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Heft 28: Soziale Arbeit - Akteurinnen und Instanzen

1988 | Inhalt | Editorial | Leseprobe

Titelseite Heft 28
  • September 1988
  • 108 Seiten
  • EUR 7,00 / SFr 13,10
  • ISBN 3-88534-0460-18

Timm Kunstreich, Friedhelm Peters

Die "heimlichen" Adressaten der Sozialarbeit
Ansatzpunkte zur Rückgewinnung des Politischen

Wer ist Adressat der Sozialarbeit?

Auf den ersten Blick scheint diese Frage unsinnig zu sein, besteht doch kein Zweifel, wer Adressat der Sozialarbeit ist - nämlich die Klientin/der Klient. Alle Handlungskonzepte drehen sich um dieses Verhältnis, wobei je nach Standort die Klientinnen unterschiedliche Benennungen erfahren: Betroffene, Adressaten oder die entsprechenden Zielgruppen: Jugendliche, alleinstehende Frauen, Haftentlassene, Obdachlose, Alte - wobei in letzter Zeit verstärkt darauf gelenkt wird, all diese Bezeichnungen in der weiblichen Form zu verwenden, da es sich hier in der Mehrheit um Frauen handelt.

Aber auch in mehr analytisch angelegten Untersuchungen oder in entsprechenden Forschungen bleibt der implizite oder explizite Bezugspunkt der zwischen Sozialarbeiterin und Klientin. Ebenfalls ist in allen Professionalitätsmodellen dieses Verhältnis struktureller Ausgangspunkt - egal, ob ein stärker diagnostisch/defizit-orientiertes oder ein stärker auf den Alltag und die Kompetenzen der Betroffenen setzendes Modell gemeint ist.

Eines haben (fast) alle Äußerungen über das Verhältnis Sozialarbeiterln / Klientln gemeinsam: Es sind normative Aussagen. Ihre gemeinsame Grundstruktur ist in der Regel ein Modell, was Sozialarbeit "eigentlich" sein soll. Die Realität kann daran gemessen nur defizitär sein.

Stephan Wolff hat vor allem den handlungsorientierten Konzepten ihre normativen Konstrukte deutlich nachgewiesen und versucht, die Fragestellung umzudrehen: Sozialarbeiterlnnnen handeln in ihrem Berufsalltag kompetent. Mit ethnologischem Scharfblick beobachtet er die Alltagsrealität der Sozialarbeiterinnen und stellt fest, daß diese noch am wenigsten durch die soziale oder personale Realität der Klientinnen oder Gruppen geprägt wird, sondern von dem möglichst rationellen Umgang mit vielen bürokratischen und administrativen Hürden und Problemen.

Aus seinen Beobachtungen zieht er den Schluß, daß der Klient/die Klientin nicht der Hauptadressat sein kann, sondern die jeweils politisch bedeutungsvollen und mächtigen Gruppierungen innerhalb einer Kommune, die über die Regularien und die Ressourcen entscheiden. In diesem Sinne stellt er fest: Aufgabe der Sozialarbeit ist die "Produktion von Fürsorglichkeit".

Folgt man diesem Gedanken so weit, stellt sich fast automatisch die Frage: Wer sind diese mächtigen Gruppierungen, die diese Produktion von Fürsorglichkeit brauchen? Welche gesellschaftspolitischen Ziele werden damit verfolgt? Welche Bedeutung haben Dissens und Konsens für diese Gruppierungen?

Diese und vergleichbare Fragen zu stellen und dafür Antworten zu finden, ist nur für die Sozialarbeit/Sozialpädagogik relativ neu. In anderen Wissenschaftsbereichen haben diese Fragen eine lange Tradition. Sie können hier nur kurz angerissen werden.

Schon Anfang der 60er Jahre entwickelten Bachrach und Baratz eine konfliktorientierte Analyse von Machtstrukturen in Gemeinden. Anders als bis dahin üblich, stellten sie nicht die Frage nach den gemeinsam geteilten Werten, sondern fragten umgekehrt nach den systematischen Nicht-Entscheidungen, die objektiv möglich gewesen wären, aber nie in einen "Entscheidungskorridor" von Mächtigen oder weniger Mächtigen hineintransportiert wurden.

