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Heft 7: Lebenssatt – Altsein und älterwerden

1983 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 7
  • Juni 1983
  • 152 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-025-9

Rolf Schwendter

Alter als Gegennorm
Zwei Beispiele bei Brecht und Giroudoux

1.

Wir wissen zwischenzeitlich, daß das Alter eine unter verwertungsprozeßlichen Gesichtspunkten uninteressante Lebenszeit ist. Daß das, was an Ware Arbeitskraft vorhanden war, verbraucht worden ist, daß daher alle restlichen Unterhaltskosten bis zum Tode als "faux frais" (tote Kosten) zu verrechnen sind. Daß die Höhe der Renten für einen Teil denn auch danach ist - wie auch die Höhe der Sozialhilfebeiträge, der Arbeitslosenhilfen, der Stipendien gemäß Bundesausbildungsförderungsgesetz. Daß aus dieser Nichtmehrverwertbarkeit (verbunden mit den Erfahrungen eigenen Schmerzes aus der Zeit eigener Unverwertbarkeit, nämlich der Jugend) verschiedene normative Erwartungen der anderen resultieren: alte Leute haben asexuell zu sein, sich als graue Mäuse zu kleiden, sich durch politisches Desengagement (und kontinuierliche Dankbarkeit) auszuzeichnen und den Gestus der Trauer zu übernehmen, als ob es sich um den griechischen Chor in persona handeln würde.

2.

Die beispielsweise genannten normativen Erwartungen, die im allgemeinen auch erfüllt worden sind, haben auch zur Folge gehabt, daß (im Gegensatz zur Jugend) das Alter kaum unter subkulturtheoretischen Gesichtspunkten betrachtet worden ist. Unter Subkultur werden bekanntlich Gruppierungen verstanden, die sich in einem wesentlichen Ausmaße in ihren Werten, Normen, Verkehrsformen, Bedürfnissen, Einrichtungen etc. von solchen der Gesamtgesellschaft unterscheiden - und, im progressiven Falle, emanzipatorische Gegennormen setzen. Geschichtliche Sachverhalte, wie auch ein Großteil der Empire zeitgenössischer Meinungsforschung, scheinen auch im allgemeinen dieses Unterbleiben gerechtfertigt zu haben. Schließlich galt der "Rat der Alten" (der "Senat") über Jahrtausende als Wahrer der Normen des jeweiligen Establishment par excellence; die Klagen pazifistischer Liedermacher über die (herrschenden) alten Männer, die die Jungen in die Kriege schicken, sind Legion; das Akzeptieren der jeweils etablierten Norm korreliert häufig sehr hoch mit dem Alter. Erst im letzten Jahrzehnt ist das Alter als Gegennorm etwas mehr ins Bewußtsein getreten: zu denken ist an die US-amerikanischen "Grey Panthers", wie auch an den Wuppertaler Seniorenschutzbund.

3.

Davon soll aber in diesem Aufsatz nicht die Rede sein. Ich will vielmehr versuchen, an Hand von zwei literarischen Darstellungen idealtypisch zu zeigen, worin Alter als Gegennorm bestehen könnte. Dabei ist in der Tat auffällig, daß eine Gemeinsamkeit zwischen den realen subkulturellen Bewegungen alter Menschen und den fiktiven Beispielen der Literatur, Bertolt Brechts "Unwürdiger Greisin" und Jean Girandoux' "Irrer von Chaillot", besteht: In beiden Fällen sind die Protagonistinnen des Alters als Gegennorm Frauen. Nun ist bekannt, daß die gesamtgesellschaftliche Norm unter anderem zentral darin besteht, daß Männer überwiegend Lohnarbeit, Frauen überwiegend Hausarbeit, "Schattenarbeit" (Illich), unbezahlte Zwangsarbeit (Claudia von Werlhof) zu leisten haben. Es ist zunächst naheliegend, davon auszugehen, daß die Lage der nicht in Lohnarbeit verwerteten Frau fließender in die Lage der nicht in Lohnarbeit verwerteten Greisin übergeht, als dies beim ehemals lohnarbeitenden Mann der Fall ist.

4.

