischen Arbeit und Kapital, verursacht wurde. Allerdings muß an dieser Stelle hervorgehoben werden, daß aufgrund unterschiedlicher institutioneller Arrangements und politischer Traditionen nicht von einer Konvergenz der sozialpolitischen Wege der zwei Länder gesprochen werden kann und somit Unterschiedlichkeiten bestehen bleiben. Allerdings ist der Verweis auf eine monokausale Erklärung, also auf die durch die Globalisierung bedingte Machtverschiebung zwischen Arbeit und Kapital unzureichend, um die Frage zu beantworten, warum es gerade im Bereich der Transferprogramme für Erwerbslose zu den beschriebenen einschneidenden Veränderungen kam und nicht etwa in der Rentenversicherungs- oder in Bereichen der Gesundheitspolitik, die in der Regel den überwiegenden Anteil der sozialpolitischen Ausgaben ausmachen. Die Initiierung dieser Programme kann zwar - implizit trifft dies auch in den USA zu - ebenso als Errungenschaft der "Sozialdemokratie" verstanden werden wie die Transferprogramme für Arbeitslose. Jedoch bildete sich im Laufe der Geschichte gerade in der Rentenversicherung und der Gesundheitspolitik jeweils ein starkes, kaum von parteipolitischer Einflußnahme bestimmtes Arrangement mit einer begrenzten Anzahl institutioneller Akteure heraus, die ein unmittelbares Interesse am eigenen Fortbestand haben und somit insgesamt ein äußerst stabiles Subsystem bilden. In den Politikfeldern der bundesrepublikanischen Gesundheits- und Rentenpolitik sowie im Falle der US-amerikanischen Rentenversicherung charakterisiert der Begriff "gesellschaftliche Selbstregelung" (Mayntz/Scharpf 1995) die politischen Entscheidungsprozesse zutreffend. Gleichzeitig kommt diesen Sozialprogrammen zugute, daß es sich jeweils um eine Absicherung von Risiken handelt, bei denen eine "allgemeine Problembetroffenheit" (Heinelt 1993: 309) vorliegt, die im Falle der Arbeitslosigkeit - v.a. der Langzeitarbeitslosigkeit - nicht gegeben ist. Somit bieten sowohl die Rentenversicherungssysteme als auch der Bereich der Gesundheitspolitik durch ihre politisch-institutionelle wie auch gesellschaftspolitische Abschottung keine leichten Angriffspunkte zur Durchsetzung der Interessen von Unternehmen und Kapital in einer globalisierten Ökonomie.

Im Bereich der Sozialhilfe und Arbeitsmarktpolitik sind Arrangements der institutionellen "gesellschaftlichen Selbstregelung" in den zwei Staaten entweder nie vorhanden gewesen, wie etwa in den USA, oder sie werden, selbst wenn sie formal vorhanden sind, wie etwa im Falle der Arbeitslosenversicherung in der Bundesrepublik, zunehmend von hierarchischen und hoch politisierten Entscheidungsverfahren überlagert. Auf der anderen Seite sind die Erwerbslosen eine derart heterogene und nur gering in das jeweilige arbeitsmarktpolitische Regime eingebundene Gruppe, daß sie kaum in der Lage sind, ihre Interessen auf Dauer zu organisieren und hinreichend im politischen Prozeß zu artikulieren. Hinzu kommt, daß die Gewerkschaften sich aus dem Dilemma von "Bestandsrationalität versus Kollektivinteresse" (Hinrichs/Wiesenthal 1986) nur sehr schwer befreien und somit nicht als originäre Interessenvertretung für die Erwerbslosen wirken können. Als ungeschützte und institutionell kaum abgesicherte Gruppe bieten sich die Arbeitslosen also geradezu dafür an, die Opferrolle zu übernehmen. Es wäre heute bestimmt verfrüht, den Wohlfahrtsstaat in seiner Gänze für überholt erklären zu wollen. Doch ohne gravierende Veränderungen in der Balancierung von Marktkräften und regulativer staatlicher Kompetenz muß es zumindest als naheliegend erscheinen, daß die Transformation der Arbeitsmarktpolitik nur der Anfang einer langen Folge weiterer Transformationen des modernen Wohlfahrtsstaates ist.

Anmerkungen

1. Das englische Wort commodity bedeutet "Ware". Sozialpolitik und ihre Instrumente - v.a. Rechte und Geldleistungen - ermöglichen Erwerbstätigen, zumindest teilweise der Warenform ihrer Arbeitskraft zu entrinnen.

2. In diesem Zusammenhang sei auf die Frühverrentungsmöglichkeiten während der achtziger Jahre sowie die relativ hohe Lohnersatzrate im Falle von Krankheit in der Bundesrepublik erwähnt. Auch nach der Gesetzesänderung des vergangenen Jahres liegt die Lohnersatzrate im Falle von Krankheit bis zu 20 Prozentpunkte über der Lohnersatzrate bei Arbeitslosigkeit.

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