Die Produktion einer bestimmten Art von Fürsorglichkeit könnte mit diesem Instrumentarium genauer bestimmt werden: z.B. warum in der Stadt X die Sozialarbeit vor allem von Freien Trägern organisiert ist, in der Stadt Y aber vor allem kommunal. Auch die unterschiedliche Anzahl von Sozialarbeiterinnen, die sich anhand von "sozialen Indikatoren" mühelos ermitteln lassen, könnte auf diese Weise sinnvoll geklärt werden.

Nun ließe sich einwenden, daß viele der Organisationsmittel, die der Sozialarbeit zur Verfügung stehen, bundesweit gesetzlich normiert (JWG, BSHG) sind, und insofern kommunalen Machtgruppen nicht zur Disposition stehen.

Wie Offe in seiner beispielhaften Analyse eines Reformprojekts (der Berufsbildungsreform) deutlich macht, lassen sich die Überlegungen kommunaler Konfliktforschung auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene nutzbringend anwenden. Noch einen Schritt weiter gehen die kritischen Kriminologen (zusammenfassend: Hess/Steinert 1986), die explizit davon ausgehen, daß der Adressat des Strafrechtes nicht die Kriminellen sind, sondern die an einer bestimmten Ausprägung des Strafrechts interessierten gesellschaftlichen Gruppierungen, d.h., daß sie das Strafrecht in erster Linie als hegemonialen Konsens der Herrschenden und Herrschaftsunterworfenen analysieren.

Auf die Sozialarbeit übertragen würde das bedeuten, diese selbst als aktiven Teil der ideologischen Staatsapparate (Althusser, Poulantzas) zu betrachten, deren Adressaten sowohl der herrschende "Block an der Macht" als auch die subaltern gehaltenen Gruppierungen sind.

Sozialarbeit als hegemoniales Kräftefeld

Den Ausgangspunkt, diese Überlegungen zu präzisieren, bietet uns Antonio Gramsci, wenn er sagt: "Der verbreitetste methodische Fehler in der Analyse der helfenden Berufe liegt darin, an der Spezifik, an der herausgehobenen Besonderheit ihrer Tätigkeit anzusetzen und nicht am ganzen System der Beziehungen, in dem sie und damit Gruppen, die sie repräsentieren, als Teil des Gesamtkomplexes der gesellschaftlichen Beziehungen ihren Platz finden. Alle Menschen sind SozialpädagogInnen, Sozialarbeiterinnen und Therapeutinnen usw. könnte man deshalb sagen; aber nicht alle Menschen haben die Funktion von Sozialpädagoglnnen, Sozialarbeiterinnen und Therapeutinnen usw..."

Die/der informierte Leserin wird gemerkt haben, daß wir an diesem Zitat einige Veränderungen angebracht haben: statt Sozialpädagoglnnen, Sozialarbeiterinnen usw. steht im Original: Intellektuelle.

Gramsci schlägt also vor, am "ganzen System der Beziehungen, in dem die Sozialpädagogen und die Gruppen, die sie repräsentieren, als Teil des Gesamtkomplexes gesellschaftlicher Beziehung "zu analysieren".

Um die Sache nicht zu sehr zu komplizieren, beschränken wir uns auf die Jugendarbeit.

Begreifen wir "Jugend" nicht als biologisch-anthropologische Grundkonstante, sondern als eine gesellschaftliche Kategorie, die eine bestimmte Existenzform kennzeichnet, so ist "Jugend" eine gesellschaftliche Wertung (social censure-Sumner), die zwar auch u.a. Merkmale des Alters beinhaltet, im wesentlichen aber eine spezifische Form gesellschaftlicher Reproduktion kennzeichnet. Jugend kommt auf diese Weise also doppelt vor: Zum einen als eine empirisch feststellbare, in sich reich gegliederte Gruppe mit mehr oder weniger umstrittenen Definitionsmerkmalen, zum anderen als ein Diskurs darüber, was "Jugend" sein soll, besetzt mit Symbolen des "typisch Jugendlichen", aber auch mit Zuschreibungen des gesellschaftlichen Wandels bzw. des Neuen oder gar der Rebellion.

