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Heft 31: Politik des Sozialen

1989 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 31
  • Juni 1989
  • 92 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-049-6

Zu diesem Heft

Vor gut fünf Jahren versuchten wir in der Widersprüche-Redaktion, eine Position zur alternativen Sozialpolitik zu erarbeiten. "Alternativ" bezog sich dabei negativ sowohl auf die in den siebziger Jahren vorherrschende sozialdemokratische Verstaatlichung des Sozialen, als auch auf die Anfang der Achtziger Jahre von der konservativ-liberalen Regierung forcierte Politik der Privatisierung sozialer Konflikte und des Abbaus von Sozialstaatlichkeit. Drei Perspektiven einer alternativen Sozialpolitik deuteten wir dabei an:

Zum ersten wurde eine soziale Garantie gefordert. Damit meinten wir eine egalitäre Strategie eines garantierten Mindesteinkommens unabhängig von der Lohnarbeit.

Zweitens setzten wir gegen die sozialstaatliche bürokratisierte Versorgung wie gegen die Privatisierungsstrategien sozialer Konflikte das Konzept einer Produzentensozialpolitik. Diese meint, daß die Betroffenen selber bestimmen, was ihre psychisch-sozialen Probleme sind, damit in die Bereiche derer Verursachung eingreifen zu können.

Eine dritte Ebene alternativer Sozialpolitik hätte sich auf die politische und institutioneile Durchsetzung zu beziehen, da eine alternative Sozialpolitik die sozialstaatlichen Institutionen nicht unverändert lassen kann, wenn sie ihre Ansprüche nach sozialer Garantie und Definitionsmacht durch die Betroffenen gesellschaftlich und politisch ernst nimmt.

Insgesamt sind diese unsere Überlegungen noch unbefriedigend, vorläufig und fragmentarisch geblieben. Zudem bezogen sie sich relativ eng auf die existierende Sozialpolitik und orientierten sich an ihr. Daher schien es uns sinnvoll zu sein, den Ansatzpunkt für einen neuen Zugang zur Sozialpolitik bei den Subjekten, den Akteuren in der Sozialpolitik zu suchen. Politisch würde dies implizieren, die Handlungsfähigkeit und Lebenswirklichkeit der Menschen selber als analytischen und strategischen Ausgangspunkt zu nehmen.

2. Vor diesem Hintergrund planten wir die im November 1988 durchgeführte Tagung "Politik des Sozialen", und zwar mit folgenden Schwerpunkten: Zum einen wollten wir unsere subjekt-theotischen Voraussetzungen klären: Die Subjekte konstituieren ihr Soziales selber, und zwar in Auseinandersetzung mit sozialstaatlichen Definitionen und Regulierungen. Die vielfältigen Lebenspraxen der Subjekte gehen dabei aber in den Definitionen (wie auch immer) staatlich institutioneller Perspektiven nicht auf, vielmehr verbinden sie sich mit diesen an bestimmten Kreuzungspunkten, an denen dann wiederum Weichen für engere oder weitere Regulationskanäle gestellt werden. Neuere empirische Untersuchungen der Biographie, der alltagsorientierten und der Lebenslagenforschung könnten solche Schnittstellen und Kreuzungspunkte deutlich werden lassen, könnten klären, wie die Subjekte als Produzenten des Sozialen sozial-politische Regulierungen verarbeiten.

Der zweite Schwerpunkt sollte auf der Politik des Sozialen als Gestaltung von Geschlechterverhältnissen liegen. Frauen kommen als Subjekte in der sozial-politischen Regulierung so gut wie nicht vor, durch die Zuweisung in die Sphäre der Familie sind sie aus diesem Kontext quasi ausgegrenzt. Vielmehr lassen sich sozialstaatliche Regulierungsweisen und Definitionen zur Konstituierung von Frauenexistenz entlang des weiblichen Lebenszusammenhanges "als Norm" und in den jeweiligen Abweichungen davon nachzeichnen. Die Verarbeitungsweise einer derartigen Logik durch die Frauen selber verweist auf mannigfaltige Brüche und Aufweichungen (verwiesen sei hier nur auf die hohen Scheidungsziffern, die abnehmenden Geburtenquoten, die vermehrte und weiterhin ansteigende Erwerbsttätigkeit der Frauen). Gefragt werden müßte, wie aus unterschiedlichsten individuellen weiblichen Strategien selbst-mächtige und kollektive Perspektiven werden können, die sich nicht auf die Übernahme männlicher Normalitätsstandards beschränken, sondern Differenz bei Gleichheit anstreben.