Worin bestehen nun die Normen von Brechts "Unwürdiger Greisin"?

In dieser kurzen Geschichte (sie umfaßt nur sechs Seiten) wendet Brecht allein eine Seite auf, um nachzuweisen, wie normkonform die Frau vor dem Tod ihres Ehemanns, bis in ihr 72. Lebensjahr, gelebt hat. Sie hat bis zum Überdruß "Schattenarbeit"/unbezahlte Zwangsarbeit geleistet. Sie hat ohne Magd den Haushalt besorgt, und für Mann, Gehilfen und Kinder gekocht. Sie hat mit kärglichen Mitteln fünf Kinder großgezogen; sie hat sieben geboren. Ihre Normabweichungen beginnen erst mit dem Tod ihres Mannes. Und, wie es sich gehört, nehmen auch in der Brechtschen Dramaturgie ihre Kinder die Rolle der Agenten gesamtgesellschaftlicher Norm ein. Die Bescheidenheit, der Charakter der "kleinen Schritte", ihrer Normabweichungen wird vom Autor immer wieder hervorgehoben:

  • Die "unwürdige Greisin" will mit keinem ihrer Söhne zusammenziehen. Sie will alleine wohnen und "nur von jedem ihrer Kinder, das dazu imstande war, eine kleine geldliche Unterstützung annehmen".
  • Sie hält auch ansonsten mit ihrer Familie nur einen losen Kontakt aufrecht.
  • Sie besucht das Kino, was sich damals für alte Frauen nicht gehört und zudem hinausgeworfenes Geld bedeutet.
  • Sie geht nicht zu den respektablen Kaffeegesellschaften des Städtchens, sondern besucht schlecht beleumdete, dafür halbwegs interessante Leute, die zudem politisch links stehen.
  • Sie (die zeitlebens für ein Dutzend Menschen gekocht hat) beginnt damit, jeden zweiten Tag im Gasthof zu essen.
  • Als nächstes fährt sie "an einem gewöhnlichen Donnerstag" mit einem Pferdewagen an einen Ausflugsort; danach reist sie in eine größere Stadt, zu Pferderennen. (Ihr kompakt-majoritärer Sohn erwägt erstmals die Psychiatrisierung der alten Dame.)
  • Sie freundet sich mit einem (möglicherweise behinderten) Mädchen an, mit der sie ins Kino und auf Besuch geht, Rotwein trinkt, Karten spielt, und der sie einen Hut schenkt.
  • Schließlich nimmt sie auf das Haus ("ohne Wissen ihrer Kinder") eine Hypothek auf; wahrscheinlich verschenkt sie das Geld.
  • Sie gestattet sich "im letzten halben Jahr ... gewisse Freiheiten ..., die normale Leute gar nicht kennen", etwa, um drei Uhr morgens spazieren zu gehen.

Nach zwei Jahren stirbt sie plötzlich: "Sie hatte die langen Jahre der Knechtschaft und die kurzen Jahre der Freiheit ausgekostet und das Brot des Lebens aufgezehrt bis auf den letzten Brosamen".

5.

Jean Giraudoux hat seine Protagonistin, Aurélie, als "Irre von Chaillot" bezeichnet. Es bleibt ambivalent, ob er sie damit als psychiatrisierbar oder als normativ abweichend wähnt. Im Gegensatz zur "unwürdigen Greisin" ist sie mit einer Subkultur (ein Vertreter des Establishments nennt sie einmal einen "Jahrmarkt der Wunder") integriert. Sie lebt mit Kellnern, Straßensängern, Hausierern, Küchenmädchen, Behinderten, alten Frauen, und zwar seit Jahrzehnten. Als ihre abweichenden Normen können angesehen werden:

  • Sie kleidet sich nach Moden, die mindestens ein Jahrhundert zurückliegen.
  • Anstatt Normen der Bürokratie mag sie Verhaltensweisen, die mit Trost, Verteidigung des Lebens, Liebe zusammenhängen.
  • Sie verfügt eigenwillig über Namen, Ideen und Fakten, vor allem der Vergangenheit.
  • Sie fühlt sich häufig verfolgt, und hat wahrscheinlich auch recht damit.
  • Ihre Wertschätzung der Medien geht so weit, täglich nur eine einzige Zeitung zu lesen, und zwar die vom 7. Oktober 1896.
  • Eine Welt, in der man nicht von morgens bis abends glücklich ist, ist nicht zu ertragen, sondern es muß dagegen gehandelt werden.
  • Sie hält ihren Mittagsschlaf in einem Kellergeschoß, das sich dann als Ort der Verschwörung entpuppen sollte.
  • Sie ist (und das ist für 1944 erstaunlich) Ökologistin; selbstredend ohne diesen Namen zu kennen. Sie haßt Benzin und Erdöl. Nichts Schlimmeres kann sie über eine Person sagen, als daß diese Pflanzen oder Tiere schädigt. Sie ist stolz darauf, keinen Müll zu hinterlassen: sie verbrennt ihre abgeschnittenen Nägel, und streut ihre Asche aus. Nach der Befreiung erscheinen Deputationen der Retter von Tierrassen und Pflanzenarten. Ebenso ist sie gegen Stadtsanierung und Vergeudungsproduktion.
  • Dinge, die in der Einbildung existieren, existieren - bei entsprechender Vereinbarung - ebenso wie Dinge, die faktisch existieren. "Sprechende Gegenstände sind etwas ganz Normales. Es ist das gleiche Prinzip wie bei den Schallplatten. Die Menschen haben soviel vor ihnen gesprochen, daß sie jetzt ein Echo von sich geben."

6.

Entstammt Brechts "unwürdige Greisin" dem schattenarbeitenden Alltagsleben einer Hausfrau, die sich in ihren letzten beiden Lebensjahren schrittweise emanzipiert, so Giraudoux' "Irre" einer phantastischen Subkultur, in der die gesamtgesellschaftlichen Normen ohnehin vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Auffällig ist dabei, daß im imaginären Umfeld Giraudoux' das Establishment, gegen das das Alter als Gegennorm anzutreten hat, bei weitem brutalere Züge annimmt, als in der kleinstädtischen Enge Brechts. Beschränkt sich dort die Ausgrenzung der abweichenden Alten auf die Frage des bürgerlichen Sohns, ob denn ein Arzt zwecks Psychiatrisierung einzuschalten sei, erwecken hier die etablierten Präsidenten, Barone, Makler, Prospektoren und Journalisten einen so furchterregenden Eindruck, daß Giraudoux gegenüber Brecht schon nahezu als der bedeutendere Realist erscheint: "Wenn wir eines Tages unseren Planeten von allem entleert haben, was ihn im Gleichgewicht hält, was sein inneres Mengenverhältnis bestimmt, dann läuft er Gefahr, aus der Himmelsbahn zu geraten ... (Prospektor, S. 16). "... wo wir vorübergekommen sind, erhebt sich kein Gras und kein Zeichen menschlicher Größe mehr" (Prospektor, S. 17). Oder, vor allem: "Unsere Macht vergeht, wo die fröhliche Bedürfnislosigkeit sich erhält, wo die Dienerschaft verachtungsvoll und störrisch ist und die Verrücktheit hochgeehrt und umschmeichelt wird" (Präsident, S. 22). "... es wird für mich nur ein Kinderspiel sein, Chaillot von dieser Horde zu befreien" (Makler, S. 25). Bevor die imaginäre Aktion zur Vernichtung des Establishments anläuft (seine 350 ausgewählten Vertreter werden unter dem Vorwand, unter Paris sei Erdöl zu entdecken, in eine Sackgasse des Kanalisationssystems gelockt), wird der Irren von Chaillot so ziemlich alles angedroht, was alten Leuten widerfahren kann: Ihr wird ein Papier vorgelegt - unter dem Vorwand, es sei die Gewinnbeteiligung -, durch das sie auf alles zu Gunsten der anderen verzichtet (Präsident, S. 92). Die Provision ist eine Fälschung (ebenda). Unter einem anderen Vorwand soll sie als verrückt eingesperrt werden - "Die Irrenanstalt ist bereits verständigt" (Prospektor, S. 94). Sie wird - als schwerhörig ausgegeben - als "Dromedar" beschimpft (Syndikus, S. 95), ihre Umgebung als "Dante im Inferno" und sie als Gewinnerin des "Prix Goncourt für alte Hexen" (Direktor, Generalsekretär, S. 96). Auch bei den Presserechten soll sie übers Ohr gehauen werden (ebenda).