"Jugendhilfe" ist entsprechend eine staatliche oder staatlich regulierte Veranstaltung zur Reproduktion eben dieses "doppelten" Verhältnisses. Dabei ist Jugendhilfe immer in ihren differenzierten Beziehungen zu anderen gesellschaftlichen Veranstaltungen zur Herstellung von "Jugend" zu sehen. Ist ihr Verhältnis in der Unterabteilung "Jugendpflege" (offene Jugendarbeit, Häuser der Jugend) eher durch das zum Teil kompensatorische, zum Teil subsidiäre Verhältnis zu Arbeit und Schule gekennzeichnet, so realisiert sie im Bereich der "Jugendfürsorge" (Soziale Dienste, öffentliche Erziehung) sowohl symbolisch wie real die Sortierfunktion in "gute" und "böse" Jugendliche. Ihre strukturelle (und aus der Erfahrung der betroffenen Jugendlichen auch biographische) Nähe zur Konstitution von Jugendkriminalität ist offensichtlich und immer wieder Gegenstand von Untersuchungen.

"Jugendhilfe" als gesellschaftliches Subsystem läßt sich deshalb konkreter beschreiben als ein kondensierter Machtkonflikt zwischen und innerhalb von Klassen bzw. Klassenfraktionen, da es sich sowohl um ein wirkliches Reproduktionsverhältnis handelt als auch um einen Konflikt darüber, was "Jugend" sein soll. Dieser Konflikt erscheint in Zeiten eines vorherrschenden Konsenses gar nicht mehr als solcher, sondern nur in Phasen, in denen die herrschende Definition von Jugendlichkeit in Frage gestellt wird.

Als Beispiel für einen derartigen Konsens ist die normative Idealfigur des Jugendlichen zu sehen, wie er sich z.B. noch 1973 aus den Einweisungsgründen in die öffentliche Erziehung (Hamburger Jugendbericht) herauslesen läßt - indem man einfach die dort aufgeführten Symptome mit ihrem Gegenteil besetzt: Der Jugendliche ist freundlich und offen gegenüber anderen Menschen, kontaktfreudig, begeht keine Eigentumsdelikte, ist ruhig und ausgeglichen, geht aus eigenem Antrieb zur Schule und zur Arbeit, geht mit eigenen und fremden Sachen pfleglich um und ist ohne Probleme "sauber" geworden. Erst dadurch, daß neu auftretende Gruppierungen diesen Konsens in Frage stellten, wurde der Konstruktcharakter derartiger Definitionen deutlich. Die Jugendlichen als empirisch vorfindbare, einmalige Persönlichkeiten spielen in diesen Auseinandersetzungen nur insoweit eine Rolle, als sie entweder in diese Definitionsschemata hineinpassen oder nicht.

Die Art und Weise, wie derartige Konsense sich stabilisieren, verändern oder in Frage gestellt werden, ist aber nicht aus der Jugendhilfe selbst abzuleiten, sondern aus dem jeweiligen Kontext, in dem Jugendhilfe agiert. Unter diesem Aspekt sind Adressaten der Jugendhilfe eben nicht die Jugendlichen selbst, sondern die Gruppen, die die Jugendhilfe ausüben und die durch die Professionellen in der Jugendhilfe repräsentiert werden.

Die Referenzgruppen dieser Professionellen liegen also außerhalb des Professionellen in politischen Grundströmungen. Die entsprechenden Grundoptionen sind Klassenfraktionen übergreifende Repräsentationen grundlegender, in sich relativ konsistenter, normativer Weltbilder bzw. faktischer Gesellschaftstheorien. Drei derartige Grundströmungen lassen sich unterscheiden:

- Die Konservativ-liberale (der Liberalismus war bei uns immer schon so auf dem Hund, daß er nie eine wirklich eigene Strömung entwickeln konnte), die im wesentlichen familialistisch, eher ständisch und fürsorglich belagernd, ansonsten auf Markt und Subsidiarität setzend ein Bild des Jugendlichen zeichnet, dessen normatives Leitbild der "institutionell integrierte Jugendliche" ist (Becker/May).

- Die sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Grundströmung setzt auf zentralistische, staatliche Versorgung und Verteilung von Ressourcen. Wenn auch durch die Staatsfixierung gebrochen, sind in diesen Optionen viele Tendenzen der traditionellen Arbeiterbewegung virulent: Berufliche Ausbildung, Arbeitsplatzsicherheit, Versorgung mit den lebensnotwendigen Grundgütern gelten auch für die Versorgung von Jugendlichen, wobei hier die Leitfigur des männlichen Facharbeiters mit lebenslanger, fester Arbeitsposition dominiert.