Der dritte Schwerpunkt sollte sich mit der Politik des Sozialen als Gestaltung von Konflikten innerhalb und zwischen den Klassen beschäftigen. Adressatinnen der Sozialpolitik sind ja nicht nur die von deren Maßnahmen Betroffenen, sondern auch diejenigen Gruppierungen, welche ein spezifisches Interesse an der Aufrechterhaltung hegemonialer Strukturen haben (Parteien, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände,...). Diese haben ein Interesse daran, die strukturellen Klassenkonflikte gesellschaftlich stillzulegen bzw. zu modifizieren. Wir wollten also auch fragen, welche hegemoniale Arbeits- und Alltagsmoral durch die verschiedenen sozialpolitischen Regulierungen hergestellt bzw. verändert wird.

In der Durchführung der Tagung lag der Schwerpunkt der Referate und Diskussionen - nicht zufällig - auf der Thematisierung der Politik des Sozialen als Gestaltung des Geschlechterverhältnisses. Die Debatte um unsere Subjekt-theoretischen Klärungen fehlte weitgehend. Der Themenbereich "Politik des Sozialen" als Gestaltung des Verhältnisses zwischen den Klassen wurde nur am Rande thematisiert. Zwar läßt sich wohl ein Kartell der hegemonialen Kräfte und deren Interesse an sozial-politischen Regulierungen thematisieren; die Frage nach denjenigen sozialen Gruppen, die ein Interesse und auch die potentielle Macht hätten, einen anderen "way of life" gesellschaftlich zu propagieren und in Praxis ansatzweise zu realisieren, war von uns jedoch angesichts Individualisierung und Pluralisierung von Lebenslagen schwer zu thematisieren.

Nicht zufällig stand das Thema einer Politik des Sozialen als Gestaltung des Geschlechterverhältnisses deshalb im Zentrum, weil hierzu aus diversen Frauenforschungsansätzen mittlerweile etliche Arbeiten vorliegen. Bezog sich das Forschungsinteresse zunächst darauf, die Logik der sozial-politischen Forschung, welche die Zweiteilung von Arbeit und Familie tradiert und damit Frauen als Subjekte nicht thematisiert, zu entlarven, so gibt es mittlerweile Ansätze, die über die Frage: was leisten die bestehenden Sicherungssysteme für Frauen bzw. was leisten sie nicht? hinausgehen und nach einer neuen Logik sozialer Politik fragen, welche die Gleichheit der Geschlechter bei Differenz zum Ausgangspunkt nimmt.

Darüber hinaus stand dieses Thema vermutlich deshalb überraschend-neu im Zentrum der Tagung, weil wir unser Konzept traditionell-alt angelegt hatten: In der Vorbereitung hatten wir das Geschlechterverhältnis zu einem "Konkretisierungsbereich", also zu einer Frage der Perspektive und Analyseebene unter anderen gemacht. Hier hatte sich durch die Hintertür die klassische Haupt- und Nebenwiderspruchsdebatte also wieder eingeschlichen. Jedoch arbeitet feministische Gesellschaftsanalyse und Wissenschaftskritik ja gerade daran, Geschlecht als zentrale sozial-konstitutive Kategorie einzuführen. Hierüber zu sprechen ist Voraussetzung, bevor Mann und Frau auf die Subjekte in den gesellschaftlichen Prozessen Bezug nehmen, da wir sonst immer wieder nur in der Nachzeichnung der geschlechtlichen Sozialcharaktere steckenbleiben.

Zu den Beiträgen:

Die Beiträge dokumentieren inhaltliche Vorbereitung, Verlauf und Auswertung der Tagung. Zunächst präsentiert die Redaktion der Widersprüche in dem Artikel: "Sozialpolitik und Politik des Sozialen" noch einmal die Entwicklung ihres Diskussionszusammenhanges und ihres Zugangs zum Politikfeld der Sozialpolitik. Vor diesem Hintergrund macht sie dann ihr Interesse an der durchgeführten Tagung und deren Schwerpunktsetzung deutlich.

Das einleitende Referat von Niko Diemer: "Für eine Politik des Sozialen mit vielen Fragen" sucht den Begriff "Politik des Sozialen" zu klären und fragt in diesem Zusammenhang nach den Bedingungen von Subjektivität. Vor dem Hintergrund der Krise des Sozialstaats (Infragestellung des lebenslangen Lohnarbeitsmodells, Kritik der Institutionenlogik, Brüchigkeit des Sozialcharakters), Brüchen im Geschlechterverhältnis (Aufweichung der Trennung zwischen entlohnter und nicht entlohnter Arbeit, Politisierung der Kinderfrage) fragt er, wie sich das Soziale denken läßt, welche gesellschaftlichen Koalitionen und Bündnisse in welchen Bereichen möglich sind, welche sozial-politischen Absicherungen der neuen sozialen Kulturen es bedarf.