7.

Es fällt auf, daß an keiner Stelle erwähnt wird, wie die "Irre von Chaillot" zu ihrem Lebensunterhalt kommt. Aber auch dies ist, wider Willen, realistisch. Ob sie, die sich nicht nur jeder Verwertbarkeit entzieht, sondern den Verwertungsprozeß als Weltzerstörungsprozeß aktiv (metaphorisch) bekämpft, nun Fürsorgerente, Altersrente oder Invalidenrente (als "Irre") erhält, oder aus umverteilter Revenue ihrer Freunde lebt, ist dann auch schon egal.

8.

Obgleich beide alte Damen von den sie beschreibenden Autoren in höchst verschiedene Lebensumstände gesetzt worden sind, haben sie doch so viel miteinander gemeinsam, daß von ersten Ansätzen des Alters als Gegennorm gesprochen werden kann: Beide ziehen aus der Tatsache ihrer verwertungsprozeßlichen Unbrauchbarkeit den Schluß, an die entsprechenden gesamtgesellschaftlichen Normen nicht mehr gebunden zu sein. Beide leben allein, haben aber lockere, sie befriedigende Kontakte zu Gruppierungen, die gesamtgesellschaftlich nicht als respektabel gelten. Beide geraten in gemäßigter Weise in ein politisch-radikaleres Umfeld, die eine in ein sozialdemokratisches, die andere (wie wir heute sagen würden) in ein ökologisches. (Nebenbei sind beide zufälligerweise mit einem Küchenmädchen befreundet.) Beide gestatten sie sich "gewisse Freiheiten, die normale Leute gar nicht kennen", und bei beiden hängt dies mit der Durchbrechung linearer Zeitstrukturen zusammen. (Die "unwürdige Greisin" geht um drei Uhr morgens spazieren. Aurélie widmet einen großen Teil ihrer Zeit ihrer - anachronistischen - Garderobe, ihren Imaginationen und Spaziergängen.) Beide schließlich zeichnen sich durch zunehmende Gleichgültigkeit gegen hochgeschätzte materielle Güter aus: Die unwürdige Greisin belegt ihr Haus mit einer Hypothek, und Aurélie findet, daß der (scheinbare) Goldbarren recht gut zur in den Kanalschächten untergehenden Gesellschaft paßt. Durch beide Frauengestalten zieht sich auch eine Art permanentes abweichendes Verhalten im Alltagsleben: was der einen Kino und Pferderennen bedeuten, ist für die andere die Wertschätzung des Imaginären und die immergleiche Zeitung.

9.

Gewiß kann dies nur eine Skizze sein, und es gibt eine Menge von Gegenständen, die weder in der kurzen Erzählung Brechts noch in dem Stück Giroudoux' zum Tragen kommen. So sind die Nonnen zur Arbeit nicht eindeutig: sie scheinen sich positiv auf Kleinproduktion und Dienstleistungen (vom Flickschuster über den Gasthof bis zum Kanalräumen und Lumpensammeln) zu beziehen und negativ auf die Großproduktion (die freilich hier, bei Brecht ausgeblendet bleibt). Ähnliches gilt für die Sexualität (die bei der "unwürdigen Greisin" gar nicht vorkommt, und bei Aurélie nur in Form einer idealistischen Monogamie). Doch allein die Kohärenz des in dieser Skizze Aufgezeigten würde hinreichen, zu überprüfen, ob noch in anderen literarischen Manifestationen ähnliche Darstellungen des Alters als Gegennorm vorkommen, und ob es hierzu Querverbindungen zu den realen Altenbefreiungsbewegungen gibt.

Rolf Schwendter, Professor an der Gesamthochschule Kassel, OE Sozialwesen; Adresse: Heinrich-Plett-Str. 40, 3500 Kassel

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