- Die sozialistisch-grün-alternative Strömung ist diffus, da sie (noch) nicht so etabliert ist wie die anderen beiden. Auch hier wird auf Teilhabe gesetzt, allerdings stärker unter dem Aspekt der Selbstorganisation bzw. der Betonung der unterschiedlichen Normalitätsentwürfe und subkulturellen Ausprägungen, wozu auch gehört, Jugend als relativ eigenständige Lebensform zu betrachten.

Diese Grundorientierungen sind notwendig mehrdeutig und inkonsistent, damit möglichst viele Gruppierungen mit unterschiedlichen Interessen sich an diesen Grundoptionen orientieren können und sich darin "aufgehoben" sehen.

Daß diese Herangehensweise an die Adressaten der Sozialarbeit nicht theoretischer, sondern durchaus praktischer Natur ist, dafür zwei Beispiele:

Der Konflikt um die sozialtherapeutische Gruppenarbeit bzw. mobile Kinder- und Jugendarbeit in Hamburg 1986/87

Als eine Konsequenz aus der Ermordung eines jungen Türken durch Skins wurde gefragt, inwieweit hier die bisherige Jugendarbeit nicht auch versagt habe. Diese Frage wurde nicht von irgendwem, sondern vom damaligen 1. Bürgermeister gestellt. Diesen "Auftrag" erhielt eine progressive Jugendamtsadministration. Sie entwickelte ein Konzept Mobiler Kinder- und Jugendarbeit, die in Form von Straßensozialarbeit vor allem offene, nicht institutionell gebundene Angebote vorsah, aber nicht die Schaffung neuer Stellen. Vielmehr sollte diese Arbeit von den bis dahin in der sozialtherapeutischen Gruppenarbeit Arbeitenden geleistet werden. Obwohl sich eine große Anzahl von Kolleginnen und Kollegen in der sozialtherapeutischen Gruppenarbeit von dem "Therapeutischen" schon längst entfernt hatten und ähnliche Arbeitsformen entwickelt hatten, wie es die Mobile Kinder- und Jugendarbeit vorsah, gab es einen heftigen und erfolgreichen Proteststurm gegen das Vorhaben Mobiler Kinder- und Jugendarbeit, da hier unmittelbar Arbeitsplatzinteressen tangiert waren, obwohl politisch die Mehrheit der sozialtherapeutischen Gruppenarbeiterlnnen der progressiven Administrationssspitze eher nahesteht. Es bildet sich ein breites Bündnis zur Verteidigung des Status quo, der bis hinein in das konservative Lager reichte: sowohl die sozialdemokratisch gewerkschaftlichen Teile der Sozialadministration (die vorher nicht sonderlich viel von der sozialtherapeutischen Gruppenarbeit hielten) als auch die christlich-konservativen Strömungen unterstützten den Erhalt der sozialtherapeutischen Gruppenarbeit. Die progressive Spitze blieb alleine und konnte nur durch die Schaffung von zusätzlichen Straßensozialarbeiterstellen ihr Konzept im Ansatz umsetzen.

Die Hamburger Heimreform

In und in der Folge der Heimrevolte im Kontext der Studentenbewegung Ende der 60er/Anfang der 70er kam die Kritik bundesrepublikanischer Heimerziehung facettenreich - marxistisch und soziologisch ("Kritik der totalen Institution") fundiert - gleichsam auf ihren neueren Begriff. 1977 wurde diese Kritikperspektive offiziös: die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und die Obersten Landesjugendbehörden veröffentlichten einen Kommissionsbericht als "Zwischenbericht Kommission Heimerziehung", der Teile der Kritikperspektive aufnahm und Reformvorstellungen artikulierte.

Wenngleich sich in Hamburg in den 70er Jahren praktisch an der Situation der Heimerziehung nichts änderte, ist die aufgeworfene Thematik insofern von Bedeutung, als sie es einer Minderheitenposition der "Basis" erlaubte, sich kritisch zu artikulieren, indem sie den Blick (weitgehend) von den "gestörten Jugendlichen" auf die "gestörte Institution" und deren Reproduktionsmuster richtet.