In seinem Artikel "Lebensweise und Sozialstaat" versucht Karl August Chassé die grundlegenden Veränderungen zu beschreiben, die die Bedingungen von Sozialpolitik neu definieren. In einem ausführlichen ersten Teil expliziert er seinen regulationstheoretischen Ansatz, der ihm im weiteren dazu dient, die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zu beschreiben. Schwerpunkt seiner Analyse ist die Entwicklung neuer Lebensweisen, die mit dem Begriff der Individualisierung bislang oft nur unzulänglich erfaßt wurden. Im Verlauf der Analyse der mit der Individualisierung verbundenen Erscheinungen wie Entpolitisierung, Verschwinden traditioneller Milieus etc. stellt Chassé immer wieder den Zusammenhang her zwischen der Veränderung der Wirtschaftsform und der Form der individuellen Reproduktion, ein Zusammenhang, der seiner Meinung nach der Schlüssel zum Verständnis von Sozialpolitik ist.

Birgit Geissler stellt in dem Artikel: "Sozialpolitik für Frauen: zunächst einmal gleiche Rechte" dar, wie sozialpolitische Forschung die Zweiteilung von Arbeit und Familie bislang weithin tradiert hat. Des weiteren listet ihr Beitrag auf, was die bestehenden Sicherungssysteme - die Familiensubsidiarität als konstitutiv für Frauen immer vorausgesetzt - für die Frauen leisten. Ausgehend von den systematischen Unterschieden in den Lebensläufen von Männern und Frauen (geschlechtsspezifische Normalbiographien) verdeutlicht sie an den Normalbiographien junger Frauen den Konfliktbereich: Erwartungen an Erwerbssituation, Vorstellungen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und entstandardisiertes normales Unterbeschäftigungsverhältnis als künftige Normalität und daraus resultierende Konsequenzen hinsichtlich der Einstellung zur sozialen Sicherung. Der Artikel schließt mit einigen Anstößen für mögliche Alternativen in der Sozialpolitik, die den Veränderungen in der Lebenssituation junger Frauen angemessen sein können.

Im Mittelpunkt des Beitrages von Ulrike Martiny: "Einige Voraussetzungen für eine Politik des Sozialen" stehen die ca. 10 Mio. nicht verheirateter Frauen in der BRD, die, - so die These der Autorin - falls erwerbstätig, in der Lage sind, Gefühle und Existenzsicherung auseinanderhalten und sich somit sozial den Männern annähern zu können. Ulrike Martiny fragt, was Frauen daraus machen und wie die politischen Regulierungstendenzen darauf reagieren. Sie plädiert für eine stärkere Berücksichtigung der "persönlichen Beziehungen" bzw. soziale Rückhalte: denn nicht verheiratete Frauen haben keine institutionalisierten persönlichen Beziehungen.

Verena Fesel thematisiert in ihrem Beitrag: "Subjekte und Akteurinnen der Sozialpolitik" das Verhältnis professioneller Sozialarbeiterinnen zu ihren Klientinnen, ausgehend vom Berufsethos der Gründerinnen der ersten sozialen Frauenschulen. Sie zeigt auf, wie sich im Verlaufe der Geschichte professioneller sozialer Arbeit Verberuflichung und Vermethodisierung dergestalt durchsetzten, daß sich schließlich die Expertin und die Hilfesuchende gegenüberstehen, daß der Lebenszusammenhang auf den Fall reduziert wird, daß das Ziel der Professionellen ist, die Klientin hin zur Normalität zu führen. Auch durch die Initiierung sozialarbeiterischer Projekte im Zusammenhang mit der neuen Frauenbewegung wurde dieser Herrschafts-Hilfe-Zusammenhang nicht grundsätzlich in Frage gestellt, vielmehr wurde er verschleiert dadurch, daß sich nun Expertin und Klientin durch ihren gemeinsamen Opferstatus definieren, durch das verallgemeinerbare Negative.

In ihrem Beitrag "Am Staat vorbei?" geht Ilona Ostner auf die Schwierigkeiten feministischer Sozialarbeit ein, die konfrontiert ist mit Lebenslagen von Frauen, die aus der Integration in die Erwerbsarbeit nicht alle Problemlösungen schöpfen kann. Sie bestreitet, daß unter dem momentanen und zu erwartenden sozialpolitischen Bedingungen sich die Frage nach Entkoppelung von privaten Beziehungen und Existenzsicherung für die Mehrheit der Frauen überhaupt stellen kann. Folglich plädiert sie hinsichtlich sozialpolitischer Perspektiven für eine Doppelstrategie: sowohl für die Absicherung der traditionellen Bereiche (also auch Schutz, Stützung von Ehe), gleichzeitig auch für Strategien von Mindesteinkommen, Arbeitszeitverkürzung, Quotierung.

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