Öffentlich werden und auch vorherrschend kann diese Minderheitenposition jedoch erst, als Ende der 70er Jahre eher "linke" Sozialdemokraten (die ihrerseits wiederum eine Minderheitenposition innerhalb der regierenden Sozialdemokraten darstellten) politische Verantwortung übernahmen und gleichorientierte oder linke Sozialwissenschaftler (die in einer Art demographischen Marsch in die Institution gelangt waren) in oberen Hierarchiestufen der Jugendbehörde eingestellt wurden.

Sowohl in öffentlichen wie administrativ-internen Kampagnen gelang es, wichtige andere Gruppierungen - eher liberale oder christlich konservative - entweder für den Innovationsprozeß zu gewinnen oder so weitgehend zu "neutralisieren", daß die als "Routinenklauer" auftretenden Neuerer sich durchsetzen konnten. (Im Ergebnis hat der seit 1980 andauernde Reformprozess dazu geführt, daß Hamburg - neben Hessen - keine gesicherte Unterbringung von Kindern/Jugendlichen in der Heimerziehung praktiziert, die Heimerziehung insgesamt über einen Platzabbau erhebliche materielle Verbesserungen erfahren hat und derzeit die Heime als Institution abgebaut werden zugunsten von Jugendwohnungen, Kinderhäusern und ähnlichen lebensweltorientierteren Angeboten - auf relativ hohem materiellem Niveau).

Die Funktionsweise des ideologischen Diskurses

Die Beschreibung dieser Beispiele verbleibt auf einer technokratischen Macht- und Durchsetzungsebene, werden die Prozesse, in denen diese Gruppierungen sich auseinandersetzen, nicht als Diskurse eines tätigen Theorie-Praxis-Verhältnisses begriffen, die die Verhältnisse im Arbeitsfeld modifizieren und Kräfte neu gruppieren (neue partielle Koalitionen herstellen), das Feld insgesamt aber nicht in Frage stellen. Voraussetzung der "Übersetzung" gesellschaftspolitischer Grundorientierungen in das Feld der Jugendhilfe ist die Umwandlung dieser Orientierungen in pädagogisierende Deutungsmuster, deren Kennzeichen eine jeweils unterschiedliche Subjekt-Objekt-Definition ist. Diese Deutungsmuster sind zugleich als Strategien ausbeutbarer bzw. besetzbarer Interpretationen zu verstehen, die Identität und Motivation von Professionellen zugleich garantieren. Diese unterschiedlichen Deutungsmuster lassen sich als Festigung eines jeweils spezifischen Habitus kennzeichnen, dessen unterschiedliche Zusammensetzung Ausdruck von Veränderungen bestimmter Klassenströmungen sind. Vor diesem Hintergrund lassen sich die verschiedenen Wenden in der Pädagogik beschreiben, die in der Praxis - mit entsprechender zeitlicher Verzögerung - handlungsgenerierende Funktionen übernehmen.

Die Transformation dieser allgemein-politischen Orientierungen in fachpolitische Diskurse erfolgt im wesentlichen nicht direkt, sondern sehr vermittelt, denn nur so können diese Diskurse entweder zur Stabilisierung oder zur Neuformulierung von vorherrschenden Verhaltens- und Interpretationsmustern führen. Diese Diskurse dienen bereichsspezifisch zur Produktion von Hegemonie, indem sie nicht direkt Macht und Herrschaft, sondern "Moral" oder auch Strategien der moralischen Paniken ("Drogenproblem") inszenieren, die dann wiederum professionsinteressiert ihren Niederschlag finden können. Auch würde eine direkte Übersetzung des Politischen in das Fachpolitische interagierende Gruppen weitgehend lahmen, während so ein zwar nicht ständiger, aber doch in den Zeitläufen häufiger "Koalitionswechsel" unabhängig von den dominierenden Grundoptionen möglich ist. Die in diesem Zusammenhang häufig zu hörende Aufforderung, doch fachlich und nicht politisch zu argumentieren, thematisiert diesen verkehrten Zusammenhang auf der strategischen Ebene genau richtig - nämlich die Rethematisierung von Politik auf "Fachlichkeit".

Selbstredend ist es nicht gleichgültig, auf welche pädagogischen Deutungsmuster resp. dahinterliegenden Theorien zurückgegriffen wird, da diese das infragestehende Feld auch materiell folgenreich zu modifizieren in der Lage sind: sie strukturieren es gleichsam neu, verschieben die Positionen handelnder Akteure und Gruppen und greifen aktiv in die Gestaltung - hier jugendlicher und professioneller sowie institutioneller - vorhandener Reproduktionsverhältnisse ein. Durch Rückgriff auf (Neo-)Marxismen, Labeling-Approach und Abolitionismus, den früheren und späteren Argumentationslinien, die z.B. für die Hamburger Heimreform relevant wurden (vgl. dazu auch Peters 1988 a, 1988 b), konnte die Zumutung einer reinen Kontroll- und Ordnungsfunktion der Heimerziehung zurückgewiesen werden. Auf Abweichungsphänomene Jugendlicher wurden erfolgreich interaktionstheoretische Erklärungsleistungen herangezogen, die aufzuzeigen in der Lage sind, daß die Ursachen von psychischen und sozialen Problemen in die Mitte der Gesellschaft hineinreichen und so vorher ausgegrenzte Phänomene auf die Dimensionen von Normalität und Selbstverständlichem bezogen werden (vgl. hierzu auch: Böhnisch 1984, 111).

Vom Abolitionismus schließlich ist zumindest die politische Strategie der Negation zu erwähnen und daß nur der konkurrierende, angedeutete Widerspruch eine Alternative zum Bestehenden eröffnen kann, während schon eine konkurrierende Übereinstimmung (konkurrierend in den Methoden, übereinstimmend im Ziel) lediglich verspricht, dasselbe effektiver, besser, moderner zu erreichen (vgl. Mathiesen 1977, 1985).

Bezogen auf jugendliche Adressaten von Heimerziehung eröffnet sich - durchaus in konflikthaften Prozessen von konterkarrierenden Interessen und widersprüchlichem Gebrauch der leitenden Hintergrundmaßnahmen sich konstituierend - ein neuer "Möglichkeitsraum": eine Reihe von Freiheits- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten und gegenüber chancenreduzierender eingrenzender Pädagogik vermehrte Optionen alltagsnaher Lebensbewältigung.

Neue pädagogische Deutungsmuster müssen jedoch auch, so haben wir behauptet neue "Identifikationspunkte" für Professionelle bieten, um einen alternativen hegemoniefähigen Diskurs zu stabilisieren. In diesem Fall bieten u.E. die angeführten Diskurselemente dies, denn sie eröffnen auch für Mitarbeiterinnen, die zunehmend in kleinen pädagogischen Arrangements selbstverantwortlich tätig werden, neue Handlungsmöglichkeiten, die tendenziell zu weniger Randständigkeit, mehr Eigenverantwortung, höherer Professionalität (incl. besserer Bezahlung) und einem Mehr an Progressivität (verbessertes Selbstbild!) führen.

Allgemeiner formuliert behaupten wir, dass auf die vorstehend skizzierte Art und Weise durchaus weitreichende Modifikationen in den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen - natürlich auch materiell folgenreich - möglich sind: allerdings auch nur innerhalb bestimmter Politikfelder, nicht aber für die Transformation bestehender Verhältnisse.

Hier lassen sich - im Gegenteil - die genannten Beispiele auch interpretieren als geschmeidige Anpassung an Veränderungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen (z.B. Jugendarbeitslosigkeit, Trend zur weitgehenden Individualisierung à la Beck'sche Risikogesellschaft).

Allerdings ist es auch nicht beliebig, welche Fraktion im Sinne der Parteienrepräsentation den Ton angibt. Sicherung aber auch Neukondensierung der Hegemonie bedeutet immer zugleich auch Modifikation und damit die Möglichkeit, zu weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen beizutragen.

"Daraus sind zwei Folgerungen zu ziehen, die sich mit den Erfahrungen decken, die wir, die Linke, seit 1968 gesammelt haben: 1. Was vermieden werden muß, ist die Mystifizierung einer neuen Variante der Klassenverbindung, die keine praktische Wahrheit und kein Fundament in der politischen Praxis hat. 2. Der Intellektuelle besitzt keine politische Superkompetenz. - wir können nicht für die unterdrückte Klasse oder im Namen der unterdrückten Klasse kämpfen. (Das war und ist die Selbsttäuschung des "klassischen Intellektuellen"). Wir müssen gemeinsam mit den Unterdrückten kämpfen. Aber das setzt voraus und schließt ein, daß wir eigene Gründe haben, uns an sozialen Auseinandersetzungen zu beteiligen; daß wir uns die Motivation des Handelns nicht ausborgen. Der gemeinsame Prospekt ist die Abschaffung des Elends." (Franco Bassaglia und Franca Bassaglia-Ongaro, Befriedungsverbrechen, in: Bassaglia, Foucault, Castel u.a., Befriedungsverbrechen. Über die Dienstbarkeit der Intellektuellen, S. 46 - Hervorhebung im Original).

Nur wenn es gelänge, dieses Projekt als solches in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zu thematisieren - wie zuletzt teilweise gelungen in der 68er Studentenbewegung, die die Situation aller "Beleidigten und Unterdrückten" in einem Diskurs kapitalistisch vermittelter Ausbeutung und Herrschaftsausübung zu artikulieren vermochte, - könnten die Klassenauseinandersetzungen, die bislang hegemonial "verschoben" in einzelnen Feldern und dort disziplinär-wissenschaftlich der Bearbeitung freigegeben sind, als solche erkannt und artikuliert werden. Bislang jedoch bleibt es beim "Klassenkampf in der Theorie" und bei Auseinandersetzungen in Bereichen ideologischer Praxen, die eine materielle Realität ja nicht nur "haben", sondern konstituieren und jeweilige (isolierte) Politikfelder incl. der dort vorfindbaren Interessengruppen und Klassenströmungen innerhalb des Feldes neu strukturieren, aber gesellschaftliche Verhältnisse nicht transformieren.

Die Professionellen in der Jugendhilfe können (und müssen - sofern sie an einer Transformation interessiert sind) als soziale Gruppe die eigenen Interessen vertreten und als soziale Gruppe an Transformationen teilhaben - innerhalb des Feldes der Jugendhilfe können sie stützen, absichern, materiell den Boden für andere Lebensentwürfe der Betroffenen bereiten, diese aber selbst nicht herstellen.

Insofern bleibt es bei der Feststellung des strukturellen Konservatismus der Sozialarbeit wie der Pädagogik allgemein und ihrer Institutionen (einschließlich der Hochschulen).

Literatur

BACHRACH, P./BARATZ, M.S., 1977: Macht und Armut, Ffm.

BASSAGLIA, F./BASSAGLIA-ONGARO, F., 1980: Befriedungsverbrechen, S. 11-62, in: BASSAGLIA/FOUCAULT/CASTEL u.a. (Hg), 1980: Befriedungsverbrechen. Über die Dienstbarkeit der Intellektuellen, Ffm.

BECKER, H./MAY, M., 1986: Unterschiedliche soziale Milieus von Jugendlichen in ihrer Konstitution von Sozialräumen, S. 153-184, in: LINDNER u.a. (Hg): Verborgen im Licht. Neues zur Jugend frage, Ffm.

BÖHNISCH, L., 1984: Normalität - Ein Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen Situation der Sozialarbeit, S. 108-113 in: Neue Praxis, 14. Jg., Heft 2/84 GRAMSCI, A., 1967: Philosophie der Praxis, Ffm.

HAMBURGER JUGENDBERICHT 1973, hrsg. von der Hamburger Jugendbehörde HESS, H./STEINERT, H. (Hg), 1986: Kritische Kriminologie heute. Beiheft l des Kriminologischen Journals, Weinheim

MATHIESEN, TH., 1977: Überwindet die Mauern, Darmstadt/Neuwied DERS., 1985: Die lautlose Disziplinierung, Bielefeld

OFFE, C., 1973: Berufsbildungsreform. Eine Fallstudie über Reformpolitik, Ffm. PETERS, F., 1988 a: Was passiert, wenn auf gesicherte Unterbringung in der Heimerziehung verzichtet wird?, S. 132-166, in: Ders. (Hg): Jenseits von Familie und Anstalt. Entwicklungsperspektiven in der Heimerziehung, Bielefeld

DERS., 1988 b: Die Qualifizierung von Mitarbeiterinnen als Bestandteil der Reform der Heimerziehung, s. 233-250, a.a.O.

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